Historie:Aufbau Ost

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Peter und Gabi Butze waren das berühmteste Bodybuilding-Paar der DDR. Sie stemmten nicht nur Gewichte, sondern sich selbst - gegen das System.

Von Ulrike Nimz

Nun sitzt er also wieder in diesem Raum, auf diesem Stuhl. Sein Hemd fühlt sich schwer an wie ein Harnisch. Sie hören nicht auf zu fragen. Ob er nicht in die Partei wolle, ob er nicht für den Frieden sei, ob er nicht wisse, dass jemand anders seine Arbeit machen könne. Peter Butze schaut zum Fenster. Er will weg, will in den Keller. Er will Bankdrücken machen, will spüren, wie Bizeps und Trizeps unter dem Stahl zu summen beginnen. Doch hier in diesem Raum, in dem ihn seine Vorgesetzten vom Sozialismus überzeugen wollen, nützen ihm seine Muskeln nichts. Der Elektronikingenieur Peter Butze strengt sich an, wie er sich noch nie im Leben angestrengt hat: Er steht vom Stuhl auf und verlässt den Raum.

Peter Butze wird an jenem Tag nicht gefeuert, er tritt auch nicht in die SED ein, wie die Genossen es wollen. Er tritt hinaus auf die Straßen Karl-Marx-Stadts, in den Dunst von Kohleheizung und Zweitaktmotor. Der Keller liegt im Zentrum der Stadt, unter der Post. Keine Fenster, keine Lüftung. Eigentlich sollen hier Zivilisten vor den amerikanischen Interkontinentalraketen Zuflucht finden. Aber Karl-Marx-Stadt ist Mitte der Achtziger weit weg von allem, was man Ereignis nennen könnte, das schließt die Atomapokalypse mit ein. Also haben sie in den Katakomben einen Kraftraum eingerichtet. Nach Feierabend kommen die Arbeiter und Bauern, um Gewichte zu stemmen, knurrend, keuchend und krebsrot. Den ausrangierten Fahrersitz eines Busses haben sie zu einer Beinpresse umgeschweißt. Bei ausdauernder Benutzung lässt das Gerät Oberschenkel aussehen wie überdüngte Flaschenkürbisse. Es riecht nach Kampfer, nach Eisen und nach Schweiß. Und wenn Peter Butze das Wort dreißig Jahre später ausspricht - Kraftraum - dann klingt das nicht nach Muckibude, sondern nach Kirche.

Körperkult im Klassenkampf: Peter Butze trägt seine Gabi auf Händen, auch beim Privatauftritt im Haus des mächtigen DDR-Funktionärs Günter Mittag. (Foto: Kristin Schmidt)

Wer fragt, was gut war in der DDR, wird nach Schulsystem und Sekt irgendwann auf den Sport zu sprechen kommen. Auf den Boxer Wolfgang Behrendt, der 1956 das erste Olympiagold von Melbourne nach Berlin-Weißensee holte. Auf Jürgen Sparwassers Siegtor gegen die BRD bei der Fußballweltmeisterschaft 1974. Auf die Friedensfahrt und Schwimmerinnen, deren Jubelarien auffallend oft im Bariton erklangen.

Abseits der Kaderschmieden jedoch, auf Dachböden, in Hühnerställen und Postkellern, gedieh eine Sportart, die dem durchschnittlichen DDR-Bürger lange unbekannt und den meisten Parteiobersten nicht geheuer war: das Bodybuilding. In provisorischen Krafträumen begannen Männer und Frauen, sich zu stählen. Nicht um dem Sozialismus zu dienen, sondern um am eigenen Körper zu arbeiten. Nicht nach Plan, sondern einer privaten Ästhetik folgend. Und weil das alles bedenklich nach westlicher Dekadenz klang, wurde ein unbedenklicher Name für diese Bewegung gefunden: Körperkulturistik. Menschen wie Peter Butze hießen Kulturisten. Das klang nach nacktbadenden Bombenbauern, aber immerhin nicht englisch.

Wer also mehr wissen will über die Zeit, in der ein Klimmzug ein klandestiner Akt sein konnte, der muss in die Stadt reisen, die heute wieder Chemnitz heißt. Wo früher die Post war, ist heute eine Galerie. Drumherum wuchern McFit und McDonald's in einträglicher Symbiose.

Das Ehepaar Butze wohnt etwas außerhalb, ein verwinkeltes Einfamilienhaus auf einer Anhöhe. Seit das ZDF im Jahr 2001 die Doku "Die Schwarzeneggers von Chemnitz" sendete, sind sie ein bisschen berühmt in der Stadt. In dem Film zwickt Gabriele Butze ihren Mann zärtlich in den Bauch und sagt: "Das muss noch weg."

(Foto: Kristin Schmidt)

Es ist gut, wenn Eheleute ein Hobby teilen, heißt es. Die Butzes teilen die Idee davon, wann ein Körper schön ist, sie teilen Kalorien, und den Winter über teilen sie das Innere eines Ford Majestic Wohnmobils. Man kann eine Stadt wie Chemnitz leichter lieben, wenn man Postkarten aus Palm Springs schickt.

Peter Butzes Leben füllt neun Ordner. Die Urkunde für den stärksten Pionier, Trainingspläne - Nackendrücken, Wadenheben, Parallelziehen - in seiner Stasiakte hat er einen Satz markiert: "Seinem Hobby ordnet Butze alles unter." Er ist nicht der Einzige. 1983 schätzt eine DDR-Jugendzeitschrift unter der Überschrift "Machen Muskeln einen Mann?" die Zahl der Kulturisten im Land auf 10 000. Sie dürfen sich untereinander messen, aber nicht zu Europa- oder Weltmeisterschaften fahren. Ihre Disziplin wird geduldet, als Mutation des Heldensports Gewichtheben.

Aber wie das so ist mit Mutanten, Freaks und allem, was absonderlich ist - man schüttelt sich und schaut doch gern. Die Ingenieure Peter und Gabriele Butze wissen diese menschliche Mechanik für sich zu nutzen: Sie kündigen ihre Jobs und beantragten eine Artistenlizenz bei der staatlichen Kommission für Unterhaltungskunst. Als "Duo Shape" touren sie durch das Land, sind die ersten und einzigen Kulturisten in der DDR, die ausschließlich mit Auftritten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Sie zeigen ihre Muskeln an der Erdöltrasse Druschba vor besoffenen Schichtarbeitern, bei Sportempfängen vor Katarina Witt. Sie schrauben eine Acrylplatte auf einen Waschmaschinenmotor und nennen es drehbares Podest. Die Autogrammkarten von damals zeigen zwei glänzende Geschöpfe, Schnauzer und Minipli, Römersandalen und Goldbikini. Karl-Marx-Stadt meets Caligula. "Waren wir Stars?", fragt Peter Butze seine Gabi. "Wir waren im Fernsehen", sagt sie.

(Foto: Kristin Schmidt)

Es gibt Aufzeichnungen dieser Sendungen. In einer trägt Peter Butze einen schwarzen Dreiteiler, dessen Nähte er zu sprengen droht, wie der Hulk, wenn er wütend wird. Nur ist Peter Butze ja das Gegenteil vom Hulk. Wenn ihm etwas gegen den Strich geht, wird er ganz still und presst die Lippen aufeinander, sodass ein Zittern durch den Schnauzer geht. Im Fernsehen hat Butze meist seinen selbstgebauten Expander dabei. Neun Federn, jede wiegt zwölf Kilo. Das Publikum kann nicht genug bekommen von diesem Folterinstrument, es ist immer dasselbe Spiel: Zwei Erwachsene versuchen, die Federn zu spannen und schaffen es nicht. Dann kommt Butze und zieht das Ding auseinander wie eine Papiergirlande. Die Menge johlt.

Große Anstrengungen, das weiß jeder, der mal Sport getrieben hat, können zu kleinen Rissen in den Muskelfasern führen. Mikrotraumata nennen Sportwissenschaftler das. Der Schmerz setzt nicht sofort ein, erst Tage später spürt man das Ziehen in den Gliedern: Muskelkater. Peter Butze hat sich in seinem Leben oft angestrengt, nicht nur Gewichte gestemmt, sondern hin und wieder auch sich selbst - gegen die Verhältnisse. Er ist nie in der SED gewesen und keiner, der Transparente pinselt oder eine Kerze trägt. Aber er verlässt den Raum, wenn man ihm etwas vorschreiben will. In einem Land, in dem Sport nie nur Sport, sondern immer auch Politik ist, kann jeder falschen Bewegung ein Trauma folgen. Eine Zeit lang ist die Staatssicherheit überzeugt, dass Peter Butze ein Militärspion ist. Sie fotografiert, verhört, notiert. Am Ende ist es, wie so vieles in der DDR, ein Missverständnis, die Folge einer Namensverwechslung. Aber als Peter Butze Jahre später seine Akte liest, da schmerzt es. "Wir wollten doch nur unser Ding machen", sagt er. Es gehört zu den Widersprüchlichkeiten dieser Geschichte, dass ausgerechnet ein hoher Genosse diesen Wunsch teilte.

(Foto: Kristin Schmidt)

Eines ihrer Engagements führt das Duo Shape an die Ostseeküste, an den Rand eines Kiefernwaldes. Peter Butze lenkt seinen Polski Fiat bis zu einem Schlagbaum, an dem Uniformierte warten. Dahinter liegt das Anwesen von Günter Mittag, Wirtschaftslenker der DDR. Man muss sich dieses David-Lynch-artige Szenario vorstellen: Mittag, damals schon so schwer zuckerkrank, dass man ihm beide Unterschenkel amputieren musste, hat einen Ziegelkamin, der aussieht, als könnte jeden Augenblick der Weihnachtsmann in einer Rußwolke ins Wohnzimmer plumpsen. Davor posiert Peter Butze in knappem Slip, um den Hals eine Gabi-Stola. Mittag, der Versehrte, holt sich gern makellose Körper nach Hause, und irgendwann an diesem Abend macht er ein Foto mit einer Polaroidkamera. Das Foto ist jetzt in Peter Butzes Ordner. Artefakt aus einer Zeit, in der Butzes und Bonzen ein Gedanke einte: Der Mensch ist formbar.

Ein passabler Schlusssatz wäre das, aber die Butzes haben so ihre Probleme mit dem Schlussmachen. Beide um die 70, trainieren sie noch dreimal die Woche. Zweimal haben sie sich geheiratet, einmal in der Garden of Love Chapel in Las Vegas. Und nun wollen sie auch noch dorthin, wo das Herz der Kulturistik besonders kräftig pumpte. Wie es sich für eine echte DDR-Geschichte gehört, muss man dafür eine Grenze überqueren.

Zwei Stunden sind es mit dem Auto von Chemnitz nach Marienbad, dem berühmten tschechischen Kurort. Peter Butze hat auf diesen Ausflug bestanden. "Man muss da gewesen sein", sagt er, Rücken gerade, den Straßenatlas unter den Arm geklemmt. Wenn der Keller unter der Post seine Kirche gewesen ist, muss das hier eine Wallfahrt sein.

(Foto: Kristin Schmidt)

Die Straße windet sich durchs Vogtland, links die Rossschlächterei, rechts Reklame für den jährlichen Traktorentag. Irgendwann tauchen die kaisergelben Fassaden auf, bröckelnd, aber noch immer umweht von einem Hauch Belle Époque. Es gibt einen Brunnen in Marienbad, zur ungeraden Stunde spuckt er Fontänen zu Hits von Céline Dion. Ein paar Schritte weiter kann man aus verschiedenen Heilquellen trinken und auf verschiedene Weisen das Gesicht verziehen. Mark Twain war hier, Goethe auch. Und Muskelmenschen aus aller Welt.

In den 70er- und 80er-Jahren war die Stadt Austragungsort des Sandow-Turniers, ein wichtiger Wettbewerb der Szene. Namenspate: Eugen Sandow. Im scheidenden 19. Jahrhundert soll der gut gebaute Jüngling die Idee des Bodybuildings in die europäischen Metropolen getragen haben. Gerüchteweise starb er an einer Hirnblutung, erlitten, als er ein Auto hochstemmte, um ein eingeklemmtes Kind zu retten. So viel zum Thema Heldensport.

Ins Bruderland Tschechoslowakei dürfen auch die DDR-Kulturisten reisen. Auf der Flaniermeile hört man Fränkisch, Sächsisch, Schwäbisch. Ein Wochenende lang ist die deutsche Teilung aufgehoben. Die Butzes treffen Fabelwesen wie Ed Corney, einen Hawaiianer mit schwarzen Augen und schlohweißem Haar, den alle nur "den Hexer" nennen. Sie freunden sich mit Robert Dantlinger an. Der tschechische Bodybuildingstar arbeitet als Hausmeister und sieht aus wie Burt Reynolds, der in einen Kessel Zaubertrank gefallen ist. Gemeinsam löffeln sie Magerquark aus einer Schüssel, schauen "Conan der Babar" und leiden durch finale Trainingseinheiten.

Siegerpokale des Sandow-Turniers, dem bekanntesten Wettkampf für Kraftsportler zu DDR-Zeiten, erinnern das Ehepaar an die gewichtigen Zeiten. (Foto: Kristin Schmidt)

Ob Ost, ob West - die Geschichte des Bodybuildings ist eine Passionsgeschichte. Selbst die Ehrlichen halten in Wettkampfphasen streng Diät oder manipulieren ihren Wasserhaushalt. Eine Möglichkeit der Vorbereitung geht so: drei Tage literweise trinken. Dann zwei Tage fast gar nichts, damit der noch auf Pinkeln programmierte Körper die letzten Flüssigkeitsdepots angreift, Sehnen und Muskelstränge stärker hervortreten. Wenn sie auf der Bühne unsichtbare Findlinge herumwuchten, sind die Athleten im wahrsten Sinne des Wortes dünnhäutig. Die Zunge trocken wie ein Fensterleder, giert der Körper nach Kohlenhydraten. Das Lächeln von Bodybuildern sieht im Scheinwerferlicht aus wie eine Grimasse des Schmerzes, weil es so ist.

Das Sandow Gym ist klein, holzvertäfelt und mit Teppich ausgelegt. In einer Vitrine stehen Kräutersalben und an der Wand ein Spruch: Train hard and believe. Hier sind die Butzes am Ziel ihrer Reise, hier haben sie geschwitzt mit all den anderen Proportionsprofis, bei Tageslicht und auf Augenhöhe. Heute ist hier nur noch wenig Betrieb. Im Neubau nebenan sind die Geräte moderner, es gibt eine Sauna und eine Eiweißbar.

Ein einzelner junger Mann hängt an einer Klimmzugstange, um seine Hüfte hängt eine Eisenkette, an der Eisenkette hängt ein Gewicht, groß wie ein Traktorreifen. Aus den Lautsprechern röhren die Misfits , "Die Die My Darling", in Endlosschleife. Die Butzes stehen inmitten des Raumes, schauen zu bei dieser absonderlichen Übung, die sich anlässt wie eine mittelalterliche Vierteilung. Sie halten sich an den Händen.

Heute sind die beiden ergraut - aber die Kleidergröße ist noch dieselbe. (Foto: Kristin Schmidt)

Das kennen vielleicht nur Menschen, die ein Hobby haben und die Ahnung, dass das Wort Hobby viel zu klein ist. Das Gefühl, einen Raum zu betreten und kein Sonderling mehr zu sein, sondern unter seinesgleichen. Unter Leuten, die wissen, was Dips, Pushdowns und Curls sind, wie man Bräunungscreme aufträgt, damit das Muskelrelief besser zur Geltung kommt, und dass es in einer Mangelwirtschaft auch Schuhcreme oder Holzbeize tun.

Es mag dieses Gefühl gewesen sein oder nur der Wunsch, nicht mehr in den Keller oder durch Grenzkontrollen zu müssen, um ihr Ding zu machen. 1990, am Tag der Währungsreform jedenfalls, eröffnen die Butzes in Chemnitz ein eigenes Studio. Es ist eines der ersten in den neuen Bundesländern. In der "Fitness-Oase" hängen Poster von einladend ausladenden Frauenhintern, am Eingang steht eine Plastikpalme und bald auch die Chemnitzer Jugend: schmale Typen in Bomberjacke, die Türsteher werden wollen, geliebt vielleicht, vor allem aber groß und stark. Peter Butze fragte nicht nach Motiven, nach Politik schon gar nicht. Er hatte nur eine Regel: keine Pillen.

Butze sagt, wer seinen Körper respektiert, respektiert auch seine Grenze. Doch seit es die zwischen Ost und West nicht mehr gibt, scheint so ein Satz nichts mehr wert. Bei der Wahl zum Mr. Olympia posen heute Zwanzigjährige mit Schultern wie ein Bergmassiv. "Am Ende ihrer Karriere können die nicht mal mehr das Salz über den Tisch reichen", sagt Butze. Nur schützt auch Magerquark nicht vor Verschleiß. Butzes Bilanz: Leistenbruch, Trizeps abgerissen, zwei Bandscheibenoperationen. Seine Wirbelsäule wird nur durch Muskeln gestützt. Die Wahrheit ist: Er kann gar nicht aufhören zu trainieren, muss weitermachen, immer weiter.

Nun liegt er also wieder hier, auf dieser Bank, bereit zum Drücken, im Sandow-Gym, bester aller Orte. Seine Frau steht am Kopfende, bereit einzugreifen, wenn er schwächelt. Don't cry to me, oh baby . Peter Butze strengt sich an, wie er sich am liebsten anstrengt. Kurz ruht das Gewicht auf seiner Brust, dann stößt er es von sich.

© SZ vom 08.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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