Glaubensbekenntnis:Hamed Abdel-Samad

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Der Politologe und Autor findet, dass Religion stets nach dem gleichen Muster funktioniert: Gott ist nicht da, sondern fehlt uns nur.

Protokoll von Julia Rothhaas

Als Kind hatte ich eine Katze. Ich hielt sie für Gott: Sie war wunderschön, wirkte allwissend, und wann immer ich bedrückt war, guckte ich in ihre Augen - schon ging es mir besser. Eines Tages war sie verschwunden. Ich suchte überall und stellte ihr jeden Tag Futter in den Hof unseres Hauses. Auch, als ich längst erkannt hatte, dass sie nicht mehr zurückkehren würde. Dieses Ritual half mir, mit ihrem Verlust zurechtzukommen.

Ich glaube, Religion funktioniert nach dem gleichen Muster: Gott ist nicht wirklich da, er fehlt uns nur. Um seine Abwesenheit zu ertragen, bauen wir ihm Tempel, Kirchen und Moscheen und halten an bestimmten Ritualen fest, damit wir nicht die Hoffnung verlieren, dass er doch noch irgendwann auftauchen könnte.

Mein Vater war Imam, ich bin also sehr religiös aufgewachsen. Aber ich bin ein geborener Individualist und habe mich schon als Kind in diesem Kollektiv fremd gefühlt. Mich bedrückte vor allem die Idee der sozialen Kontrolle und dass mich Gott 24 Stunden am Tag intensiv beobachtet. Das führte automatisch zu einem schlechten Gewissen. Mit Eintreten der Sexualität änderte sich mein Verhältnis zur Religion. Die Hölle, das ist ja nicht die Religion an sich, sondern die Anforderungen, die nicht zu erfüllen sind. Wer seine Sexualität auslebt, verstößt damit gegen diese Anforderungen. Das ist schizophren. Sollte es Gott geben, müsste er eigentlich der Erste sein, der meine Natur versteht und mich nicht für mich bestraft. Denn die Idee der Sünde führt automatisch zu einer noch größeren Sünde: der Heuchelei.

Zu den größten Leistungen in meinem Leben zähle ich, dass ich mich von diesem schlechten Gewissen befreien konnte. Das war ein langer, schmerzhafter Weg. Ich war 23, als ich nach Deutschland kam, dort wollte ich in Freiheit leben. Aber ich wusste nicht, wie man mit dieser Freiheit umgehen soll. Das betraf nicht nur mich, sondern alle jungen Menschen, die ich kannte. Ich schloss mich einer Gruppe von Muslimen an, die versuchten, mich und andere zu missionieren. Das hat so lange geklappt, bis ich bemerkte, dass ich mich im Kreis drehe. Religion ist ja nicht nur eine große Stütze, sondern auch eine Art Gummiband: Je mehr man sich von der Religion entfernt und je länger das Band dadurch wird, desto heftiger ist der Zusammenprall, wenn man zu ihr zurückkehrt.

Ich glaube, dass wir eine Art "Islam light" brauchen. Dazu gehört eine gewisse Distanz zum eigenen Glauben. Die Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, rufe ich nicht zum Atheismus auf, aber man muss ein Mittelmaß finden. In einer modernen Gesellschaft ist es unmöglich, Religion so zu leben, wie das über Jahrhunderte der Fall war. Das schadet nur Generationen von Menschen. Ich glaube nicht, dass Erlösung aus dem Himmel fällt. Oder an große, endgültige Antworten. Aber ich glaube an Fragen, an Selbsterkenntnis, an Vernunft, an die Liebe und an die Macht der Worte.

Hamed Abdel-Samad, 43, ist ein ägyptisch-deutscher Politologe und Autor. Gerade erschien sein Buch "Ein Araber und ein Deutscher müssen reden" (Co-Autor Hans Rath).

© SZ vom 06.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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