Freiwilligendienst im In- und Ausland:Leben lernen

Idealismus oder Gutmenschentum? Immer mehr junge Leute sehnen sich danach, die andere Seite der Realität kennenzulernen und engagieren sich im In- oder Ausland.

Charlotte Frank

Grenzen, sie kann ihre Geschichte nicht erzählen, ohne das Wort immer wieder hervorzuholen und Grenzen in ihre Sätze einzubauen, dabei ist sie damals doch nur ins Nachbarviertel gegangen. "Ich bin noch nie in meinem Leben so an meine Grenzen gekommen", sagt Birte Weber über ihr soziales Jahr in einem Hamburger Altenheim, sie sagt aber auch, dass sie nie so viele Grenzen zu anderen Menschen abgebaut hat. Musste sie ja - ihre Tage bestanden aus Füttern, Waschen, Windeln. Oft, sagt Birte, war sie darüber grenzenlos unglücklich. So, dass sie alles hinwerfen wollte? Sie schüttelt den Kopf: Dazu hätte sie zu sehr um den Platz gekämpft.

Verkuerzter Zivildienst macht Wohlfahrtsverbaenden zu schaffen

Jugendliche, die sich nach dem Abitur für ein Freiwilliges Soziales Jahr oder den Zivildienst entscheiden, empfinden dies zumeist als äußerst bereichernde Erfahrung.

(Foto: ddp)

Wenn das keine guten Aussichten sind: In Zeiten von Turbo-Abitur und Bachelor-Studium konkurrieren immer noch Zehntausende Jugendliche miteinander darum, wie Birte nach der Schule ein Jahr lang alte Menschen waschen und wickeln zu dürfen. Oder Behinderte. Oder Kranke. Andere machen zwölf Monate Pause, um in Dritte-Welt-Ländern Brunnen zu bohren oder Waisenkinder zu betreuen. Obwohl die Platzzahl im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) kontinuierlich ausgebaut wird, obwohl der Einsatzbereich immer stärker erweitert wurde - von rein sozialen Einrichtungen auf sportliche, kulturelle und Denkmalschutzvereine -, und obwohl das FSJ seit 1993 vom Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ) flankiert wird, übersteigt die Nachfrage das Angebot immer noch um das Zwei- bis Dreifache. Im Jahr 2008 hatten fast 38000 Bewerber Glück, sie bekamen einen FSJ-Platz im Inland. Das sind etwa drei Prozent aller Deutschen zwischen 17 und 27 Jahren. Weitere 7000 bekamen über Programme wie "Weltwärts", "Kulturweit" oder den europäischen Freiwilligendienst eine Stelle im Ausland, 2520 absolvieren ein FÖJ.

Und das ist erst ein Bruchteil der Jugendlichen, die ehrenamtlich aktiv sind. Insgesamt engagieren sich laut Freiwilligensurvey des Familienministeriums regelmäßig 35 Prozent aller jungen Menschen - Mädchen mehr im sozialen und ökologischen Bereich, Jungen eher für Sicherheit und Ordnung im Wohnort. Thomas Rauschenbach, der Leiter des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München, spricht von einem "konstant überdurchschnittlichen Niveau".

Darf Deutschland sich also auf eine neue Generation von Altruisten und Weltverbesserern freuen? Folgt nun eine neue Ära ohne Ellenbogen? Rauschenbach winkt ab: "Das Gutmenschentum ist nicht dominant." Natürlich, sagt er, gehe es den Jugendlichen darum, sich für eine Sache zu engagieren, viele wollten auch im Kleinen etwas bewegen. Doch in erster Linie sei das Engagement ein Weg, sich Freiräume zu verschaffen, da Schule und Alltag diese immer weiter beschnitten. In Verbänden, Vereinen und Initiativen könnten junge Menschen Anerkennung erfahren, die nichts mit Noten und klassischen Qualifikationen zu tun hat. Viele engagierten sich auch einfach aus dem Wunsch heraus, Kontakte zu knüpfen. Der Freiwilligensurvey weist auf ein weiteres wichtiges Motiv hin: 49 Prozent der einsatzfreudigen 14- bis 24-Jährigen sagen: "Ich will Qualifikationen erwerben, die im Leben wichtig sind." Dieser Wunsch ist in der Sondersituation FSJ noch ausgeprägter. "Die fürsorgliche Mentalität mag zwar eine Rolle spielen", sagt Rauschenbach, "aber vielen Schulabgängern dient das Jahr vor allem dazu, herauszufinden, was sie beruflich machen wollen.

" Bei Birte Weber, der FSJlerin aus dem Hamburger Altenheim, war das zum Beispiel so: Sie studiert inzwischen Sozialarbeit. Auch Experten der Träger bestätigen eine pragmatische Herangehensweise der Jugendlichen an die soziale Aufgabe: "Da trifft der altruistische Wunsch, sich zu engagieren, auf den hedonistischen Wunsch, sich zu orientieren", sagt etwa Marion Reinhardt vom Internationalen Bund. Gerade in Zeiten doppelter Abiturjahrgänge und langer Wartezeiten auf Studien- und Ausbildungsplätze erscheine das FSJ vielen als sinnvolle Überbrückung. "Parallel zu ihren Anfragen bei uns bewerben sich junge Menschen oft an Unis oder für Lehrstellen", sagt Reinhardt. "Wenn sie da eine Zusage kriegen, hat das für sie meist Priorität."

Wahrscheinlich ist mit diesem Verhalten am besten umschrieben, was in der Shell-Jugendstudie gemeint ist, wenn die Autoren von "pragmatischen Idealisten" schreiben. Pragmatische Idealisten, darunter fassen die Autoren immerhin ein Viertel der Jugend zusammen, setzen sich ganz selbstverständlich für gesellschaftliche Anliegen und andere Menschen ein, ohne dabei den Leistungs- und Wettbewerbsgedanken zu verteufeln - und meist ohne politischen Hintergedanken. Wenn heute ein Jugendlicher ins Ausland geht, hat das also nichts mehr mit dem idealistischen Gebaren deutscher Nachkriegskinder zu tun, die in israelische Kibbuzim fuhren, um dort Wiedergutmachung für die Verbrechen ihrer Eltern zu leisten. Es hat auch nichts mehr von den kämpferischen Nach-68ern, die nach Südamerika aufbrachen, um an der Seite linker Sandinisten in Nicaragua Kaffee zu pflücken. Es hat, sagt DJI-Leiter Rauschenbach, nicht mal etwas von den leidenschaftlichen Wertedebatten der friedens-, frauen- und ökobewegten 70er und 80er Jahre. "Heute würde kein Jugendlicher mehr euphorisch in ein Land ziehen, nur weil er dessen Politik für gerechter hält", sagt er. Fragt er junge Menschen, ob sie schon einmal an einer Demonstration oder einer illegalen Aktion teilgenommen haben, lautet die Antwort meistens: "Noch nie."

Die kühle Abwägung macht das Engagement aber nicht weniger wertvoll - im Gegenteil. Freiwillige sind für die Sozialverbände zu einer unverzichtbaren Hilfe geworden. 1954, als Jugendliche mit dem Diakonischen Jahr angesichts des Pflegenotstands in Kliniken und Heimen erstmals aufgerufen waren, dem Dienst am Nächsten ein Jahr zu opfern, folgten dem nur ein paar Gutmenschen. Trotzdem erwuchs daraus eine so große Bewegung, dass der Bundestag 1964 das FSJ-Gesetz verabschiedete. Inzwischen, hat DJI-Leiter Rauschenbach ausgerechnet, werden schon mehr Freiwilligen- als Zivildienstmonate in Deutschland geleistet.

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