Historie:Der Baumflüsterer

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Die Deutschen und der Wald, das ist eine eigenartige Geschichte mit Kahlschlag und Verklärung. Ein Förster belebt nun den Mythos neu.

Von Jan Heidtmann

Mit Peter Wohlleben durch den Wald zu streifen, ist wie ein Streifzug durch einen Märchenwald. Er weist auf eine großgewachsene Buche, einen Mutterbaum, der das Baumkind schützt. Er deutet auf alte, schwere Buchen, die ihre Äste um einen Artgenossen geschlungen haben, um ihn zu stützen; sein Wurzelgeflecht ist längst abgestorben. Wohlleben nimmt eine Handvoll Laub vom Boden auf, an den Unterseiten ist es mit dünnen, weißen Fäden durchzogen. Es sind Pilze, mit deren Hilfe die Bäume untereinander kommunizieren können. Mit Peter Wohlleben unterwegs zu sein, ist wie eine Wanderung durch Mittelerde zum Wald Fangorn, wo jedes Gestrüpp eine Überraschung birgt und Bäume Augen haben.

Der Wald ist hier mehr als nur die Summe seiner Bäume, ein komplexes Geflecht aus Hunderte Jahre alter Erinnerung, aus Leben und Sterben. Wohlleben hat dem Wald die Seele zurückgegeben. Seine Berichte erinnern an die Romantik eines Joseph von Eichendorff, sie wirken wie der Science-Fiction-Film "Avatar", in dem eine wilde, verwunschene Natur einem höheren Plan folgt. Nur, dass Wohllebens Geschichten Science und keine Fiction sind.

Peter Wohlleben ist der Baumflüsterer - Deutschlands bekanntester Waldmensch derzeit

In seinem ersten Leben ist der 51-Jährige Förster. Wohllebens Revier liegt in der Eifel, in der Gemeinde Hümmel. Es hat Jahre gedauert, bis er den Wald verstanden habe, sagt er. "Nach einem Vierteljahrhundert als Förster habe ich mich endlich mit den Bäumen versöhnt." In diesem Sommer veröffentlichte er das Buch "Das geheime Leben der Bäume", da begann sein zweites Leben. Als Baumflüsterer, als Deutschlands bekanntester Waldmensch. Sein Buch steht seit Wochen auf den Bestseller-Listen, Wohlleben gibt Interviews, tritt in Talkshows auf, ist Gegenstand großer Magazingeschichten. Und die Deutschen lieben, was er sagt.

Das letzte Mal, dass sich die Deutschen derart mit Baum und Borke beschäftigten, das war in den frühen Achtzigerjahren. Der Wald lag im Sterben, kaputt gemacht vom sauren Regen, von Schwefeldioxid, das ungefiltert aus Fabrikschloten und Auspuffen strömte. Damals war es so, als würde eine Welt untergehen. Mit Peter Wohlleben ist es so, als würde eine Welt auferstehen. Es sind Erzählungen, wie sie die Deutschen seit Jahrhunderten kennen: Der Wald wurde abgemäht und wieder aufgeforstet, zum Sehnsuchtsort verklärt und zum deutschnationalen Kulturgut stilisiert. "Wir müssen den Wald erhalten, nicht bloß damit uns der Ofen im Winter nicht kalt werde, sondern auch damit die Pulse des Volkslebens warm und fröhlich weiter schlagen, damit Deutschland deutsch bleibe", dichtete der Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl 1854 in seiner Naturgeschichte "Land und Leute".

Um ihre Liebe zum Wald zu entdecken, brauchte es jedoch erst einmal den nahezu kompletten Kahlschlag. Seit dem Mittelalter wurden die Baumbestände, die fast ganz Zentraleuropa bedeckt hatten, gefällt. Die Menschen waren sesshaft geworden, sie brauchten das Holz, um Häuser zu bauen, um zu heizen und zu kochen, um Eisen zu schmelzen. Die Landwirtschaft wurde massiv ausgebaut, große Waldgebiete wurden für Äcker abgeholzt. Auch in den wachsenden Handelsmetropolen Norditaliens war der Rohstoff gesucht, unter anderem zum Bau von Booten. Besonders beliebt war das leichtere Nadelholz aus Mitteleuropa. Kriegsschiffe, die damit konstruiert wurden, waren wendiger und damit schlagkräftiger.

Große Teile des Kontinents glichen damals Mondlandschaften, so rücksichtslos wurden die Wälder vernichtet. Als am Frühmorgen des 2. September 1666 beim Tower of London das Haus eines Bäckers zu brennen begann, wurden die Folgen offenbar. Die Funken flogen, das Feuer breitete sich in den engen Gassen Londons rasend schnell aus, in nur wenigen Tagen war der größte Teil der Stadt abgebrannt. Als wäre das verheerende Feuer nicht schlimm genug gewesen, drohte jetzt der Wiederaufbau der Stadt zu scheitern: England waren die Bäume ausgegangen. Umständlich musste das Holz aus Norwegen und den amerikanischen Kolonien eingeschifft werden.

Der 21-jährige Ex-Student Hans Carl von Carlowitz hatte den Feuersturm von London miterlebt, das Erlebnis machte ihn zum ersten Öko Deutschlands. Carlowitz stammte aus dem sächsischen Bergbaurevier bei Chemnitz. Sein Vater war Oberforstmeister, und auch Sohn Hans Carl war stark an dem Rohstoff Holz interessiert. Die Erlebnisse von London alarmierten ihn. 1713 erschien sein Buch "Sylvicultura Oeconomica", eines der ersten forstwissenschaftlichen Bücher überhaupt. Darin der Satz, der vieles verändern sollte: "Wird derhalben die größte Kunst/Wissenschaft/Fleiß und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen / wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen/daß es eine continuierliche beständige und nachhaltige Nutzung gebe . . ." Anders gesagt: Für jeden Baum, der gefällt wird, muss ein neuer angepflanzt werden. Von Carlowitz begründete damit die Idee der Nachhaltigkeit; seine Lehre wurde zur Grundlage der damals aufkommenden Forstwissenschaften, Waldbesitzer in ganz Deutschland machten sie zur Regel der Waldnutzung.

Für Carlowitz war Nachhaltigkeit jedoch keine Lebenseinstellung, sondern nur ein Weg, um zu überleben. Er war inzwischen zum Berghauptmann aufgestiegen, und: ohne Holz kein Bergbau. Die Angst vor der Holznot war es auch, die die Forstwirtschaft vorantrieb. Gerhard Mitscherlich, Wissenschaftler aus Niedersachsen, fasste die Stimmung so zusammen: "Im Walde, in dem es Jahrhunderte hindurch vom Hundegebell und Hörnerklang der höfischen Jagden geschallt hatte, wo allenthalben die Kohlenmeiler, die Teer- und Aschengruben geraucht, die Schmelzöfen gequalmt hatten, wurde es nach und nach still. Er war nun nicht mehr Lebensraum, wie bisher, sondern wurde Stätte einer planmäßigen, systematischen Holzproduktion, die nur noch möglichst wertvolles Holz liefern sollte."

Der Wald galt als Wirtschafts-, nicht als Lebensraum. Um ihn besser berechnen zu können, wurden zahlreiche mathematische Methoden entwickelt. Bereits 1765 erschien das Brevier "Practischer Beweis. Daß die Mathesis bey dem Forstwesen unentbehrliche Dienste thue". Andere Schriften folgten. Der Wald war hier nur noch die Summe seiner Bäume, ein Konzept, das bis heute wirkt. Zwar urteilte das Bundesverfassungsgericht 1990, die wirtschaftliche Nutzung der Wälder dürfe nicht im Vordergrund stehen. Doch teilweise prägen die ökonomischen Vorstellungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert bis heute die Forstwissenschaften. Zumal das Holz aus staatlichen Wäldern den Landesregierungen Jahr für Jahr Hunderte Millionen Euro verschafft.

Der deutsche Wald wurde auch zum Thema in Literatur und Malerei - nur ganz anders als die mathematisch-präzis strukturierte Wiederaufforstung vermuten ließ. Joseph von Eichendorff beschrieb ihn als "eine Art Hallraum der Seele", Ludwig Tieck formulierte 1797 in seinem Märchen "Der blonde Eckbert" erstmals den Zustand der "Waldeinsamkeit" - ein fast religiöser Moment, in dem der Mensch abseits der Zivilisation endlich wieder zu sich finden kann. Waldgeschichten wurden mehr und mehr zum Topos von Erzählungen, besonders in den Märchen der Gebrüder Grimm, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen. Dort konnte der Wald bedrohlich und finster sein, wie in "Die drei Schwestern": ". . . in den wagte sich kein Mensch, weil fürchterliche Dinge erzählt wurden"; er konnte aber auch lieblich sein, wie in "Schneeweißchen und Rosenrot": "Das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen, das Reh graste an ihrer Seite".

In 92 der mehr als 200 Geschichten in ihrer bekanntesten Sammlung, den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm, spielte auch der Wald eine tragende Rolle. Manchmal mussten die Geschichtensammler etwas nachhelfen. So kam in der überlieferten Urfassung von "Der Wolf und die sieben Geißlein" eigentlich kein Wald vor, die Brüder dichteten ihn dazu.

Noch sichtbarer als die Literatur schuf die Malerei das Bild eines idealen deutschen Waldes. War er auf Gemälden lange Zeit höchstens als Kulisse zu entdecken, hatte der Maler Albrecht Altdorfer in seinem Bild von dem Heiligen Georg bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts ins Innere geblickt. Aber erst Romantiker wie Caspar David Friedrich porträtierten großflächig Lichtungen, einsame Wanderer, alte knorrige Bäume. Viele dieser Bilder entstanden vor allem aus einer neuen Begeisterung für die Natur; die Befreiungskriege gegen Napoleon zwischen 1813 und 1815 lieferten dann den Stoff, um den Wald deutsch-national aufzuladen. Als Urmythos diente die Herrmannschlacht, in der die Germanen im Jahre neun nach Christus die Römer unter Varus in einer wilden und bestialischen Schlacht zurückdrängten. Napoleon wurde zum Wiedergänger des Varus erklärt, das deutsche Urvolk kämpfte somit gegen das verweichlichte Volk der Franzosen. Die Schrift "Germania" des römischen Politikers Publius Cornelius Tacitus aus dem Jahre 100 erlebte eine Renaissance: Urwüchsig, geheimnisvoll, mythisch beschrieb Tacitus die Germanen.

Im Teutoburger Wald schlugen die Germanen die Römer in einer wilden, bestialischen Schlacht zurück

Zum Ende des 19. Jahrhunderts begannen Touristen die Waldeinsamkeit empfindlich zu stören. Je mehr das Land industrialisiert wurde, desto mehr sehnten sich die Menschen nach Erholung. Die Jagdgebiete im Tiergarten in Berlin und im Englischen Garten in München waren schon lange vorher in öffentlich zugängliche Parks umgewandelt worden, nun strebten die Bürger in die größeren Wälder. Spreewald, Bayerischer Wald, der Harz, der Thüringer Wald, sie alle wurden durch Wanderwege und Gaststätten erschlossen. Obwohl die Naturschützer protestierten, warben die Wanderregionen mit aufwendigen und idyllischen Plakaten um Besucher. Der Wald wurde nicht nur Ort für den Sonntagsspaziergang, sondern für Picknicks und Leibesübungen.

Die Nazis nahmen diese Begeisterung dankbar auf und pervertierten sie sogleich. Juden wurden aus den Wäldern verbannt, dafür traf sich die "Kraft durch Freude"-Bewegung zu ausgiebigen Wanderungen. Die Deutschen wurden zum Waldvolk stilisiert, das - wie auch der Wald - "ewig" sei. In der Uckermark hatte sich ein linientreuer Förster etwas ganz Besonderes einfallen lassen: 100 Lärchen, gepflanzt in Hakenkreuzform. Besonders im Herbst war das Zeichen aus der Luft gut sichtbar. Die Geschichte wurde erst Mitte der Neunzigerjahre publik, als ausgerechnet die französische Tageszeitung Figaro darüber berichtete. Der Hakenkreuzwald geriet zum Politikum: Frankreichs Präsident François Mitterrand musste bei seinem Kollegen Roman Herzog intervenieren, dann wurden zumindest 50 der Lärchen gefällt.

Das Ende des Krieges war dann auch eine Niederlage für den Wald. Ganz praktisch, denn die Reparationszahlungen an die Siegermächte mussten auch in Holz geleistet werden. Vor allem aber hatte der Sehnsuchtsort seine Unschuld verloren. 1946 publizierte Ernst Wiechert das Buch "Der Totenwald", das zum Bestseller wurde. Dort beschrieb er seine Erlebnisse im Konzentrationslager Buchenwald. Dabei auch, wie die Häftlinge gefällte Bäume zu schleppen hatten. "Seine Leben lang wird Johannes einen Buchenwald nur mit Grauen anblicken können", schrieb Wiechert. Und Elias Canetti zog in seinem Standardwerk "Masse und Macht" einen Vergleich zwischen dem deutschen Heer, dem Symbol für die Masse schlechthin, und dem Wald: "Aber das Heer war mehr als das Heer: Es war der marschierende Wald."

Vielleicht bedurfte es erneut des drohenden Untergangs, bevor die Deutschen ihren Wald wieder lieben konnten. Ende der Siebzigerjahre entdeckte der Göttinger Wissenschaftler Bernhard Ulrich wie massiv beschädigt die Bäume waren. 1980 machte Ulrich seine Untersuchungen öffentlich, das Waldsterben war diagnostiziert und die Deutschen verbündeten sich mit ihrem "Hallraum der Seele" wie zuletzt in der Romantik. Lieder wurden zur Rettung des Waldes komponiert, der Plakatkünstler Klaus Staeck malte Plakate, die Grünen gewannen an Zustimmung, eine überparteiliche Koalition führte den Katalysator und bleifreies Benzin ein.

Die Deutschen und ihr Wald - sie hatten wieder zueinander gefunden. Eine sonderbare Beziehung, so eigenartig, dass die Franzosen nicht einmal ein eigenes Wort für die vermeintliche Hysterie im Nachbarland fanden. Das Waldsterben nennen sie schlicht "le Waldsterben".

© SZ vom 21.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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