Historie:Hinter Butzenscheiben

Verlassene Schlagerbuden, Zigeunerschnitzel, Bustouristen - und erste Anzeichen der späten Wiederentdeckung einer Landschaft: Unterwegs auf dem Rheinsteig. Folge 12 der "Deutschlandreise".

Von Sebastian Schoepp

Vielleicht muss man ja schon überall gewesen sein, um das hier schön zu finden. Aber wem mal auf 4500 Metern Höhe in den Anden die Luft ausgegangen ist oder wer in den Weiten Patagoniens die vom Wind an die Dornbüsche gehefteten Plastiktüten gezählt hat - der kann schon empfänglich werden für die Süße des Rheinlands. Anstatt sich wie eine Hammelherde durch die Kontrollen an den Flughäfen treiben zu lassen, kann man auch einfach einen Zug besteigen und nach Wiesbaden oder Bonn zuckeln (Da waren anders als in Bangkok nämlich die wenigsten von uns), im Gepäck die Wanderschuhe sowie Gottfried Steins "Reise durch den deutschen Weingarten", erstmals erschienen 1957. Wir haben die vierte Auflage dabei, ein kultiviertes Büchlein ohne Ausklappkarten und öde Geheimtipps, dafür bibliophil gestaltet mit farbigen Landschafts-Abbildungen und historischen Weinkarten. Es ist zu haben im Internet schon für ein paar Cent, deutlich günstiger als der Lonely Planet "Romantic Rhine Valley".

Dass es letzteren Reiseführer aus dem Backpacker-Imperium überhaupt gibt, überrascht. Denn eigentlich eilt dem rheinischen Schiefergebirge ein Ruf wie Donnerhall voraus als möglicherweise uncoolste Destination unter der Sonne. Und das völlig zu Recht: Butzenscheiben, Kaffeekannensammlungen, moosgrüne Fliesen - das Mittelrheintal bleibt Deutschlands größtes Oma-Café. Doch sind nicht längst vom Münchner Glockenbachviertel bis nach Prenzlauer Berg ehemalige Oma-Cafés die angesagtesten Hipster-Destinationen? Muss nicht, wer ein Trendscout sein will, die künftige Trendlocation im Original gekannt haben, bevor sie eine solche wird?

Wir also rufen das Rheinland hiermit aus zum Retro-Paradies, bevor es ein anderer tut; wir wollen der Hape Kerkeling des Rheinsteigs werden, dieses Wanderwegs, der Bonn mit Wiesbaden verknüpft, auf 320 Kilometern Länge, weil er jedes Kerbtal mitnimmt. Dadurch ist dieser Traumpfad anstrengender als der Jakobsweg - und vor allem einsamer. Abgesehen von den Hotspots am Drachenfels und der Loreley ist der Fernwanderer meistens allein. Wir müssen dabei an eine Freundin denken, die jahrelang für das spanische Fremdenverkehrsbüro in Deutschland arbeitete und oft Anrufe mit der Frage bekam, an welchem Urlaubsort man denn die wenigsten Deutschen antreffe. "Fahren Sie in deutsche Mittelgebirge", sagte sie dann. "Dort treffen Sie überhaupt niemanden, weder Deutsche noch sonst jemanden."

Der Mittelrhein hat einen Ruf zu verlieren: den als uncoolste Destination unter der Sonne

Dass die deutschen Weinberge seit Langem außer Mode sind, hat ihnen eine Weltabgewandtheit beschert, die in Zeiten totaler digitaler Vernetzung eine tiefsitzende Sehnsucht befriedigt. Eine Reise an den Rhein ist eine Reise in die wärmenden Gefilde der Nostalgie, in die bundesdeutsche Vergangenheit, in der ein schuldig gewordenes Land hinter Butzenscheiben seine Kriegserinnerungen in halbtrockenem Riesling ertränkte. Noch heute fühlt man sich zwischen den kuschligen Hängen des Rheinischen Schiefergebirges so geborgen wie in Ludwig Erhards sozialer Marktwirtschaft. Beim Blick auf die Marksburg, die reiche Japaner abtragen und naturgetreu daheim wieder aufbauen wollten, möchte man Heinz Erhardts "Rucksack voller Träume" aus dem Film "Der letzte Fußgänger" pfeifen, der Sound eines Systems, dessen Leitkultur der Eskapismus war.

Gottfried Steins Büchlein ist geschrieben in dieser Zeit, die mindestens so viel Weltflucht nötig hatte, wie die heutige sie zu brauchen glaubt, nur damals eben nicht im Wellnesshotel, sondern in der Weinstube: Der Zweite Weltkrieg war gerade vorbei, so manche Stadt lag noch in Trümmern oder war betongrau aufgebaut worden. Aber das Gebirge rundherum, die Weinstöcke darauf, das war intakt. "Der Weinbau ist ein Werk des Friedens. Er braucht und entwickelt die guten Menschenkräfte", zitiert Stein den Goethe aus Frankfurt, zu dessen Zeit ja auch eine Rebengegend, weshalb der Dichter wusste: Orten und Gegenden, wo Wein wächst, sei ein freier Charakter zu eigen, es seien "hochgesegnete Gebreite".

Unser Weg durch diese Gebreite beginnt in Bonn, am Marktplatz. Und da treffen wir am Wurststand einen, der den Weg besonders nötig hätte. Einen Referenten im Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, das zu Bonner Zeiten Entwicklungshilfeministerium hieß. Es ist auch weiterhin am Rhein angesiedelt, was dieser Mitarbeiter als besonderen Fluch betrachtet. Der Mann steht mit einem Fuß im Burn-out. Er möchte raus aus der Mühle, jammert er, ein kleines Restaurant aufmachen, was man denn halte von der Idee? Aber eigentlich will er es gar nicht hören, denn es ist klar, dass er das sowieso nicht macht.

logo_deutschlandreise

Man möchte ihn in den Arm nehmen und sagen: Mann, Alter, schnür die Stiefel und geh mit uns, danach bist du wie neu und fühlst dich wie ein kommender Wirt. Aber auch das wird er nicht tun, der morgige Tag ist ja schon wieder voller Termine. Wir laufen also alleine los, durch die Rheinaue den Petersberg hinauf, über den Drachenfels geradewegs hinab in Adenauers Rosengarten. Wir schlurfen über die knarzenden Dielenbretter in seinem Haus, inhalieren den Fünfzigerjahre-Geruch von Bohnerwachs, versenken uns in den Rundumblick auf die Rheinlandschaft, die der Inbegriff der Lieblichkeit war, bevor die Deutschen die Toskana entdeckten. Gegenüber, auf der linken Rheinseite, das modernistische Arp-Museum und der Rolandsbogen, wo der Held einst sehnsüchtig auf das Kloster auf der Insel unter ihm starrte, in das seine Verlobte sich für immer zurückgezogen hatte, weil sie ihren Recken tot auf dem Felde wähnte. Ein Lehrstück, dass man vielleicht besser zu Hause bleibt?

Ein paar Schritte weiter, direkt am Rhein, liegt die Ausbildungsstätte der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in einer alten Villa mit verträumtem, baumbestandenem Garten. Bad Honnef war einst bekannt beim europäischen Adel als das "Nizza des Rheinlands". Bei der GIZ werden die Menschen fit für den Auslandseinsatz im Dienste der deutschen Entwicklungshilfe gemacht. Es gilt, was Gottfried Stein über das Rheintal schreibt: "Hier weht freie Luft. Ferne zieht mit dem Strom herein."

Spätestens in Willy Brandts originalgetreuem Arbeitszimmer in Unkel durchschauert einen der Verfassungspatriotismus. Man denkt ehrfürchtig an Sozialpartnerschaft und Montanunion, an rheinischen Kapitalismus, also an ein Unternehmertum, das noch gepaart war mit Sozialverantwortung. Man begegnet den steinernen Zeugen dieses Modells häufig auf dem weiteren Pfad in Form von Bergwerksruinen, Werften, Schleusen, Hafenanlagen, Brücken und bröckeligen Villen sowie der Eisenbahn, die ihr Rumpeln wie durch einen Schalltrichter auf die Höhen schickt.

Der Reiz am Rhein ist, dass er eben keine vollständige Idylle ist, es ist dieses "Nebeneinander von Ehrwürdig-Historischem und der neuen Zeit", wie es bei Gottfried Stein heißt. Es ist das Hässliche, welches das Schöne erst erlebbar macht. So wie das stillgelegte Atomkraftwerk im Neuwieder Becken, das so lange zwischen den blühenden Kirschzweigen herübergrüßt, bis man die Betonruine dieser Ritterburg der Energiewirtschaft richtig lieb gewonnen hat. Die Nostalgie wird weiter erwärmt von der rheinischen Sonne, die der Fluss reflektiert, was der Gegend zwischen Bonn und Wiesbaden an bis zu fünfzig Tagen im Jahr Temperaturen von mehr als 25 Grad beschert, es ist einer der wärmsten Landstriche Deutschlands. Ein burgundisches Klima, laut Stein gehört es zu den "Wohltaten des Rheins", dass er den "Sonnenschein vermehrt", in dem er "als überdimensionaler Spiegel die Strahlen" zurückwirft.

Windgeschützt zwischen den Felsen wuchern duftender, weiß blühender Weiß- und Schlehdorn, Berberitze, Walderdbeeren. Über Schieferschutthalden mit lichtem, mediterran anmutendem Niederwald und südländisch duftenden Kräutern geht es über endlose Serpentinen hinauf und hinab, gerne mal tausend Höhenmeter auf 15 Kilometer Entfernung, wegen der vielen Seitentäler, die Flussläufe aus dem Westerwald oder dem Hunsrück hereinbringen. "Wer für eine Alpentour fit werden will, ist auf dem Rheinsteig gut aufgehoben", heißt es auf einer Wanderwebseite. Auf den Hängen wachsen krüppelige Hangeichenwälder, auf den Höhen thronen kathedralenartige Buchenhaine. Nur Gipfel gibt es keine, an denen man an den Wochenenden Schlange stehen müsste wie auf den überlaufenen Münchner Hausbergen.

"Rebenland, violettbraun im Winter, golden im Herbst, unendlich grün im Sommer."

Vor allem aber ist das hier "Rebenland, erdig- und violettbraun im Winter, golden im Herbst, unendlich grün im Sommer", wie Gottfried Stein jubiliert. Hier wächst vor allem Riesling, "dem heimischen Boden so herzhaft assimiliert, daß er Unvergleichliches bringen kann, in anderer Länder wärmeres Klima verpflanzt aber alsbald sein Niveau verliert". Ein Wein für Wind und Wetter, der etwas erlebt haben muss, um Charakter zu haben - ein Wein wie der Mensch. Manchmal ist es sogar erst Krankheit, die ihn adelt, Botrytis cinerea, ein "Schimmeldeckchen, das die Trauben überzieht", und die "edelsten Bestandteile ihres Saftes zur Geltung bringt", doziert Gottfried Stein und konstatiert "Verderben und Vollendung". Mittelrhein-Rieslinge zählen zu den Weißweinen mit den "komplexesten Duft- und Geschmacksspektren". Der Wein knüpft nach den schlimmen Zeiten als Massenware der Nachkriegszeit nun auch wieder an alten Glanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die jungen Winzer bauen ihn sorgsam aus.

Für das Essen gilt das leider nicht. Jägerschnitzel, Rahmschnitzel, Zigeunerschnitzel, als kühnes Zugeständnis an moderne Essgewohnheiten auch mal Tortellini in Sahnesauce. Das ist der Alltag des Wanderers, der dem Hawaii-Toast so lange widersteht, bis er an einem Regentag nichts anderes bekommt. Nur mit Mühe lässt sich die Wirtin in Rengsdorf überreden, ein einfaches Schnitzel auf Wiener Art zu panieren und bitte keine Pilzsoße darüber zu schütten. Im Gasthaus am Tor in Filsen wird auf D-Mark-Blöcken abgerechnet. Manche Gasthäuser riecht man lange, bevor man sie sieht, sie kündigen sich von weit her durch monumentale Fettschwaden an.

Das war mal anders, man kann der Gastronomie nur wünschen, zu Gottfried Steins Zeiten zurückzukehren. Auf den im Buch abgedruckten Speisekarten stehen Grapefruit mit Krebsschwänzen, Kalbsrücken Orloff, Salatherzen, Nusskartoffeln, Poularde, Kaiserschoten auf Artischockenböden, Fasanessenz mit Chester-Biskuit, welsche Hahnen mit Gelee, Kapaunen gebraten, Kalbsbraten mit Seele, blau gesottener Aal, Hering-Sardellen-Salat und immerhin Butterbrot mit Fleischkäse.

Doch das Rheinland ist alt geworden mit seinem Publikum und seinen derben Essgewohnheiten. Es gibt Orte wie Bad Hönningen, wo ganze Gassenzüge mit dichtgemachten Schlagerbuden aufwarten, in leeren Esssälen die Polyester-Deckchen verstauben, das Seniorenheim ist das beste Haus am Platz. Es ist halt problematisch, wenn man bei Modernisierungen jeweils nur die nächste Generation rüstiger Senioren im Blick hat, deren Zeit vorübergeht, bevor der Kredit abbezahlt ist.

Aber es gibt auch Positivbeispiele wie Braubach oder Leutesdorf, wo man begonnen hat, Fassaden und Gasträume von Muff und Tand zu befreien. Oder Entdeckungen wie "Uschis Wanderstation": ein zur Pilgerherberge umgebautes Einfamilienhaus hoch über Kestert, echtes Jakobsweg-Feeling, wo die Jäger abends Geflügel zum Grillen aus den dichten Laubwäldern mitbringen. Da schmeckt der Drachenfels-Riesling nach langer Etappe doppelt so gut, man nimmt einen tiefen Zug und empfindet nach, was Gottfried Stein über das Glück der Kenner im deutschen Weingarten schreibt: "Wenn sie das Glas vom Munde nehmen, ist es, als horchten sie auf ferne Klänge in magischen Landschaften."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: