Gleichberechtigung:Diskriminierung ist Alltag - auch zehn Jahre nach dem Anti-Diskriminierungsgesetz

Intrumentaltherapie für Kinder mit ICP in München, 2016

Bei den eingegangenen Beschwerden ist Behinderung der am häufigsten genannte Grund für Diskriminierung.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

15 000 Beschwerden sind beim Bund eingegangen, seit das Gesetz 2006 eingeführt wurde - Tendenz steigend. Kritiker bemängeln die hohen Hürden für eine Klage und fordern eine Reform.

Von Constanze von Bullion , Berlin

Hautfarbe oder Herkunft, Geschlecht, Lebensalter oder Behinderung: Fast jeder dritte Mensch in Deutschland fühlte sich in den vergangenen zwei Jahren schon einmal aus einem dieser Gründe diskriminiert. Allein bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gingen seit 2006 Jahren mehr 15 000 Beschwerden ein, Tendenz steigend.

"Es gibt weiterhin vielfältige Benachteiligungen", sagte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders, in Berlin. Dort stellte sie eine Evaluierung des Anti-Diskriminierungsgesetzes vor, das vor zehn Jahren eingeführt wurde. Das Bewusstsein für Benachteiligung sei seither erheblich gewachsen, so Lüders. "Wir sehen aber auch, dass Diskriminierung immer noch Alltag ist und wohl wieder zunehmen wird." Das Gesetz müsse reformiert werden.

Angst vor dem "bürokratischen Monster"

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das die Große Koalition 2006 auf Druck der EU und des Europäischen Gerichtshofs einführte, soll Benachteiligung aus Gründen der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der Religion oder der sexuellen Identität einschränken und verfolgbar machen. Es gilt nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Zivilrecht, etwa bei der Anmietung einer Wohnung durch eine muslimische Familie, beim Restaurantbesuch von Eltern mit einem behinderten Kind oder bei der Buchung eines Hotelzimmers durch ein schwules Paar.

Vor der Einführung des Gesetzes gab es erbitterten politischen Streit. Die Wirtschaft warnte vor zusätzlichen Kosten von 1,73 Milliarden Euro pro Jahr. Juristen befürchteten eine Klagewelle, andere sahen ein "bürokratisches Monster" kommen. Der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand, der Bundestagsabgeordnete Michael Fuchs (CDU), befürchtete den Missbrauch des Gesetzes: Anhänger der Scientology-Kirche oder der NPD könnten sich in Betriebe einklagen. Bundespräsident Horst Köhler zögerte, das Gesetz zu unterschreiben.

Die Warnungen erinnerten teilweise an die aktuellen Auseinandersetzungen ums Entgeltgleichheitsgesetz und hätten sich als unberechtigt erwiesen, sagte die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Lüders. Vielmehr sehe sie bestätigt, was 2006 Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) vorausgesagt habe: dass Toleranz sich zwar nicht verordnen lasse, der Staat aber deutlich machen könne, dass er Intoleranz missbillige und Möglichkeiten schaffe, dagegen vorzugehen.

"Klar geächtet und zunehmend offen thematisiert"

Wie viele Menschen seither in Deutschland gegen Diskriminierung geklagt haben, ist nicht bekannt. Bei den 15 000 Beschwerden, die in den letzten zehn Jahren die Antidiskriminierungsstelle des Bundes registrierte, dürfte es sich nur um einen Ausschnitt handeln. In 27 Prozent der Fälle ging es hier um Behinderung, bei 23 Prozent um ethnische Herkunft oder Geschlecht, bei 20 Prozent ums Lebensalter. Rund fünf Prozent monierten, sie seien wegen ihrer Religion oder ihrer sexuellen Identität benachteiligt wurden. Insgesamt sagten in Umfragen 31 Prozent der befragten Bürger in Deutschland, sei seien in den vergangenen zwei Jahren diskriminiert worden.

Auch wenn Benachteiligung nicht verschwunden sei, werde sie heute "klar geächtet und zunehmend offen thematisiert", so Lüders. Das Gesetz sei ein "Meilenstein". Wer etwa eine Muslimin mit Kopftuch - wie geschehen - nicht zum Bewerbungsgespräch einlade mit der Begründung, eine Zahnarztpraxis sei "weltanschaulich neutral", habe ein Problem - und nicht selten eine Klage am Hals. Dennoch seien die Hürden, vor Gericht zu gehen, noch zu hoch. "Wir müssen es den Betroffenen deutlich leichter machen, gegen Diskriminierung vorzugehen."

"Die Vorschläge gehören nicht ins Bundesgesetzblatt - sondern in den Papierkorb."

Da in Deutschland eine privatrechtliche Regelung gelte, müssten Geschädigte sich selbst um die Durchsetzung ihrer Rechte kümmern, sagte Alexander Klose vom Büro für Recht und Wissenschaft Berlin, das das Gesetz evaluiert hat. Oft verhindere die Angst, einen Job oder eine Wohnung zu verlieren, eine Klage. Hier bleibe das deutsche Recht hinter dem europäischen zurück. Nötig sei ein Verbandsklagerecht, das es qualifizierten Verbänden ermögliche, die Rechte Einzelner vor Gericht wahrzunehmen, ähnlich wie Verbraucherschutzzentralen.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) wies die Forderungen zurück. "Gelebte Vielfalt und Toleranz gehören zur DNA der Unternehmen - dafür braucht es keine neuen Vorschriften", erklärte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter. "Die Vorschläge aus dem verzerrenden Evaluationsbericht gehören nicht ins Bundesgesetzblatt - sondern in den Papierkorb."

Der CDU-Abgeordnete Fuchs dagegen, der das Gesetz vor der Einführung so scharf kritisiert hatte, hat sich inzwischen damit angefreundet. Das Gesetz habe sich in den vergangenen zehn Jahren bewährt, sagte er im ARD-Morgenmagazin. Verbandsklagen möchte er allerdings nicht sehen: "Ich bin dagegen, dass wir eine Art Sittenpolizei in Deutschland aufbauen." Wenn jemand Recht suche, könne er zu einem Anwalt gehen und klagen.

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