Gesellschaftskrankheit:Konsumieren, bis es weh tut

Wenn Menschen zwanghaft immer neue Dinge haben müssen: Erstmals zeigt eine große Studie Ursachen und Folgen der Kaufsucht.

Marten Rolff

Es hat viele Momente gegeben während der vergangenen 30 Jahre, in denen Ulrich Kurz (Name geändert) vielleicht hätte auffallen müssen, was mit seinem Leben nicht stimmt. Leise Alarmsignale, die mit jedem Tag lauter wurden. So laut, dass der 57-Jährige heute sagt, es sei unbegreiflich, wie man das überhaupt verdrängen kann.

Gesellschaftskrankheit: Kaufsucht? Das ist nicht nur eine Macke.

Kaufsucht? Das ist nicht nur eine Macke.

(Foto: Foto: ddp)

Hätte er nichts bemerken müssen, als er das erste Mal in einem Buchladen die Bibliographien von Sachbüchern überflog, mit unruhigen Augen suchend, um sofort sämtliche Titel zu bestellen, die er noch nicht besaß? Hätte er nicht stutzig werden müssen, als er im Fachhandel Bohrer und Zangen kaufte, die er doppelt oder dreifach hatte und vor seiner Familie auf dem Speicher versteckt hielt? Hätte er nicht einknicken müssen, als seine Frau ihn fragte, warum er Bausparverträge aufgelöst und Konten leergeräumt hatte, ohne das mit ihr zu besprechen?

Andererseits: Wie hätte Ulrich Kurz den Punkt erkennen sollen, an dem er eine Grenze übertrat? Den Punkt, an dem seine Einkäufe zwanghaft wurden, an dem er süchtig nach Konsum war? Dass es da überhaupt eine Grenze gab, ist ihm ja erst in der Therapie klar geworden. Nicht in der ersten, sondern in der zweiten. Als ein Arzt, der ihn wegen Depressionen behandelte, vorschlug, ihm seine Kameras wegzunehmen - es waren 70 - und seine Fotos, die er so stolz in der Klinik herumzeigte. Mit dem Vorschlag hatte der Therapeut seine Reaktion testen wollen. Kurz hat sofort Schweißausbrüche bekommen und erhöhten Puls. Und nur ein "Nein!" hervorpressen können, "das geht doch nicht."

"Ich dachte, ich sei glücklich"

Als der Therapeut ihm dann eröffnete, dass er kaufsüchtig ist, war Kurz fassungslos. Natürlich wusste er über Süchte Bescheid; hatte als ausgebildeter Rettungsassistent und Justizvollzugsbeamter Alkoholkranke und Junkies erlebt. Aber Kaufsucht? Diese Macke von einsamen Frauen, die mit flackerndem Blick Geschäfte stürmen, um mit 20 Tüten beladen wieder herauszukommen? Die "120 Paar Schuhe oder 70 Handtaschen kaufen, wo jedem klar ist, dass die keiner braucht"?

Ulrich Kurz hatte sich für einen Mann gehalten, der sich nie so fürs Einkaufen interessierte. Einer, der alles unter Kontrolle hatte und jede Anschaffung plante. Er war stolz, dass er als kleiner Beamter so belesen war; anspruchsvollen Hobbys nachging: Mineralogie, Geologie, Fotografie - der Uli hat Ahnung, sagten Freunde und Kollegen. Und wenn sie ihn foppten, weil er 2500 Sachbücher besaß, alphabetisch geordnet und im Regal millimetergenau auf Kante gestellt, so verzieh er ihnen. Was hätte ihn beunruhigen sollen? "Ich dachte damals, ich sei glücklich."

Medizinisch gesehen ist Ulrich Kurz "ein Prototyp". Das Musterbeispiel eines kaufsüchtigen Mannes, dessen Sucht so gut zu verbergen war, weil er sie lange selbst als positiv, als Zeichen seiner besonderen Kompetenz wahrnehmen konnte. Ein Mann, der sein Selbstwertgefühl dadurch aufwertete, dass er alles über eine neue Kamera oder ein neues Buch wusste, der "seinen Rausch bekam, wenn er merkte, dass ein Verkäufer weniger Ahnung hatte als er selbst", wie Astrid Müller sagt. Müller ist Psychologin an der Universität Erlangen-Nürnberg und hat Ulrich Kurz und 60 weitere Betroffene fast ein Jahr lang analysiert. Es ist die weltweit größte Behandlungsstudie, die je zum Thema Kaufsucht durchgeführt wurde.

Wenn an diesem Dienstag die Ergebnisse vorgestellt werden, wird wieder erstaunlich wenig von Männern die Rede sein, gerade einmal neun haben an der Untersuchung teilgenommen. Weil kaufsüchtige Männer anders als betroffene Frauen so selten den Weg zum Therapeuten finden und kaum in Statistiken auftauchen, wie Astrid Müller erklärt. Aus Scham oder Unwissenheit. Oder weil sie eher vermeintlich Nützliches wie Werkzeug oder Elektrogeräte kaufen und daher glauben, sich normal zu verhalten. Kaufsucht, sagt Müller, werde immer noch bagatellisiert und mit dem Klischee von der frustrierten Unternehmersgattin in Verbindung gebracht. Obwohl eine Studie der Universität Stanford vor zwei Jahren zum ersten Mal zeigen konnte, dass mit 48 Prozent fast genauso viele Männer betroffen sind.

Weiter: Ware horten bis unter die Decke.

Konsumieren, bis es weh tut

Die Erlanger Forscher sehen die Kaufsucht als "eigenes Störungsbild" wie Spielsucht oder Kleptomanie. Ein hochkompliziertes Störungsbild, nur schwer zu diagnostizieren, weil Kaufsucht oft verheimlicht und von Leiden wie Depressionen, Angstzuständen, Essstörungen oder Zwängen begleitet wird. Weil "die Patientengruppe sehr uneinheitlich ist".

Studienleiterin Astrid Müller erzählt von Betroffenen, die keine Gäste empfangen, weil sie in ihrer Wohnung unausgepackte Beute bis unter die Decke stapeln. Von Menschen, die Kaufhäuser durchstreifen und bestellen "wie in Trance und nicht erklären können, wie es passiert". Andere ordern von zu Hause aus, bei Versandhäusern, weil ihr mangelndes Selbstwertgefühl es ihnen unmöglich macht, ein Geschäft zu betreten.

Müller hat Patienten behandelt, die keinem gängigen Bild entsprechen: Heterosexuelle Männer, die Parfüm und Schuhe horten, Frauen, die Elektrogeräte bunkern, Perfektionisten, Verdränger, Phobiker. Gefangen in einem "kulturspezifischen Verhaltensexzess", an dem immer mehr und immer jüngere Menschen beteiligt sind. Menschen, die immer mehr konsumieren, um zu kompensieren; eine Gesellschaft im Kaufrausch.

Ware horten bis unter die Decke

Wir suchen immer wieder ein Mehr an Konsum als ein Mehr als Konsum", lautet ein Spruch, den Ulrich Kurz nie wieder vergessen will. Er hängt gerahmt an der Wand in dem Zimmer, das Kurz vor einigen Jahren in der kleinen Wohnung seiner neuen Lebensgefährtin in einem Vorort von Fürth bezogen hat. Seine zwölf Quadratmeter sind aufgeräumt: Ein Bett, ein Schreibtisch mit Computer, ein paar eigene Naturfotografien an der Wand, wenige Regale mit immer noch akkurat gestellten Büchern. Kurz sitzt auf dem Schreibtischstuhl und erzählt. Ein kleiner, blasser, sorgsam tastender Mann mit leiser Stimme, der auch in seinen Sätzen noch um Präzision ringt, der versucht, nichts auszulassen. Weil jedes noch so schmerzliche Detail zu einer selbstgewählten Ordnung beiträgt; zu einer Ordnung, die sich unterscheiden soll von der, die ihm ein innerer Zwang jahrzehntelang oktroyierte.

Das mit dem Konsum ist verwirrend für Kurz, weil das Wort ja sofort Rausch suggeriert und bei ihm doch gar kein Rausch war, sondern "eher so eine Welle, die sich da aufbaute." Eine, die ihn langsam aber sicher zu jedem neuen Kauf trug. Erst ganz sanft, dann mit Macht. Es begann oft mit Katalogen, die er nach Neuheiten durchforstete. Das konnte eine Kamera sein oder ein Spezialsägeblatt für 800 Mark, das Kurz zwar nie benutzte, aber das man lieber hatte, um für den Fall der Fälle gut sortiert zu sein, schließlich ist er der Enkel eines Werkzeugmachers.

Dann holte er Wissen über das Produkt ein, wägte ab, sprach mit Verkäufern, häufig mehrmals, genoss "dieses Kribbeln", das sich langsam steigerte; solange, bis er ein Produkt in Händen hielt - "dann", sagt Kurz, "war es um mich geschehen".

Dass sich da auf der anderen Seite eine viel größere Welle aufbaute, die schließlich sein ganzes Leben zerschlagen sollte, das hat Kurz erst gemerkt, als sie brach. Er sah nicht, dass das Hochgefühl entwertet wurde, wenn ein neueres Produkt herauskam; er verdrängte das schlechte Gewissen, das ihn in immer kürzeren Abständen jagte, weil er seine Familie belog und Sachen versteckte. Und er ignorierte, dass er sich immer neues Geld leihen musste. Bei Banken, bei Freunden. Geld, das er nie zurückzahlen kann. 100.000 Euro waren es am Ende. Da war seine Ehe kaputt und Kurz bereits schwer depressiv.

Kaufsüchtige Männer begeben sich oft erst in Behandlung, wenn ihr Leben in alle Einzelteile zerfallen ist. Weil Kranksein für sie immer noch tabu ist und Versagen bedeutet. "Wenn sie kommen, sind sie oft schon so sehr in die psychische Problematik verstrickt, dass ihre Heilungschancen schlechter sind als bei Frauen", sagt der Psychiater Michael Musalek. Viele seiner männlichen Patienten kommen nur auf massiven äußeren Druck, wegen Überschuldung, auf Drängen der Familie oder per Gerichtsanordnung, weil ihre Sucht sie kriminell gemacht hat.

Musalek ist Leiter des Anton-Proksch-Instituts in Wien, der größten Suchtklinik Europas. Vor einem Jahr hat der Neurologe die erste Ambulanz für Kaufsüchtige eingerichtet. Auch, weil er einen Anstieg der Fälle beobachtet. Die Zahlen beunruhigen: Nach Schätzungen sind in Deutschland acht bis neun Prozent aller Menschen kaufsüchtig oder akut gefährdet, in Österreich mit knapp acht Prozent fast genau so viele.

2005 habe die Quote für Österreich noch bei fünf bis sechs Prozent gelegen, sagt Musalek; leicht gefährdet sind dem Psychiater zufolge aber viel mehr. Man müsse das Problem als "Krankheit unserer Zeit" begreifen; eine, "die wir selber erschaffen haben". Weil Ware immer und überall verfügbar sei, ob bargeldlos oder auf Pump; weil Ware einen "absurden Symbolwert" erlangt habe. In einer Gesellschaft, in der die soziale Kälte zunimmt und in der Geschäfte "Kaufrausch" oder "Schuhtick" (Slogan : "Besser, sie haben einen!") heißen und Werber "Kaufen, marsch, marsch!" brüllen.

Wie stark Verfügbarkeit und Kaufsucht zusammenhängen, hat bereits der Konsumforscher Gerhard Raab von der Fachhochschule Ludwigshafen nachgewiesen. Mit einer repräsentativen Studie in den neuen Bundesländern, wo sich die Anzahl kaufsuchtgefährdeter Menschen zwischen 1991 und 2001 versechsfachte. Sie stieg von 160000 auf 960000. "Beim Konsum", sagt Raab, "hat die Wiedervereinigung reibungslos funktioniert." Der Wissenschaftler findet, es sei an der Zeit, ein "kompetentes, selbstbestimmtes Kaufverhalten" an den Schulen zu lehren. Weil selbst Unternehmen kein Interesse an Kunden haben könnten, die sich kaputtkaufen. An Leuten, die kaufen, um die Leerstellen in ihrem Leben zu füllen.

"Sie schlagen ihn ja tot!"

Für Ulrich Kurz war es schwer, diese Leerstellen zu erkennen. Zu akzeptieren, dass er die Defizite nie ausgleichen wird, "nicht mit Büchern und nicht mit Fotos", sondern annehmen muss. Dass er sich als Kind nie geliebt fühlte und immer auf der Suche nach Anerkennung war. Weil der Vater nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nur eines verlangte: Dass der Sohn funktionierte. Ein Vater, der den zweijährigen Ulrich so prügelte, um ihn trocken zu kriegen, dass die Nachbarin einschritt: "Sie schlagen ihn ja tot!" Ein Mann, mit dem man sich gleich aufhängen kann, wie die Mutter sagte. Wenn sie nicht zu Hause war, schickte der Vater den Sechsjährigen deshalb auf den Speicher - "nachschauen, ob Mutti da hängt".

Ulrich Kurz flüchtete sich in Hobbies - und in eine frühe Ehe. Mit einer Frau, die so harmoniesüchtig war, dass sie keine gegensätzliche Meinung in Tischgesprächen ertrug. Die ihm bei seiner Sucht daher nie helfen konnte und die bis heute nicht versteht, warum er sie verlassen hat.

Kurz war sechs Jahre in Therapie, bis er das alles formulieren konnte. Nun sagt er, es möge paradox klingen, aber er sei heute so glücklich wie nie zuvor. In einer kleinen Wohnung, mit einer Frau, die er liebt und 50 Euro im Monat zur freien Verfügung. Der Rest der Rente geht für Miete und Schulden drauf. Er staunt immer noch, "wie wenig man braucht". Und er weiß, dass er jederzeit rückfällig werden kann. Kurz wird deshalb nie wieder ein eigenes Konto oder eine eigene Karte haben. Wird Kataloge und Fachgeschäfte immer meiden. "Das ist vorbei", sagt er. Kürzlich hat er eine Selbsthilfegruppe gegründet, um sich sein Problem stets vor Augen zu halten - auf seine Anzeige haben sich ausschließlich Frauen gemeldet.

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