Historie:Höllische Wolke

Am 22. April 1915 setzten die Deutschen bei Ypern zum ersten Mal Giftgas ein. Es wurde zur schrecklichsten neuen Waffe des Ersten Weltkriegs, zum Symbol einer aus den Fugen geratenen Welt.

Von Hubert Wetzel

"Gas! GAS! Quick, boys!"

Wilfred Owen, "Dulce et Decorum Est"

Am Nachmittag kam Wind auf, eine Brise aus Nordost, die weich über die Schützengräben vor Ypern strich. Für die französischen Soldaten, welche die flandrische Stadt seit einem halben Jahr gegen die Deutschen verteidigten, war dieser 22. April 1915 ein guter Tag gewesen - ruhig, warm und sonnig, eine Wohltat nach einem kalten, nassen Winter voller Schlamm und Blut. Die Brise brachte den Frühling. Und dann brachte sie den Tod.

Um 18.00 Uhr öffneten deutsche Pioniere die Verschlüsse von mehr als 5700 Stahlflaschen. Zischend strömten 150 Tonnen Chlorgas aus und bildeten vor den deutschen Gräben eine sechs Kilometer breite und 600 bis 900 Meter tiefe Wolke, die vom Wind mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde auf die französischen Stellungen zugetrieben wurde. Der Gaskrieg hatte begonnen.

Zwar hatten Franzosen und Deutsche zuvor bei Angriffen bereits einige Male Reizgas verschossen, jedoch praktisch ohne Wirkung. Am 22. April 1915 hingegen - und bei weiteren Angriffen auf kanadische und britische Truppen vor Ypern in den Tagen danach - kam erstmals im Ersten Weltkrieg ein Gas zum Einsatz, das für Menschen tödlich ist: Chlor.

Chlor ist ein sogenannter Lungenkampfstoff. Die Chemikalie reagiert nach dem Einatmen in der Lunge zu Salzsäure, diese zerfrisst das feine Gewebe, die Lunge füllt sich mit Flüssigkeit. Die Opfer würgen, husten, sie erleiden Erstickungsanfälle, laufen blau an und sterben, wenn sie zu viel Gas einatmen, an einem Lungenödem. Schon ein Chloranteil von 0,1 Prozent in der Luft ist lebensgefährlich, ein Anteil von mehr als 0,5 Prozent wirkt bei Menschen schnell und sicher tödlich.

All das war im Frühjahr 1915 bekannt. Der Gasangriff bei Ypern war unter der Leitung des Chemieprofessors und späteren Nobelpreisträgers Fritz Haber geplant und durchgeführt worden. Der deutsche Generalstab wusste durchaus, was er tat. Ziel war, das Gas eine Bresche in die gegnerische Front reißen zu lassen, durch welche die Deutschen vorstoßen konnten. Die Deutschen wollen herausfinden, ob Gas das leisten konnte, was Trommelfeuer und Sturmangriffe nicht schafften - die Front aufzubrechen, damit aus dem elenden Graben- wieder ein Bewegungskrieg wurde.

"Die Schützen fangen an, die Gräben zu verlassen, viele fallen erstickt nieder."

Die Gaswolke, die am 22. April auf die Franzosen zutrieb, hatte eine mittlere Chlordichte von 0,5 Prozent - genug, um zu töten. Augenzeugen haben diese Wolke beschrieben: als grünlich-gelb, grünlich-weiß, giftig-grün, als "höllischen Schwefeldampf". Bei den überraschten Franzosen, unter ihnen viele algerische Kolonialsoldaten, löste sie Panik aus. Der französische General Henri Mordacq schilderte später, wie ihn keuchende Frontoffiziere anriefen: "Jetzt breiten sich ungeheure gelbliche Rauchwolken, die von den deutschen Gräben herkommen, über meine ganze Front aus", meldete ein Major. "Die Schützen fangen an, die Gräben zu verlassen und zurückzugehen, viele fallen erstickt nieder." Mordacq ritt an die Front: "Überall Flüchtende: Landwehrleute, Afrikaner, Schützen, Zuaven, Artilleristen ohne Waffe, verstört, mit ausgezogenen oder weit geöffneten Röcken, abgenommener Halsbinde liefen wie Wahnsinnige ins Ungewisse, verlangten laut schreiend nach Wasser, spuckten Blut, einige wälzten sich sogar am Boden und versuchten vergeblich, Luft zu schöpfen."

Hinter der Gaswolke gingen die deutschen Infanteristen fast unbehelligt vor. Zum Schutz hatten sie mit Chemikalien getränkte Mullbinden vor die Gesichter gebunden. "Drüben saßen oder lagen Franzosen, Zuaven, Indochinesen, hustend und speiend, keiner dachte mehr an Gegenwehr", schrieb später ein deutscher Offizier. Binnen weniger Stunden rückten die Deutschen etliche Kilometer vor.

Es dauerte nicht lange, bis Gas von allen Kriegsparteien eingesetzt wurde. Die Briten empörten sich laut über den deutschen Gasangriff - nur fünf Monate später, am 25. September 1915, öffneten britische Pioniere vor der nordfranzösischen Stadt Loos ebenfalls Chlorgasflaschen und ließen eine tödliche Wolke auf die deutschen Gräben zutreiben. Dabei zeigte sich jedoch, wie gefährlich das Verfahren war, Gas mit dem Wind zum Gegner hin "abzublasen": Der britische Dichter Robert Graves war damals Hauptmann bei der Infanterie und wartete in einem Graben, als die Attacke begann. Plötzlich, so schrieb er in seinen Erinnerungen, strömten Verletzte von der Front zurück. "Unter den Verwundeten waren etliche Männer mit gelben Gesichtern und würgend - Gasopfer." Der Wind hatte gedreht und das Gas in die eigenen Gräben gedrückt.

"Unter den Verwundeten waren Männer mit gelben Gesichtern und würgend - Gasopfer."

Im Frühjahr 1916 verwendeten die Franzosen bei Verdun erstmals in großer Menge Gasgranaten. Das Verschießen von Gas durch die Artillerie wurde danach für alle Kriegsparteien zum Standard. Die Armeen verfügten bald über zig verschiedene Gasgeschosse aller Kaliber - von kleinen Granaten, die einen halben Liter Kampfstoff enthielten, bis hin zu schweren Minen, die 15 oder 20 Liter der tödlichen Chemikalien in die feindlichen Gräben trugen. Gas wurde zur alltäglichen Waffe. Im letzten Kriegsjahr betrug der Anteil der Gasgranaten an der verschossenen Munition oft ein Drittel.

Mit Chlor begnügten sich die Armeen nicht mehr. Franzosen und Briten setzten rasch das sehr viel giftigere Phosgen und Chlorpikrin als Kampfstoffe ein, die Deutschen verwendeten Diphosgen. Diese Chemikalien waren ebenfalls Lungenkampfstoffe. Weil die mit Diphosgen gefüllten Granaten mit einem grünen Kreuz markiert waren, wurde der Stoff "Grünkreuz" genannt. Hinzu kamen Stoffe, die bei Soldaten Brechreiz und Husten auslösen und sie zum Abnehmen ihrer Gasmasken zwingen sollten. Dieses Gift wurde als "Maskenbrecher" oder "Blaukreuz" bezeichnet. Oft wurde es zusammen mit Grünkreuz verschossen, die Artillerie nannte das "Buntschießen".

Chemische Waffen nach 1918

Nach dem Ersten Weltkrieg arbeiteten viele Armeen an der Entwicklung neuer, noch tödlicherer chemischer Kampfstoffe. Zu den bekannten Lungen- und Hautgiften wie Phosgen und Senfgas kamen auf diese Weise enorm wirksame Nervengifte wie Tabun, Sarin und VX hinzu sowie Blut- und Psychokampfstoffe. Zwischen den Weltkriegen war Giftgas vor allem eine Waffe in Kolonialkriegen, etwa der Italiener in Äthiopien. Im Zweiten Weltkrieg verwendete nur die japanische Armee in China Giftgas; in Europa war Gas ein Mordwerkzeug in den Vernichtungslagern der Nazis, nicht aber an den Fronten.

In Vietnam besprühten die Amerikaner den Dschungel mit dem Entlaubungsmittel Agent Orange, einem chemischen Kampfstoff. Der größte bekannte Einsatz von chemischen Kampfstoffen in der jüngeren Geschichte fand im iranisch-irakischen Krieg Anfang der Achtzigerjahre statt - obwohl C-Waffen damals längst umfassend völkerrechtlich geächtet waren. Bis zu 20 000 iranische Soldaten sollen damals durch Saddam Husseins Giftgas getötet worden sein. 1988 ließ Hussein auch kurdische Dörfer mit Giftgas bombardieren. Belegt ist auch der Einsatz von Sarin und Chlorgas durch Truppen des syrischen Diktators Baschar al-Assad in den vergangenen Jahren. Hubert Wetzel

Mitte 1917 wurde von den Deutschen erstmals der Kampfstoff Lost eingesetzt - ein Teufelszeug, auch Senfgas oder "Gelbkreuz" genannt. Lost war kein echtes Gas, sondern eine ölige Flüssigkeit, die durch Granaten verbreitet wurde. Die Tröpfchen zerstörten beim Einatmen die Lunge, vor allem aber war Senfgas ein sogenannter Hautkampfstoff. Wenn es auf die Haut gelangte, verursachte es großflächige Verätzungen und Verbrennungen, schmerzhafte Blasen, die nur langsam heilten. Bei Soldaten, die Senfgas ins Gesicht bekamen, entzündeten sich die Augen und schwollen zu; blind, eine Hand auf die Schulter des Vordermanns gelegt, stolperten sie zu den Verbandsplätzen.

Senfgas war eine Geißel, es drang durch Stiefel und Uniformen und klebte an der Erde. Senfgas sammelte sich in Pfützen, es gefror im Winter und taute im Frühjahr wieder auf, immer noch ätzend und giftig. Vor allem die Deutschen verschossen Gelbkreuz in großer Menge. Sie tränkten das Gelände damit, sodass die Gegner es nicht betreten konnten. So ließen sich trotz des Mangels an Soldaten Angriffe flankieren und Rückzüge decken.

Es gab während des Ersten Weltkriegs kaum eine Waffe, die mit solchem Schrecken verbunden war, wie Gas. Auch andere Waffen töteten und verstümmelten - Granaten, Maschinengewehre. Doch Gas war anders. Es erstickte, erwürgte, erdrosselte. Es kam leise und waberte über dem Gelände, als lauere es auf Beute. Da das Gas schwerer als Luft war, sank es in die Gräben, Unterstände und Granattrichter - dorthin, wo die Soldaten Schutz von dem Stahlhagel suchten. Der britische Soldat und Poet Wilfred Owen hat in seinem Gedicht "Dulce et Decorum Est" das Grauen eines Gasangriffs geschildert: das weiche Platzen der Granaten, der panische Griff nach der Gasmaske, der grüne Nebel - der bittere Schaum, der die Lungen der Opfer füllt. "Seit 1916 war ich von der Angst vor Gas besessen", schrieb auch Robert Graves. "Jeder ungewöhnliche Geruch, sogar der plötzliche starke Duft von Blumen in einem Garten, ließ mich zittern."

Allerdings stand der Terror, den Gas verbreitete, in einem erstaunlichen Widerspruch zur Zahl der Todesopfer, die es tatsächlich forderte. Gas war eine komplizierte Waffe. Es war schwierig, einen Geländeabschnitt mit Gasgranaten so einzudecken, dass dort eine tödliche Gaskonzentration entstand. Die meisten Armeen entwickelten recht gut schützende Gasmasken. Zwar sind die überlieferten Zahlen zu den Verlusten durch Gas unzuverlässig. (Die Angaben zu den Todesopfern des Angriffs bei Ypern zum Beispiel liegen zwischen einigen Dutzend und 5000; realistisch erscheint eine Zahl von etwa 1500 Toten.) Doch Historiker schätzen, dass im Ersten Weltkrieg höchstens 90 000 Soldaten durch Gas getötet wurden - ein Bruchteil der gut zehn Millionen Gefallenen. Mehr als die Hälfte davon waren wohl russische Soldaten, die keine Gasmasken hatten.

Manche Forscher nehmen sogar an, dass an der Westfront während des ganzen Kriegs nur etwa 18 000 Soldaten durch Gas starben - Briten, Franzosen, Deutsche, Amerikaner. Das wären in vier Jahren weniger Gastote, als alleine die Briten am ersten Tag der Somme-Schlacht von 1916 an Gefallenen zu beklagen hatten.

"Seit 1916 war ich von der Angst vor Gas besessen. Jeder ungewöhnliche Geruch ließ mich zittern."

Auch waren die Überlebenschancen von Gasverletzten weit höher als die von Männern, die Schüsse oder Splitter abbekommen hatten. Die Augen der durch Senfgas Erblindeten heilten zumeist wieder. Selbst wenn man die Opferzahlen vervielfacht, bleibt das Fazit: Das im Ersten Weltkrieg verwendete Gas verursachte bei Hunderttausenden qualvolle Verwundungen, aber es war doch eine verhältnismäßig selten tödliche Waffe - zumindest im Vergleich zu all dem anderen mörderischen Gerät, das damals im Einsatz war. Oft wurde Gas nur verschossen, um die feindlichen Soldaten zu zermürben, indem man sie zwang, stundenlang ihre Gasmasken zu tragen.

Vielleicht auch deshalb war Gas eine militärisch wenig effektive Waffe. Über Sieg oder Niederlage entschied es in keiner größeren Schlacht. Den Frontbogen bei Ypern eroberten die Deutschen bis Kriegsende nicht, trotz der Geländegewinne am 22. April 1915. Der folgenreichste Gasangriff des gesamten Krieges fand vermutlich an der Südfront statt: Am 24. Oktober 1917 beschossen deutsche Pioniere die italienischen Stellungen nahe des Ortes Flitsch am Isonzo mit Gas. Der Überfall ermöglichte den österreichischen Truppen einen Vorstoß, der zum Durchbruch bei Caporetto führte und damit zum vorübergehenden Kollaps des italienischen Heeres. Doch kriegsentscheidend war auch dieser Sieg nicht. Strategisch gesehen, war der Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg ein Fehlschlag. Die neue Waffe war grausam, aber nutzlos.

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