Historie:Die Diebe von Bagdad

Das historische Kalifat des sunnitischen Islam, auf das sich heute die Terrormiliz IS beruft, war in Wahrheit eine tolerante Hochkultur.

Von Ronen Steinke

Am Hofe des märchenhaft reichen Kalifen Harun al-Raschid, der von 786 bis 809 nach Christus in Bagdad regierte und in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht verewigt ist, war der Gelehrte Abu Nuwas einer der wichtigsten Berater. Er entwarf Strategien: für die Herrschaft über unterworfene Gebiete. Für Sicherheit und Ordnung in den Großstädten des Reiches. Zugleich war er berühmt für seine homoerotischen Gedichte.

Als er dann endlich kam, führte ich

ihn an einen Ort, den Augen der

Verräter und Neider entzogen.

Ich gab ihm kleine Mengen Weins

zu trinken. Als er genug vom Trinken

hatte, legte er sich auf die Seite,

um zu ruhen. Ich stand auf, um

seine Kleider zu lösen und seine

Schenkel zu streicheln.

Danach umarmten wir einander:

Ich küsste ihn unaufhörlich

auf seinen schneeweißen Mund.

Gewiss sind solche Zeilen nicht als Bekenntnisse zu verstehen, die Dichter übertrieben gern, die Leser wussten das. Selbst die Hofchronisten, welche die Weisheit ihrer Herren zu besingen hatten, waren im historischen Kalifat frei, unter ihrem eigenen Namen auch Erfundenes und Versautes zu verfassen, Promi-Klatsch, das erbaut die Leute, so dachte man schon damals, und jedenfalls gab es dafür einen schwunghaften Markt. "Trotzdem steckt eine Menge Wahrheit darin", sagt der Tübinger Islamwissenschaftler Lutz Richter-Bernburg: Das Erfundene, die Poesie zeigen, was ein Tabu war und was nicht. Die Sphären des Privaten und der Öffentlichkeit waren im historischen Kalifat strikt getrennt. Dem entsprach auch eine Zweiteilung der Normen. Religiös waren Alkohol und Homosexualität tabu. Die Gesellschaft jedoch emanzipierte sich davon umso mehr, je wohlhabender sie wurde - und das ging rasend schnell im Kalifat.

Heute setzt die brutale Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in ihrer Propaganda auf viel Erprobtes: fromme Verse, lange Bärte, Hass auf Nichtmuslime. Die wichtigste rhetorische Neuerung jedoch ist das Branding ihres Chefs als "Kalif", als religiöser und politischer Führer zugleich also. Auch wenn die IS-Miliz in Wahrheit wesentlich von ehemaligen irakischen Offizieren gesteuert wird, säkularen Parteigängern Saddam Husseins also, deren Verhältnis zu frommen Versen eher machbarkeitsorientiert sein dürfte: Der Kalif dient ihnen als Galionsfigur. Er besorgt den Nimbus, gespeist aus der Geschichte.

Kalifat - das Wort hat in der kollektiven Erinnerung der Iraker, und bei Weitem nicht nur der religiösen, einen Wohlklang. In Madinat as-Salam, der Stadt des Heils, wie Bagdad genannt wurde, erlebte ihre Kultur ihre glanzvollste Ära. Im Zentrum erhob sich vor 1000 Jahren der Kalifenpalast der Abbasiden-Dynastie, mit Bäumen aus Gold und Silber, auf denen goldene Vögel mithilfe einer automatischen Vorrichtung Lieder zwitscherten. Das Abbasiden-Kalifat, das vom 8. bis zum 13. Jahrhundert bestand, ist bis heute der Inbegriff der politischen Blüte des Islam. Von der Arabischen Halbinsel reichte seine Herrschaft damals über die Levante bis in den Nordwesten Afrikas ins heutige Algerien. Im Osten erstreckte es sich bis nach Zentralasien und hin zu Teilen des indischen Subkontinents. Nur kurze Zeit waren alle diese Gebiete wirklich dem Kalifen untertan, nach Harun al-Rashid entstanden immer neue Teilreiche, die Bagdad nur noch nominell huldigten.

'The Golden Prime of Good Haroun Alraschid', 1866 (reworked in 1891). Artists: William Holman Hunt, William Holman Hunt.

"Die goldene Zeit des guten Kalifen Harun al-Raschid": Das Gemälde von 1891 zeigt Pracht und Lebensstil des mittelalterlichen Kalifensitzes Bagdad.

(Foto: National Museum & Galleries of Wales/PA)

Das historische Bild, das die IS-Propagandisten heute andeutungsreich aufrufen, ist eines von Stolz und Selbstbestimmung: Solange es einen Kalifen in Bagdad gab, sei fast die gesamte sunnitische Welt einem einzigen Mann gefolgt. Bis die Mongolen kamen, die 1258 die Stadt Bagdad kurz und klein schlugen, Zehntausende Menschen ermordeten, den letzten Kalifen in einen Teppich steckten und von Pferden tottrampeln ließen. Der Chronist Isuf al-Haita sah die Mongolen unter Khan Hülagu als "unaufhaltsamen Sandsturm", der über die Metropole des Islam kam und Bagdad "in ein tiefes Rot tauchte". Die Eroberer errichteten "eine Schädelpyramide höher, als es alle Minarette und Türme Bagdads jemals waren". Die Pracht der Stadt war dahin, ebenso das üppige Grün ihrer Umgebung - die Mongolen verwüsteten auch die uralten, ausgefeilten Bewässerungsanlagen. Nur zwei Jahre später stoppten islamische Reitertruppen aus Ägypten die Mongolen in einer welthistorischen Schlacht bei Ain Dschalut. Doch die Zeit des Kalifats, die goldene Ära des Islam kehrten nicht zurück.

Es folgten in Bagdad Jahrhunderte des Unterworfenseins. Mongolen, Osmanen und europäische Kolonialherren lösten sich fortan ab, zuletzt rückten US-Amerikaner in den Irak ein. Je weiter das Bagdader Kalifat in die Ferne rückte, desto mehr wuchs sein Mythos.

Wenn sich der IS-Chef in Videos zeigt, trägt er ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Turban. Kein Zufall, das Kostüm ist direkt aus dem Fundus der Kalifen-Historie entliehen. Das Outfit - in der Farbe des Propheten - kreierten einst die Abbasiden, um sich abzugrenzen von ihren bunt gekleideten Vorgängern, den Omaijaden. Deren Dynastie hatte zuvor regiert. Vorgeblich, um deren Dekadenz Einhalt zu gebieten, hatten die Abbasiden sie im Jahr 750 vom Thron gestoßen. Den Regierungssitz verlegten sie damals demonstrativ von Damaskus ins neu gegründete Bagdad. Auch die schwarze Flagge des IS hat ein Vorbild: Der Aufstieg der Abbasiden-Dynastie begann im Jahr 747 damit, dass zwei schwarze Fahnen gehisst wurden - es war das geheime Zeichen, offen loszuschlagen. In Erinnerung daran wurde Schwarz die dominierende Farbe am neu errichteten Bagdader Hof.

Auf der anderen Seite leisten die ultrapuritanischen IS-Dschihadisten heute auch ein gutes Stück Verdrängung. Nicht nur Homosexualität wurde im historischen Bagdad goutiert. Auch Wein.

Begrabt mich, wenn ich sterbe,

am Stamme eines Weinstockes,

damit dessen Wurzeln in der Erde

meine Knochen tränken!

Begrabt mich nicht in der Wüste;

denn ich fürchte, den Wein

nicht mehr zu kosten,

wenn ich einmal gestorben bin.

Der irakische Dichter Abu Mihdjan, von dem diese Zeilen stammen, war im siebten Jahrhundert einer der Begründer der reichen bacchischen Dichtung, welche das Abbasiden-Reich in Fülle hervorbringen sollte; sein deutscher Übersetzer Gerhard Hoffmann nennt ihn liebevoll einen "bekannten Zecher und Poeten". Heute lässt der IS in seinem "Kalifat" echte oder vermeintliche Schwule mörderisch jagen, Alkohol und Zigaretten sind bei Strafe verboten, Musik und Lieder "in Autos, bei Feierlichkeiten, in der Öffentlichkeit sowie in Geschäften" untersagt, wie den Bewohnern der irakischen Stadt Mossul im Januar 2014 mitgeteilt wurde, nach der Eroberung durch den IS.

Der Sittenstrenge des IS geht so weit, dass es schon als Blamage galt, als in einem Propagandavideo der Miliz kurz die Luxusuhr des IS-Chefs unter dessen Gewand aufblitzte. Von einem Kalifen erwarteten für historisch verbrämte Propaganda empfängliche IS-Fußsoldaten Askese. Es soll alles wieder so puritanisch werden, wie es nie war.

Der Anspruch an eine islamkonforme Lebens- und Amtsführung des Kalifen wurde im originalen Kalifat von Bagdad durchaus schnell aufgegeben. Überhaupt löste sich das zunehmend selbstbewusste muslimische Bürgertum bald aus dem Griff der Fürsten und Imame. So sehr, dass nach dem Ende von vier Jahrhunderten Abbasiden-Herrschaft selbst der von heutigen Islamisten gern zitierte Prediger Ibn Taimîya (1263-1328) die Einheit von religiöser und politischer Autorität nicht mehr für zwingend geboten hielt, sondern jede am Religionsgesetz orientierte Herrschaftsausübung für akzeptabel erklärte.

Historie: "La Sultana", Ölgemälde von Filippo Baratti, 1872. Der Orientalismus liebte Motive aus der großen Zeit des Islam.

"La Sultana", Ölgemälde von Filippo Baratti, 1872. Der Orientalismus liebte Motive aus der großen Zeit des Islam.

(Foto: bridgemanart)

Wenn ein Islamist sich heute das Pseudonym "Abu Bakr al-Bagdadi" zulegt, so wie der 44-jährige gescheiterte Jurastudent Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri, der gegenwärtig die Terrormiliz IS anführt, dann ist das ähnlich subtil, als wenn ein deutscher Sozialist sich den Künstlernamen "Willy Liebknecht" geben würde. Abu Bakr - das ist ein Name, der nur so klimpert vor historischen Assoziationen, der ursprüngliche Namensträger war nach islamischer Überlieferung ein Kalif, und zwar jener, der direkt auf Mohammed folgte. Der erste also. In der IS-Propaganda-Zeitschrift Dabiq gibt es eine eigene Rubrik namens "Aus der Geschichte", und in der achten Ausgabe der Zeitschrift wird dort ausführlich der Original-Abu-Bakr vorgestellt. Der Erbauer, ohne ihn "wäre der Islam untergegangen".

Neben seinem Kampfnamen Abu Bakr nutzt der IS-Chef noch den Zunamen al-Bagdadi, "der Bagdader". Nicht etwa, weil er von dort käme. Der IS-Chef

kommt in Wahrheit aus der viel kleineren Stadt Samarra, weitere 150 Kilometer den Tigris hinauf. Aber in seiner Rolle als Kalif bezieht er sich lieber auf Bagdad, nicht auf die Traditionen anderer Kalifate, deren Historie weniger glänzt.

"Kein Land gibt es, dessen Bewohner nicht in Bagdad ein eigenes Viertel, eigenen Handel und eigene Geldwirtschaft hätten", schwärmte der Gelehrte al-Yaqubi schon im ersten Jahrhundert des historischen Bagdader Kalifats von dem Boom, den der Handel einbrachte. "Man findet jede Art von Waren aus Ost und West, aus der islamischen und aus der nichtislamischen Welt, aus Indien und China, aus dem Lande der Türken und der Äthiopier. Ja, in Bagdad gibt es mehr Waren der verschiedenen Länder als in den Herkunftsländern selbst." Das Etikett "Kalifat" war nichts exklusiv Irakisches, später nutzten es auch andere muslimische Herrscher für sich. Das sudanesische Reich des Mahdi zum Beispiel, das sich im 19. Jahrhundert gegen die Briten auflehnte. Auch die Osmanen reklamierten den Titel zeitweise für sich. Aber das historische Kalifat von Bagdad blieb das Maß aller Dinge.

Muslime übersetzten damals die Werke von Platon und Aristoteles aus dem Griechischen, im Bagdader Kalifat erblühte die Wissenschaft. Einer der leuchtendsten Denker dieser Zeit wirkt heute wie aus Walter Moers' Fantasyroman "Die Stadt der träumenden Bücher" entstiegen: Al-Dschahiz, "der Glubschäugige" (776-868), ein Mann von "sprichwörtlich gewordener Hässlichkeit", wie sein Biograf Charles Pellat schreibt. Ein enzyklopädischer Prosaschriftsteller und immens produktiver Universalgelehrter, wurde er der Überlieferung zufolge in seinem 93. Lebensjahr von einem fallenden Bücherregal erschlagen. Der Glubschäugige war nicht nur einer der angesehensten Theologen des Kalifats, sondern er schrieb auch über die respektiven Vorzüge von jungen Frauen und Jünglingen als Sexualobjekten. Die Eunuchen - bei wohlhabenden Bürgern des Kalifatstaats gehörten sie zum Haushalt - figurieren bei ihm im Rahmen seiner "Zoologie".

Puritaner à la IS gab es im historischen Bagdader Kalifat durchaus auch. Bloß nicht an der Macht, sondern eher in den Kerkern. Der Rechtsgelehrte Ahmad ibn Hanbal etwa, einer der Vordenker radikaler Sunniten heute, wurde unter den abbasidischen Kalifen zeitweise verfolgt und gefoltert. Während ein paar Etagen darüber, im Palast, der Gelehrte Abu Nuwas die Schreibfeder spitzte und das Glück des öffentlichen Bades unter Männern pries.

"Im Bad wird dir das sonst durch

die Hosen Verborgene sichtbar.

Auf zum Betrachten! Gucke nicht

mit abgelenkten Augen! . . .

Auf, wie trefflich ist das Bad

unter den Orten, die alles deutlich

zeigen. Auch wenn die Leute mit

den Handtüchern einen Teil der

Annehmlichkeiten vergällen."

Mitarbeit: Christoph Meyer

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