Historie:Das Leben nach der Stille

Vor 60 Jahren kam das Saarland per Plebiszit an die Bundesrepublik. Heute ist es ein Sorgenkind des deutschen Föderalismus - und besser als sein Ruf.

Von Gianna Niewel

Das Auffallendste ist hier das, was fehlt. Der Lärm zum Beispiel. Hermann Hille steht in mehreren Metern Höhe, rau weht der Wind dort oben. Hinter ihm: drei Hochöfen. Vor ihm: noch mal drei. Die Völklinger Eisenhütte, ein stiller Riese in rostrot. Hille beugt sich über das Geländer. Er zeigt, hier, die ehemalige Sinteranlage, dieses Inferno aus Hitze und Höllenlärm. Dann dort hinten - seine Finger zeichnen Linien in die Luft - ratterte früher die Hängebahn entlang, beladen mit tonnenweise Erz und Koks. Hille, 79 Jahre alt, Jeans, kariertes Hemd, Schutzhelm, war jahrelang Hochofenchef "in der Hütt". 1986 schloss sie, seither ist es ruhig geworden in Völklingen im Saarland. Nichts kracht mehr, nichts wummert.

Einst der größte Eisenträgerhersteller Deutschlands, ist die Hütte heute Unesco-Weltkulturerbe. Seitdem 1883 der erste Hochofen angeblasen wurde, zeichnete die Hütte wie ein Seismograf jede Regung auf: Kriege, Krisen, Aufschwung. An ihr ließ sich ablesen, wie es dem Umland ging. Um nicht zu sagen: dem gesamten Saarland.

Saarland, da denkt man an Lyoner und an Maggi, an ein gemütliches "ei jo" und auch an Oskar Lafontaine. Im besten Fall. Im schlechtesten Fall gilt das kleinste deutsche Flächenland als beliebter Vergleichswert, um die Größe von Waldbränden zu veranschaulichen. Erst kürzlich frotzelte das Satire-Magazin Der Postillon, das Saarland sei aus den Karten der Navigationsgeräte gelöscht worden. Der Grund? "Mangelnde Nachfrage". Und tatsächlich: Seit die Kohle- und Stahlkrise in den 1980ern Hütten und Gruben an der Saar überflüssig machte, gilt das Land vielen als zu teuer und zu unbedeutend. Immer mal wieder überlegen Politiker im Zuge der Föderalismusreform daher, das Saarland an Rheinland-Pfalz anzugliedern. Dabei gibt es wohl kaum ein Bundesland, das aufgrund seiner Geschichte so selbstbestimmt ist. Zweimal in 20 Jahren entschieden sich die Saarländer für einen Beitritt zu Deutschland. Zum zweiten Mal vor 60 Jahren.

Hermann Röchling: Industrieller, Wohltäter - und Verbrecher

Für Saarländer, die die Abstimmung im Herbst 1955 miterlebt haben, ist der 23. Oktober ein Tag der Klarheit, endlich. Lang genug wurde das Land zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergezerrt. Nach dem Versailler Vertrag 1919 vom Völkerbund regiert, kontrollierte der Nachbar Frankreich die Kohle- und Stahlindustrie im "Saargebiet", als Reparation für die Kriegsschäden. Ein lohnender Deal, stand die Hütte doch über Jahrzehnte für den Aufschwung.

1933 begann dann das düsterste Kapitel. Hitler wollte die Saar "heim ins Reich" locken. Mehr als 90 Prozent der Saar-Bevölkerung folgten zwei Jahre später in einer Volksbefragung seinen Parolen. Hitler verdankte diesen Prestigeerfolg auch Hermann Röchling. Der Industrielle von der Saar hatte mit seiner "Deutschen Front" maßgeblich Stimmung für die Rückkehr zu Nazi-Deutschland gemacht - und sorgte dann im Krieg als Chef des Unternehmens dafür, dass hier mehr als 12 000 Zwangsarbeiter Geschützrohre und Geschosse fertigten. Mindestens 250 Kriegsgefangene aus Frankreich, Italien und Russland starben.

Hermann Hille zeigt hinüber in die Stadt. Dort, hinter den Bahngleisen, erhebt sich die Röchlinghöhe. 1300 Einwohner, viel Grün, Reihenhäuser. Ursprünglich stand auf dem Ortsschild "Bouser Höhe", bis 1956. Dann wurde der Stadtteil umbenannt. Hermann-Röchling-Höhe hieß er nun, dem Hüttenbesitzer zum Dank, der hier den Eigenheimbau seiner Stammarbeiter großzügig bezuschusste. Dass eben jener Hermann Röchling nach 1945 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, störte lange niemanden. Erst 2013 beschloss der Völklinger Stadtrat eine zweite Umbenennung, diesmal in Röchlinghöhe. Jetzt steht der Name für die Familie, sie hat die Hütte groß gemacht. Und mit ihr die Stadt.

Eigene Briefmarken, eigene Währung, eine eigene Mannschaft für Olympia - auch aus dem Zweiten Weltkrieg ging das Saarland mit einer politischen Sonderrolle heraus. Ab Ende der 1940er-Jahre durften sich die Saarländer auf dem Papier zwar selbst verwalten, wieder aber banden die Franzosen das Industrierevier stark an sich. Sehr zum Unmut der "Sarrois": ihre Meinungsfreiheit war eingeschränkt, die Franzosen wollten die Kohlegruben und die Eisenbahn auch langfristig pachten.

50 Jahre Volksabstimmung im Saarland

Wahlplakate im Saarbrücken, 1955: Die Auseinandersetzung war bitter - und das Saarland wurde in demokratischer Abstimmung das erste neue Bundesland.

(Foto: Landesarchiv Saarbrücken/Erich Oettinger/ddp)

Im Oktober 1954 unterschrieb Konrad Adenauer in Paris das Saar-Statut, dessen Idee auf den großen Europäer und französischen Außenminister Robert Schuman zurückging. Die beiden Staatsmänner wollten das größte Hindernis für die Aussöhnung ihrer Nationen überwinden: Das Land sollte Kern eines neuen Europas werden - innenpolitisch unter der Regierung von Johannes Hoffmann selbstverwaltet, aber von einem Kommissar der Westeuropäischen Union vertreten. Die Alternative: Teil der Bundesrepublik zu werden.

Das Ergebnis der Volksabstimmung war eindeutig. 67,7 Prozent der Stimmberechtigten entschieden sich am 23. Oktober 1955 gegen das Statut. Es war ein Votum, das sehr große Wellen schlug - auch weil etliche Gegner des Statuts offen nationalistische Töne anschlugen und gegen die Interimsregierung an der Saar hetzten, in der viele frühere Emigranten und Nazigegner saßen. Der französische L'Express etwa wertete das Ergebnis als "Schlag gegen Frankreich". Ab 1957 gehörte das Saarland zur Bundesrepublik. Kurze Zeit später herrschte an der Saar fast Vollbeschäftigung. 17 000 Männer fertigten Mitte der 1960er-Jahre Bahnschienen und Schiffsstahl. Die Völklinger Hütte wuchs auf eine Fläche von 600 000 Quadratmeter.

"Du hast 'nen Pulsschlag aus Stahl" singt Herbert Grönemeyer über Bochum, und der Vergleich mit dem Ruhrgebiet ist nicht falsch, denn auch Völklingen ist von eher herbem Charme, ist "'ne ehrliche Haut". Er stimmt aber auch nicht vollkommen. Als die Kohle- und Stahlkrise Mitte der 1980er-Jahre einschlug, hatte Opel "im Pott" schon auf dem Gelände einer Zeche sein Werk eröffnet. Viele der Kumpel konnten ans Fließband wechseln. In Völklingen entstand derweil ein neues Stahlwerk, ein Aufbäumen gegen den drohenden Niedergang. Vergebens. Am 4. Juli 1986 standen die Hochöfen der Hütte still und kein Unternehmen sollte es schaffen, die Arbeitslosigkeit zu stoppen - bis heute nicht. Völklingen, viertgrößte Stadt im Saarland, etwa 40 000 Einwohner, gut elf Prozent Arbeitslose. Das ist die nüchterne Bilanz.

Wenn das Schichtende die Arbeiter in den Morgennebel entließ, gab es Bier

Es fehlt nicht allein der Lärm der Hütte, dieses Fauchen, das Röhren der Maschinen. Es fehlen auch die Menschen, die bis 1986 dort malochten. Nur ein Paar sitzt an diesem Abend an einem der rustikalen Holztische in "Rottmann's Eck", es gibt Wiener Würstchen und Salat, ein kleines Bier. "War mal mehr los hier" sagt Hildegard Schuh-Groß und legt den Zapfhahn um. Ihr gehört die Gaststätte in der Nähe der Hütte. Schwere Vorhänge, Schummerlicht, in der Ecke blinkt ein Spielautomat. "Es Maria? Hat dicht gemacht. Es Elfi? Auch zu." Die 65-Jährige, die alle hier nur "Hilde" rufen, zählt an den Fingern ab, welche Kneipen nach 1986 schließen mussten. Zwei Hände reichen ihr nicht. Schließlich gehörte ein Karlsberg für die meisten Arbeiter zum Feierabend dazu; auch dann, wenn das Schichtende einen Teil der Männer in den Morgennebel entließ. 6.10 Uhr - die Arbeiter enterten die Kneipe, an den Tresen, zum Wohl. Ein paar Mark auf die Theke, dann hielt auch schon der Bus an der Haltestelle gegenüber und fuhr die Männer "hemm", nach Hause. Da war es dann meist nicht einmal halb sieben.

Am Tresen ordern derweil zwei Männer ein Helles, sie duzen die Wirtin, Handschlag über die Theke. Die Herren sind gebürtig aus Völklingen, sie erzählen: Nachdem die Hütte dicht war, schneite es zum ersten Mal wieder weiß über Völklingen. In all den Jahren zuvor war die Luft von Staub und Dreck getränkt. Und während die Väter am Hochofen ackerten, hatten die Mütter Probleme, die Wäsche zu trocknen. Draußen? Unfug. Eisenanstich und Hüttenfeuer verrußten die Stadt und ihr Umland, es gibt Videos davon, alles ist grau.

Die beiden Männer kommen aus dem Stadtrat, die Sitzung zog sich. Thema wie so oft: "Die Verschönerung der Innenstadt". Ein spröder Titel, eine Herausforderung ohne Frage. Spaziert man durch Völklingen, reihen sich Döner-Buden an Ramschläden an Billig-Friseure. Durch die Straßen jagt der Wind Einkaufsblättchen, die niemand von den Fußmatten nimmt, weil kaum noch jemand hier wohnt. In den Fenstern hängt oft nur ein Schild: "Zu verkaufen". Wer es sich leisten kann, baut neu am Rand der Stadt.

Die Saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp Karrenbauer wirbt am Dienstag 6 10 2015 im Hi

Saarstatut: Kanzler Adenauer war aus Rücksicht auf Frankreich für eine europäische Lösung, seine CDU dagegen.

(Foto: imago)

Sicher, die Universität im benachbarten Saarbrücken lockt mit trinationalen Abschlüssen, die in der Großregion anerkannt werden. Die Stadt ist ein angesehener Standort für Informatik und High-Tech. Dann das Savoir-vivre, das von Lothringen und Luxemburg über die Ländergrenzen hinweg in die Theater und Lokale schwappt.

Doch ziehen gerade die Jungen weg; nur noch 800 000 Menschen von heute knapp einer Million sollen 2030 noch im Saarland leben. Die Städte und Gemeinden müssen haushalten, die Pro-Kopf-Verschuldung liegt deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Auch das Land ist quasi pleite, fast 17 Milliarden Euro Miese. Längst entscheidet der Stabilitätsrat des Bundes und der Länder per Schuldenbremse von der Hauptstadt aus, was das Saarland ausgeben darf. Und daher kommen immer mal wieder Politiker aus dem fernen Berlin oder Bayern auf die ketzerische Idee, das Saarland und andere kleine Bundesländer doch als eigenständige Einheiten ganz aufzulösen.

Rein rechnerisch mag sich das auszahlen - wieso sollte sich ein Land mit einem solch maroden Haushalt einen eigenen Flughafen, eine eigene Regierung, eine eigene Polizei leisten? Doch mochten es die Menschen zwischen Homburg und Perl noch nie, von höherer Stelle Ratschläge erteilt zu bekommen. Und außerdem beruht ihr Stolz ja gerade darauf, dass sie sich nach ihrer wechselvollen Geschichte zwischen zwei großen Staaten so stark mit ihrem Land identifizieren. Es ist ein fast trotziger Wunsch nach Eigenständigkeit.

Wie aber soll es dann weitergehen? Die Völklinger Hütte könnte Antwort geben. Ihre Vergangenheit jedenfalls lehrt: alles halb so wild. Als hier das letzte Eisen verhüttet worden war, wollte man einfach einen Zaun darum ziehen und sie verfallen lassen. Die Hütte galt als Monster aus Rost.

Die Völklinger Hütte: Symbol des langen Niedergangs und zugleich eines Neubeginns

Doch es sollte anders kommen. Seit 1994 ist die Völklinger Hütte Weltkulturerbe, plötzlich von der Unesco in eine Liga katapultiert mit Schloss Versailles, der Akropolis, der Freiheitsstatue. Verfall? Davon redet heute niemand mehr, schon gar nicht Meinrad Maria Grewenig. Er ist der Generaldirektor des Weltkulturerbes Völklinger Hütte. Er sorgt dafür, das eiserne Erbe auch in Zukunft zu erhalten. Wenn es dämmert, tauchen nun also Scheinwerfer die Hütte in rot, blau und grün. Regelmäßig werden Konzerte in der ehemaligen Gebläsehalle aufgeführt. Das Hüttengelände diente mehreren ARD-Tatorten als Kulisse, Kafkas Erzählung "Der Bau" wurde hier gedreht, die "Wilden Kerle 5".

Noch bis Mitte November ist die Ausstellung "UrbanArt Biennale" zu sehen, 120 Kunstwerke und Installationen. "Wissen Sie, was mich freut?" Grewenig, feine Stoffhose, weißes Hemd, lehnt sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Die Hütte erhebt sich gleich hinter seinem Fenster in den diesigen Herbstnachmittag. "Mich freut, wenn junge Leute anrufen und sagen, dass sie gebürtige Völklinger sind. Dass sie zwar in Berlin studieren oder in München arbeiten. Aber ob sie nicht bitte doch noch eine Karte für dieses eine Konzert bei uns haben könnten?"

Allein 2014 kamen etwa 300 000 Menschen, um über die Metalltreppen hoch und höher zu kraxeln und sich durch das Gebirge aus Rohren, Hallen und Hochöfen führen zu lassen, durch dieses Denkmal europäischer Industriekultur. Im Sommer wuchert Flieder über das Gelände. Die Hütte, diese Majestät aus Eisen, lebt weiter.

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