Great Wall Marathon:Mit dem Kopf gegen die Wand

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Beim Marathon auf der Chinesischen Mauer nehmen die Läufer 4000 Stufen zur Erkenntnis.

Jochen Temsch

Irgendwo zwischen der 3223. und der 3654.Stufe lassen die Läufer ihre Hemmungen fallen. Die Schmerzen in den Beinen sind groß, die Stiegen hoch, die Steigungen steil. Bei jedem Schritt stöhnen die Erschöpften auf. Ihre Gesichter sind von dicken Salzkrusten gezeichnet, die der Schweiß hinterlassen hat.

Knapp 4000 Stufen müssen beim Great Wall Marathon überwunden werden. (Foto: Foto: Jochen Temsch)

Für die grandiose Aussicht auf eine Schlucht und auf bewaldetes Gebirge hat nach fünf Stunden Rennerei kaum mehr jemand die Nerven. Einige fluchen, halb im Spaß. Manche lachen irr. Andere kämpfen im Freistil gegen drohende Wadenkrämpfe: Sie staksen rückwärts die Treppen hinunter oder versuchen es seitwärts nach oben.

Die ganz Geschafften, denen gar nichts mehr peinlich ist, lassen sich auf Hände und Knie nieder und kriechen so demütig über die steinernen Schwellen, als näherten sie sich einem grausamen Kaiser der Ming-Dynastie mit der Bitte um Steuererlass.

Auf der obersten Stufe thront ein Bauer, raucht filterlose Zigaretten und übertönt das Keuchen der verrückten Langnasen mit lauten Rufen: "Banana, banana! Money, money!"

Die chinesische Sprache ist reich an Sinnsprüchen. Aber nirgendwo sonst kann man so wörtlich gegen eine Mauer laufen wie beim jährlichen Great Wall Marathon auf der Großen Mauer bei Huangyaguan in der Provinz Tianjin, in den Bergen 150 Kilometer nordöstlich von Peking. Mitte Mai hat die neunte Ausgabe dieses Rennens stattgefunden - 42,195 Kilometer ständiges Auf und Ab, über die Mauer, durch Bergdörfer, zum Finale wieder über die Mauer: fast 4000 unterschiedlich breite und teils kniehohe Stufen, tückische An- und Abstiege mit bis zu 300 Höhenmetern, zweimal eine 1400 Jahre alte Passage aus Bruchsteinen an seilgesicherten Abgründen entlang.

"Je heftiger ein Lauf, desto größer das Glück im Ziel"

Es ist unmöglich, in einen lockeren Laufrythmus zu finden. Die Temperaturen steigen auf bis zu 35 Grad Celsius. Und das Schwierigste kommt zum Schluss: eine Direttissima auf einen Felsen, dann der finale Stolperkurs zwischen Zinnen und Alarmfeuertürmen - ausgerechnet ab Kilometer 34, wenn die Kräfte eines Marathoniken ohnehin dramatisch schwinden.

Selbst erfahrene Freizeitsportler gehen mit Respekt an diese Aufgabe heran. Margaret Hagerty aus North Carolina, USA, zum Beispiel. Sie ist 85 Jahre alt und hat 80 Marathons in den Knochen. Das Guinness-Buch der Rekorde führt sie als älteste Frau, die jemals 42,195 Kilometer auf allen sieben Kontinenten gelaufen ist, die Antarktis inklusive. In China absolviert sie immerhin eine Zehn-Kilometer-Runde in gemächlichen 3:14 Stunden - "das Härteste, was ich je gemacht habe", verkündet die zähe Pensionärin hinterher freudestrahlend.

Der Australier Dave Cundy, Renndirektor in Huangyaguan, kennt diese typische Mauer-Euphorie: "Je heftiger ein Lauf, desto größer das Glück im Ziel", sagt er. Insgesamt reizte die Herausforderung dieses Mal rund 1600 Läufer aus 49 Nationen - im Olympiajahr so viele wie nie zuvor.

Bei dieser Selbsterfahrung im Sauseschritt kommen politische Bedenken kaum hinterher. Die chinesische Interpretation der Menschenrechte, das Unrecht in Tibet, das sind nicht gerade Themen, die die Läufer vorrangig beschäftigen. Bei gemeinsamen Mahlzeiten oder Ausflügen drehen sich die Gespräche vor allem um den Bewegungsdrang: Darf man im Restaurant Muräne und Seegurke probieren oder sollte man vor dem Start lieber nichts riskieren? Wie schießt man beim Rennen Fotos, ohne sich die Beine zu brechen? Wird man auf der Mauer gut überholen können?

Diskussionen über öffentliche, kritische Meinungsäußerungen, wie sie manche Athleten Olympias führen, finden nicht statt. Auch nicht bei den Organisatoren. Der dänische Reiseveranstalter Sören Rasmussen hatte die Idee zum Great Wall Marathon "bei zu viel Bier in meiner Küche", wie er sagt. Zehn erfolgreiche Jahre später will er weder seinen von Anfang an kooperativen chinesischen Geschäftspartnern noch der Laufkundschaft den Spaß verderben.

Da ist etwa der australische Sportlehrer, der auf der Mauer für den Triathlon im deutschen Roth trainiert. Da sind zwei betuchte Mädchen aus Südafrika, die sich einen ausgefallenen Schauplatz für ihre Marathon-Premiere ausgesucht haben. Die Mitglieder eines Lauftreffs aus einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein, die öfters mal exotische Wettbewerbe anpeilen. Und da ist der dänische Unternehmer Henrik Brandt, der bei jedem der neun Marathons dabei war.

Zum ersten Lauf reiste er als Begleitung seiner Frau an, schrieb sich nur gaghalber zum Start ein, weil er das Souvenir-T-Shirt haben wollte, kam tatsächlich über die Runden und beschloss, noch einmal ernsthaft anzutreten. Beim zweiten Mal bekam er so heftige Blasen, dass er kilometerweit barfuß laufen musste. Für das letzte Mauerstück lieh ihm ein Zuschauer Badeschlappen. Nach diesem Grenzerlebnis ließ er keinen Great Wall Marathon mehr aus.

Er sagt: "Eines Tages wird mich die Mauer wohl umbringen. Aber ich kann nicht aufhören, ich liebe dieses Rennen." Bei der Abschluss-Gala in Peking trägt er seine neun Finisher-Medaillen so stolz am Jackett wie ein russischer Weltkriegsveteran seine Orden. An diesem Abend spricht der Sieger und neue Mauer-Rekordhalter, der 3:18:48 Stunden schnelle Mexikaner Romualdo Sanchez Garita, auch dem langsamsten Läufer aus dem Herzen: "Ein Traum ging in Erfüllung."

Nummern statt Namen

Nur hin und wieder zeigt sich den Besuchern die Albtraumseite ihres Gastlandes. Zum Beispiel, wenn sie in einen der apokalyptischen Staus geraten, die 17 Millionen Pekinger produzieren. Oder wenn sie vergeblich ein Stück blauen Himmels suchen. Die Sonne dringt an manchen Tagen nur als Schemen durch die stinkende Schicht aus Smog und Sand der nahen Wüste Gobi. Über den Autos liegt ein Schmutzfilm. Mit den Taxifahrern feilscht man, indem man seine Preisvorstellungen mit dem Finger aufs Wagendach malt.

Ein Vorbild der Hobbyläufer, Marathon-Weltmeister Haile Gebrselassie, hat aus Angst um seine Gesundheit die Teilnahme an den Pekinger Spielen abgesagt. Viele Einheimische gehen nur mit Schutzmasken auf die Straße und verbreiten so eine Alarmstimmung im Stil von Seuchenfilmen wie "Outbreak".

Vollends gruselig wird es auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wo kolonnenweise angetretene Arbeiter auf ihren Knien Kaugummis vom Pflaster kratzen, wo auffällig unauffällige Zivilpolizisten die Leute mustern und die linientreue chinesische Reiseleiterin kritischen Nachfragen zum Massaker von 1989 mit einstudierten Sprüchen ausweicht.

Im Hotel gibt es dann noch eine Einführung in kommunistische Gastfreundlichkeit. Individuelle Nachfragen an der Rezeption sind nicht erwünscht, man soll sich an die Reiseleiterin wenden. Die Angestellten führen die Gäste nicht mit Namen, nur als Nummern. Und als sich eine Läuferin in der Lobby zu ihrem Mann auf eine Sessellehne setzt, stürmt sofort ein Sicherheitsmann herbei und verscheucht sie in scharfem Ton. Lehnensitzen verboten!

Sträußchen aus frisch gerupften Feldblumen

Sympathischer zeigen sich die chinesischen Repräsentanten vor dem Start des Marathons in Huangyaguan - für die örtliche KP-Führung eine prestigeträchtige Sache. Ein halbes Dutzend Honoratioren in schwarzen Anzügen hält feierlich lange Ansprachen. Die Läufer scharren ungeduldig mit den Gummisohlen. Ihre aufgeregten Unterhaltungen verstummen erst, als John Zhang vom Roten Kreuz ans Mikro tritt und an die Opfer des Erdbebens in Sichuan erinnert. Später wird er sich stundenlang an eine Geldsammelbox stellen und sich vor jedem Spender tief verbeugen. In einer Gedenkminute verstummen alle. Plötzlich ist es so still, dass man erstmals die Vögel in den Bergen zwitschern hört. Dann der Startschuss - ein Gänsehautmoment - und die Mauer.

Das etwa 7000 Kilometer lange Bollwerk reicht mit seinen Anfängen bis ins 5. Jahrhundert vor Christus zurück. Die zum Bau abkommandierten Massen schufteten sich daran tot. Wer umfiel, wurde angeblich gleich eingemauert. Heute symbolisiert der Wall gleichermaßen nationale Stärke wie eine überkommene Politik der Abschottung. Der Marathon ist ein Beitrag zur Öffnung.

In den Bergdörfern herrscht große Aufregung angesichts der verschwitzten Fremden, die hier quasi mitten durch die Wohnzimmer hasten. Ganze Schulklassen jubeln ihnen zu. Kinder halten ihre schmutzverklebten Hände zum Abklatschen hin und testen englische Wortfetzen: "hello", "welcome to China".

Sie schenken Sträußchen aus frisch gerupften Feldblumen, die manche Läufer gerührt bis über die Ziellinie tragen. Am Ende sind es diese ergreifenden Szenen, die viel stärker haften bleiben als das steinerne Gebilde. Es sind diese Gesten und Begegnungen - kleine Siege über die Mauern im Kopf.

© SZ vom 05.06.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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