Gift-Serie auf Berliner Weihnachtsmärkten:Vergiftete Weihnachtsstimmung

Ein Unbekannter verschenkt mit K.o.-Tropfen versetzten Schnaps auf Berliner Weihnachtsmärkten. Die Polizei kann immer noch nicht sagen, wer hinter den Taten steckt - und ob es sich überhaupt um einen Einzeltäter handelt. Hilflosigkeit macht sich breit, und an den Ständen suchen Händler und Flanierer verzweifelt den letzten Rest von Adventsatmosphäre.

Malte Conradi, Berlin

Lichterketten kämpfen gegen den trüben Himmel, Glockenmusik gegen den Verkehrslärm, die heißen Glühweinkessel gegen die feuchte Kälte, die jedem Besucher nach Minuten in die Knochen steigt. Die Weihnachtsstimmung hat es nicht leicht auf dem Adventsmarkt am Berliner Opernpalais. Auch nicht am Stand von Lydia Karow. "Letztes Jahr hatten wir um diese Zeit Schnee, das fühlte sich ganz anders an", sagt sie.

Gift-Anschlaege auf Weihnachtsmarkt-Besucher

Auf Berliner Weihnachtsmärkten verschenkt ein Unbekannter mit K.o.-Tropfen versetzten Schnaps an junge Frauen.

(Foto: dapd)

Vor allem aber hatten sie im vergangenen Jahr den Giftmischer nicht. So nennt man unter Standbetreibern jenen Unbekannten, der seit vergangenem Mittwoch auf drei Berliner Weihnachtsmärkten mindestens zehn Opfer gefunden hat. Mal drückt er Besuchern kleine Schnapsflaschen in die Hand und behauptet, er wolle auf die Geburt seines Kindes anstoßen, mal stellt er ihnen gefüllte Pappbecher hin. Mal ist er als Weihnachtsmann verkleidet, dann wieder nicht. Immer ist der Schnaps mit K.o.-Tropfen versetzt, die Opfer sind meist junge Frauen. Wer annimmt, leidet unter starker Übelkeit, Desorientierung und Gedächtnisstörungen. Einige Opfer mussten vorübergehend ins Krankenhaus.

Die Berliner Polizei kann bis heute nicht mit Sicherheit sagen, dass es sich um einen einzigen Täter handelt. Die Beschreibungen der Opfer legen das allerdings nahe: 1,80 Meter groß, dunkelblond, etwa 45 Jahre alt - so soll der Mann aussehen. Kein Profil, das im Gedränge Hunderttausender Besucher auffallen würde. Und so ist es nicht unwahrscheinlich, dass hinter der Verschlossenheit des Polizeisprechers Hilflosigkeit steckt: Kein Kommentar zur Zahl der Opfer oder dazu, wie man weitere Anschläge verhindern will. Auch nichts zu möglichen Motiven. Angeblich soll der Täter versucht haben, ein junges Mädchen in seine Wohnung zu locken, nachdem er es vergiftet hatte. Nur eine generelle Warnung an Weihnachtsmarktbesucher hat der Sprecher: Keine Getränke oder Lebensmittel von Fremden annehmen - "so wie man es schon als kleines Kind lernt".

Dasselbe rät auch Lydia Karow ihren Kunden. Schon zwei Mal standen Polizisten vor ihrer Bude und haben sie darum gebeten. Karow macht das nicht ungerne, auch wenn es die Stimmung trübt. Denn sie hat nicht nur ein Faible für Weihnachten sondern auch Geschäftssinn. "Wer weniger unterwegs trinkt, kauft vielleicht mehr bei uns." Merkwürdig findet sie die ganze Sache aber schon: "Die Leute sind doch Profis darin, sich gegenseitig zu beobachten. Und jetzt will keiner was gesehen haben?"

Bei Christine Pabst und ihrem Mann hätte Karow sich ihren Hinweis sparen können. Die beiden sind aus Dresden für ein paar Tage nach Berlin gekommen. Am Mittag gibt es den ersten Glühwein. Mehr noch als über den Täter empören sie sich über die Opfer: "Wer macht denn sowas, Getränke von Fremden annehmen?" Dass die Gefahr überall lauere, sei doch bekannt. "Nicht nur in der Disco."

Im großen Glühweinzelt ist man nicht so abgeklärt. "Eine Riesensauerei" sei das, poltert ein junger Mann, seine Freunde stimmen wortreich zu. Ihr Zungenschlag verrät die Kölner Herkunft und dass die Glühweintassen auf dem Tisch heute nicht die ersten sind. In Köln sei es üblich, Wildfremden Alkohol zu schenken. "Und jetzt wird man dafür komisch angeguckt!" Mit Weihnachten habe das nichts zu tun, nur mit Gemütlichkeit und Fröhlichkeit. Vielleicht sei genau das ja das Problem, mischt sich ein älterer Herr ein. Er habe eben mal durchgezählt: "An jedem vierten Stand gibt es hier was zu saufen."

Joseph Nieke, der Ausrichter des Weihnachtsmarkts, sieht die Verantwortung ganz woanders: Wer die Regel nicht beherzige, von Fremden nichts anzunehmen, sei doch "selber schuld", sagt er. Weihnachtsstimmung in Berlin.

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