Fotoprojekt:"Oh mein Gott, ich darf Fahrrad fahren!"

Lesezeit: 16 min

Die Kanadierin Fiona Mortimer hat für ihre Fotoserie "Hidden Portraits" Menschen getroffen, die wie sie als Ausländer in Deutschland leben. Warum sind sie hier - und was für Erinnerungen tragen sie mit sich herum?

Fiona Mortimer stammt aus Kanada und studiert an der Universität Weimar Media Art & Design. Für ihre Serie "Hidden Portraits" hat sie Menschen porträtiert, die wie sie als Ausländer in Deutschland leben. "Ich wollte erfahren, warum sie hierher gekommen sind und mir den Inhalt ihrer Geldbeutel zeigen lassen", sagt Mortimer. Das Portemonnaie sei schließlich ein sehr persönlicher Gegenstand, der auch auf Reisen immer dabei sei. Die meisten Gespräche kamen über Freunde von Freunden zustande. Am Ende zeigten nicht alle Beteiligten ihren Geldbeutel - manche, weil sie keinen besaßen, andere, weil sie den Inhalt ihrer Smartphones persönlicher fanden. Herausgekommen sind Porträts, die einen Einblick in das Leben der Beteiligten erlauben, ohne alles zu erzählen. Betreut wurde das Projekt von SZ-Redakteurin Jessy Asmus in Kooperation mit der Bauhaus-Universität Weimar.

Leonardo Hermel aus Porto Alegre in Brasilien, lebt in Berlin

Vor vielen Generationen ist meine Familie von Deutschland nach Brasilien ausgewandert, eine meiner Urgroßmütter ist möglicherweise auf dem Schiff zur Welt gekommen. Es dauerte damals Monate, den Atlantik zu überqueren. Wir haben uns oft die Frage gestellt, wo sie geboren wurde und ob sie Brasilianerin oder Deutsche ist. Immigranten mussten sich damals bei ihrer Ankunft in Kirchen registrieren, aber über die Jahre wurden viele Dokumente zerstört. Wir wissen daher nichts über die Geschichte unserer Familie. Der einzige mögliche Nachweis, den ich jemals gefunden habe, war eine Liste von Passagieren mit dem Namen "Hermel", die auf einem Schiff aus Sachsen nach Brasilien kamen. Vielleicht ist das ein Hinweis auf meine Herkunft.

Leonardo Hermel weiß wenig über die Herkunft seiner Familie. (Foto: Fiona Mortimer)

Dieses Ding in meiner Brieftasche stammt von einer Reise nach Rivera, was an der Grenze in Uruguay liegt. Leute fahren dorthin, um billige Sachen zu kaufen. Auf der Straße kam eine Frau auf mich zu. Sie wollte fünf Real für ein Paar Socken, also etwa 1,50 Euro. Ich gab ihr zehn Real und erwartete fünf Real Wechselgeld. Doch anstatt mir das Wechselgeld zurückzugeben, begann die Frau, mit mir zu reden und gab mir diesen kleinen Beutel. Ich wusste nicht, was in dem Beutel war, aber sie gab ihn mir direkt in die Hand und sagte: "Du wirst viel Geld verdienen und wenn du hierher zurückkommst, gibst du mir 50 Real."

Ein kleiner Beutel mit einer spannenden Geschichte. (Foto: Fiona Mortimer)

Das war vor fünf Jahren, aber ich erinnere mich immer noch an ihren Namen, Juanita. Ich dachte, es sei verrückt, aber später in diesem Jahr bekam ich tatsächlich einen tollen Job, bei dem ich so viel verdiente, dass ich sogar nach Deutschland reisen konnte. Mein Ziel ist es, irgendwann nach Brasilien zurückzukehren und ihr das Geld zu geben, wenn ich in Rivera bin. Ich weiß, dass sie sich an mich erinnern wird.

Ashley Clark aus Orange County, Kalifornien, in den USA, lebt in Weimar und Berlin

Ich bin Doktorandin und forsche zu Goethe, insbesondere zu Goethes Theater. Ich kann hier Einsicht in Archivmaterial bekommen und dort entlanglaufen, wo Goethe einst unterwegs war. Als Historikerin finde ich, dass man ein besseres Verständnis für eine Person und ihre Gefühle bekommt, wenn man in ihren Fußstapfen laufen kann. Ich bin froh, hier zu sein. Es ist schön, etwas Distanz von den Staaten zu gewinnen, wo nach den Wahlen eine ziemlich verrückte Zeit voller Kontroversen angebrochen ist. Gleichzeitig vermisse ich die Leichtigkeit der Kommunikation zu Hause und meine Familie - es ist schwer, die Entfernung zu ertragen, wenn etwas Dramatisches in deinem Heimatland passiert.

Ashley Clark aus den USA interessiert sich für Goethes Theater. (Foto: Fiona Mortimer)

Ich schätze mich glücklich, schon vor meinem Aufenthalt hier ein gewisses Verständnis für die deutsche Kultur gehabt zu haben. Meine Mutter ist Österreicherin und ich habe einige Zeit in Österreich gelebt. Ich war für ein Austausch-Semester in Göttingen und habe drei Monate an der Humboldt-Universität in Berlin verbracht und recherchiert.

Fotos von Familie und Freunden - von 1944 bis heute. (Foto: Fiona Mortimer)

Das Bild oben links zeigt meine Großeltern. Es wurde in Österreich im Jahr 1944 aufgenommen, sie hatten gerade geheiratet. Meine Oma war damals mit meiner Mutter schwanger. Mein Opa zog in den Krieg, aber kam nie zurück, sodass meine Mutter ihn nie kennenlernen konnte.

Das Bild oben rechts ist von 1959 und zeigt meinen Großvater Keith, der im Oktober gestorben ist. Er war Folk-Musiker und gut mit den Musikern und Aktivisten Pete Seeger und Odetta befreundet. Er half, sie während der McCarthy-Ära in Illinois unterzubringen.

Die zwei Kinder sind mein Bruder und ich. Ich bin etwa eineinhalb Jahre alt. Wir reden nicht sehr oft, aber trotzdem vermisse ich ihn.

Das Bild unten links ist das aktuellste. Es zeigt meine beste Freundin, die wie eine Schwester für mich ist, und ihre kleine Tochter Becca - das erste Kind, das ich wirklich mag. Ich bin wie eine Tante für sie und ich bin traurig, dass ich die Zeit mit ihr verpasse und nicht sehen kann, wie sie aufwächst. Das ist der erste Abschnitt in Beccas Leben, von dem ich kein Teil bin.

Khaliqyar Ahmadi aus der Provinz Panjshir in Afghanistan, lebt in Stuttgart

Mein Portemonnaie ist leer. Ich habe alles verloren, als ich nach Deutschland kam. Das Einzige, das ich habe, ist dieses Foto von mir. Es zeigt, wie ich nach meiner sechsmonatigen Polizeiausbildung in der Türkei eine Rede auf der Absolventenfeier halte. Wenn man in Afghanistan kein Geld hat und auch niemanden bei einer Behörde kennt, kann man keinen guten Job bekommen, höchstens an einem gefährlichen Ort. Das System ist korrupt, ohne Beziehungen gibt es keine Sicherheit. Als ich noch in Afghanistan war, habe ich in Kandahar gearbeitet. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ganz Afghanistan gefährlich ist. Wenn man von einer Provinz in eine andere reist, sind die Straßen voller Aufständischer der Taliban und des IS. Die Polizei ist öfter Zielscheibe von Anschlägen als die Zivilbevölkerung, jeden Tag gibt es dort Tote. Weil die Grenzen in Afghanistan offen sind, können Aufständische aus dem Ausland ins Land gelangen, die oft mächtiger als die Polizei sind. Sie haben bessere Waffen und mehr Einfluss.

Khaliqyar Ahmadi ist froh, in Deutschland in Sicherheit zu sein. (Foto: Fiona Mortimer)

Nachdem ich in Kandahar gearbeitet habe, wollte ich studieren. Seit meiner Kindheit war es mein Ziel, einmal zur Universität zu gehen und Arzt zu werden. Ich versuchte daher, von Kandahar nach Kabul zu ziehen. Aber da meine Familie keine Kontakte zur Justiz hatte, wurde ich nach Farah geschickt, in eine der gefährlichsten Provinzen Afghanistans. Ich bin nach Deutschland gekommen, um in Sicherheit zu sein. Hier kann ich studieren. Ich glaube, dass jeder seine Ziele erreichen kann. Besonders in Deutschland, denn hier ist man in Sicherheit. Ohne Sicherheit können wir weder lernen noch arbeiten, wir können eigentlich gar nichts tun.

Khaliqyars wichtigster Besitz: ein Foto. Alles andere ging auf der Flucht verloren. (Foto: Fiona Mortimer)

Mein nächstes Ziel ist es, Deutsch zu lernen. Ich fürchte, dass ich zurück nach Afghanistan muss, wenn ich kein Deutsch kann. Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um nichts zu tun. Ich bin hierher gekommen, weil ich mir ein sicheres Leben und Arbeit wünsche.

Dana Cohen aus Tel Aviv in Israel, lebt in Berlin

Als Jüdin aus Israel werde ich oft gefragt, wie es ist, hier zu sein, angesichts der deutschen Geschichte. Aber ich genieße mein Leben hier. Mein Studium läuft gut, ich habe tolle Leute getroffen und auch viel von den Deutschen gelernt. Ich verstehe, warum sich junge Deutsche nicht mit dem Holocaust identifizieren. Sie haben schließlich nichts getan. Es ist dasselbe, wie wenn mich Leute mit den Unruhen in Israel in Verbindung bringen. Das war auch nicht ich. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, was vor sich geht. Man muss kein schlechtes Gewissen haben wegen etwas, das man nicht getan hat. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, nichts darüber erfahren zu wollen. Der Holocaust ist ein historisches Ereignis, an das wir uns erinnern müssen - besonders im Angesicht all der Völkermorde, die heute noch geschehen.

Dana Cohen kam von Tel Aviv nach Berlin. (Foto: Fiona Mortimer)

Die Dinge, die ich im Portemonnaie mit mir herumtrage, sind so etwas wie Glücksbringer. Ich sehe sie mir nicht wirklich an, aber es ist schön zu wissen, dass sie da sind. Ich habe diesen Blumensticker, den ich bekam, als ich in Polen war. Er klebte an einer Münze, die eine Polin mir gab. Dann sind da noch diese Blumen, die meine Nichte für mich gemalt hat - hier ist auch ein Bild von ihr. Meine Schwester hat einen Deutschen geheiratet und sie leben jetzt gemeinsam hier. Den Rest meiner Familie bekomme ich nicht viel zu sehen, aber meine Eltern sind stolz auf meine Schwester und mich, weil sie wissen, dass unser Leben hier besser ist als früher.

Danas Glücksbringer: Ein Foto, ein Sticker, von der Nichte gemalte Blumen. (Foto: Fiona Mortimer)

Khalid aus Homs in Syrien, lebt in Stuttgart

Umziehen bedeutet Leben. Wenn wir nicht umziehen würden, blieben wir ewig am selben Ort. Für manche Menschen würde das den Tod bedeuten. Ich kam mit meinem Bruder hierher, weil wir von der Regierung bedroht wurden. Für Männer über 18 ist es in Syrien verpflichtend, Militärdienst zu leisten, aber der Krieg dort ist brutal. Wir haben nur ein Leben und das wollten wir nicht riskieren, weil uns irgendjemand dazu zwingt.

Khalid floh vor dem Krieg in Syrien. (Foto: Fiona Mortimer)

Vor elf Monaten bin ich in Deutschland angekommen. Am Anfang hat es mir nicht gefallen, aber jetzt ist es nicht so schlecht. In diesen Notunterkünften in Containern zu leben, ist manchmal furchtbar. Besonders im Winter und im Sommer kann es unerträglich werden. Gleichzeitig ist es schwer, woanders hinzuziehen. Jeder, der in Deutschland bleiben und arbeiten möchte, muss eine Anhörung hinter sich bringen. Allerdings muss man dafür erst mal einen Termin bei der Behörde ausmachen. Die Wartezeiten sind sehr lang. Ich habe noch keinen Termin bekommen, obwohl ich schon fast ein Jahr hier bin. Manche warten sogar zwei Jahre.

Ich warte noch auf meine Schulzeugnisse. Die brauche ich, damit ich Deutschkurse besuchen kann. Die Bürokratie hier kann so lächerlich sein. Alles ist neu und fremd hier. Die Menschen schauen mich an, als würden sie mich verdächtigen. Ich habe mein Land verlassen, weil es dort gefährlich ist, warum sollte ich das Land in Gefahr bringen, das mir Schutz bietet? Als ich Syrien im vergangenen Februar verließ, habe ich ein Boot nach Griechenland genommen. Man kann sich kaum vorstellen, wie kalt es dort war. Wir bekamen diese Wärmedecken, um uns vor der Kälte zu schützen. Ich habe eine für Notfälle behalten und trage sie in meinem Geldbeutel bei mir. Sie soll mich aber auch daran erinnern, immer weiterzuziehen. Manchmal muss man Gefahren auf sich nehmen, um ein gutes Leben zu haben.

Die Wärmedecke bekam Khalid auf einem Boot nach Griechenland. (Foto: Fiona Mortimer)

Emilio Aguas aus Bogotá in Kolumbien, lebt in Weimar

Es gibt wenig Möglichkeiten, als Künstler in Kolumbien Fuß zu fassen. Also habe ich beschlossen, ein Masterstudium in Deutschland zu beginnen. Es war eine Herausforderung, mich an die Kultur hier zu gewöhnen. Der deutsche Lebensstil unterscheidet sich sehr von dem, den ich aus Lateinamerika gewohnt bin. Die Menschen in Deutschland behandeln mich gut und ich versuche, mich so gut wie möglich dem Leben hier anzupassen, aber trotzdem weiß ich, dass ich nicht komplett hierher passe. Meine Familie ist streng katholisch. Als ich noch ein Kind war, haben mich meine Mutter und Großmutter jede Woche zur Kirche mitgenommen und ich besuchte eine katholische Schule. Deshalb bin ich in dem Glauben aufgewachsen, dass jeder unter dem Schutz der Dreifaltigkeit steht und dass man Hilfe bekommt, wenn man betet.

Emilio Aguas aus Kolumbien macht seinen Master in Deutschland. (Foto: Fiona Mortimer)

Da ich ein Einzelkind war und meine Mutter viel arbeitete, betete sie zum Göttlichen Kind. Im katholischen Glauben erhört das Göttliche Kind all jene, die Hilfe brauchen. 2012 wurde ich sehr krank, sechs Monate lang wusste ich nicht, was ich hatte. Da erinnerte ich mich daran, was meine Großmutter und Mutter mir immer gesagt hatten: Bete zu Jesus. Meine Großmutter liebte mich sehr und gab mir diese Karte, die ich immer in meinem Geldbeutel trage. Ich glaube nicht unbedingt daran, aber irgendwie hat sie mir geholfen, wieder gesund zu werden. Wenn ich sie jetzt anschaue, beruhigt mich diese Erinnerung.

Die Karte trägt Emilio seit seiner Krankheit bei sich. (Foto: Fiona Mortimer)

Sergio Valencia aus Mexiko-Stadt, lebt in Weimar

Vor drei Jahren bin ich nach Deutschland gezogen, um Elektro-Musik zu studieren. Ich hatte bereits in Mexiko angefangen zu studieren und war als Aktivist engagiert. Das ist dort sehr gefährlich, weshalb meine Familie vorschlug, mir ein Auslandsstudium zu finanzieren. Es war das erste Mal, dass ich meine Familie und meine Heimatstadt verlassen habe. Jetzt lebe ich in einer kleinen Stadt mit 65 000 Einwohnern - das ist ein spürbarer Unterschied zu Mexiko-Stadt mit seinen fast neun Millionen Einwohnern. Aber so langsam fange ich an, mich besser zu fühlen. Die neue Ruhe in meinem Leben erlaubt es mir, mich selbst zu finden. Zum ersten Mal kann ich mich selbst wahrnehmen, mich selbst akzeptieren und zufrieden sein mit dem, was ich habe.

Sergio Valencia zog vor drei Jahren von Mexiko nach Deutschland. (Foto: Fiona Mortimer)

Ich habe Angst davor, nach Mexiko zurückzugehen, weil es mich daran erinnert, was ich verpasst habe. Ich sehe, dass meine Geschwister älter werden und ich bin mir bewusst, dass eines Tages meine Großmutter sterben wird. Sie zu verlieren, ist die größte Angst, die ich habe. Meine Großmutter ist ein sehr wichtiger Teil meines Lebens, ich habe fünf Jahre lang bei ihr gelebt. In meinem Portemonnaie habe ich ein Bild von ihr und einem Symbol der Dreifaltigkeit, das sie mir gegeben hat. Meine Familie ist sehr katholisch.

Ein Foto und eine Visitenkarte erinnern Sergio an seine Großmutter und seinen Vater. (Foto: Fiona Mortimer)

Auch mein Vater ist mir sehr wichtig, ich trage seine Visitenkarte bei mir. Als ich jünger war, hatte er viele Probleme, aber seit zwölf Jahren trinkt er nicht mehr. Ich bewundere ihn für diese Veränderung. Ich genieße es, in Deutschland zu sein, aber ich denke oft an meine Familie. Mexikaner sind sehr an ihre Familie gebunden, das macht es schwer, sie zurückzulassen. Trotzdem ist es ein Erfolg für mich, dass ich es geschafft habe, ein neues Leben anzufangen. Meine Familie weiß das und obwohl ich nicht da bin, sind sie sehr stolz auf mich.

Issam Abdul Karim aus Beirut in Libanon, lebt in Stuttgart

Zuerst gab es für mich keinen Grund, nach Deutschland zu gehen. Der Libanon hat alles, was ich brauche: das Meer, die Berge, meine Familie. Der Libanon war meine Heimat. Doch Ende 1977 brach der Bürgerkrieg aus. Eines Tages, als ich noch ein Kind war, spielte ich mit Handgranaten und einer AK-47. Mein Vater entschied daraufhin, dass es besser sei, das Land zu verlassen.

Issam Abdul Karim möchte irgendwann zurückkehren in seine Heimat Libanon. (Foto: Fiona Mortimer)

Das Leben besteht aus mehreren Abschnitten, in denen man alles aus einer anderen Perspektive betrachtet. Als Kind habe ich alles anders gesehen als heute, wo ich selbst Vater von zwei Kindern bin. Dinge wie Sicherheit spielen auf einmal eine große Rolle, wenn man Verantwortung für andere trägt. Ich bin meinem Vater sehr dankbar, dass ich sicher aufwachsen konnte und meine Kinder nun auch. Ich habe jetzt eine Pizzeria und ein Café mit meiner Frau, aber eigentlich habe ich den Wunsch, zurück in den Libanon zu gehen. Ich arbeite an einem Projekt, das sich "Salam Shalom Pace" nennt. Damit möchte ich dabei helfen, die Verhältnisse im Nahen Osten zu verbessern und Menschen zu verbinden.

Issam Abdul arbeitet an einem Projekt, das er "Salam Shalom Pace" nennt. (Foto: Fiona Mortimer)

Für mich ist Kunst eine wichtige Plattform, weil sie frei und unabhängig ist. Man findet sie in allen Kulturen und Religionen, sie ist überall präsent. Kunst verbindet Menschen. Dieses Bild ist von einem Workshop, den ich für Kinder organisiert habe, um ihnen Freundschaft, Frieden und Liebe beizubringen. Ich möchte das Misstrauen zwischen Religionen, Kulturen und Hautfarben niederreißen, das in der Welt regiert. Wenn man das schafft, ersetzt der Frieden die Angst. Meine Botschaft betrifft vor allem Palästina, Israel und die arabische Welt, aber sie ist ebenso gültig für den Rest der Erde.

Limin Zhou aus Shanghai in China, lebt in Paderborn

Deutschland ist eines der führenden Länder im Bereich Technologie und Maschinenbau. Ich habe mein Studium in Shanghai angefangen und bin dann nach Deutschland gekommen, um es hier fortzusetzen. Deutschland war meine erste Wahl, weil die USA als anderer Technologieführer zu teuer für mich sind. Mit meiner guten Ausbildung habe ich nun die Aussicht, schnell eine Stelle zu finden. Es ist sehr anders hier - man könnte sagen, es gibt eine Million Unterschiede. Deutschland ist kleiner und wesentlich ruhiger als Shanghai. Es ist nicht so stressig und es gibt weniger Verkehr. Manchmal ist das ein bisschen langweilig, aber dann denke ich an die Staus und Menschenmengen in China. Seit ich hier angekommen bin, hat sich mein Leben so unglaublich verändert, das hätte ich mir niemals ausmalen können.

Limin Zhou mussste sich nach der Hektik Shanghais an die Ruhe in Deutschland gewöhnen. (Foto: Fiona Mortimer)

Ich habe mich letzten September taufen lassen und kurz danach einen Deutschen geheiratet. Aus diesem Grund habe ich mein Taufkreuz immer bei mir. Es bringt Glück, das Kreuz bei sich zu tragen. Ich reise oft zwischen Deutschland und China, das Kreuz gibt mir dabei Sicherheit. Damit ich meine Familie erreichen kann, trage ich eine chinesische Simcard bei mir. Es gibt viele Apps und Internetseiten, die nur über das chinesische Netz verfügbar sind. Außerdem habe ich ein Foto meiner Großeltern dabei, sie sehen darauf wunderschön aus. Zu meiner Hochzeit sind sie nach Deutschland gekommen und danach noch einen Monat geblieben. Ich liebe sie beide sehr.

Mit der Sim-Karte kann Limin mit ihrer Familie in China in Kontakt bleiben, das Kreuz gibt ihr auf Reisen ein sicheres Gefühl. (Foto: Fiona Mortimer)

Aniello Scala Quindici Avellino aus der Nähe von Neapel in Italien, lebt in Stuttgart

Die Wirtschaft in Italien ist sehr schwach zurzeit. Es ist schwer, Arbeit zu finden und die Bezahlung ist miserabel. Deshalb ergreife ich jede Möglichkeit, die sich mir bietet: Ich habe schon als Pizzabäcker, in einer Weinfabrik und als Fliesenleger auf einem Friedhof gearbeitet. Manchmal habe ich bei meinem Vater auf dem Land gearbeitet, aber es war nicht genug, um davon zu leben. Irgendwann wurde mir klar, dass ich gehen musste, das war sehr hart. Aber ich hatte das Glück auf meiner Seite. Ein Freund von mir wusste, dass ich nach Arbeit suche und hatte einen Kontakt in Stuttgart; eine italienische Frau, Giovanna, die eine Pizzeria zusammen mit ihrem Mann besitzt. Sie arrangierten alles, sodass ich nach Deutschland kommen und für sie arbeiten konnte.

Aniello Scala Quindici Avellino konnte im wirtschaftlich schwachen Italien nur Gelegenheitsjobs finden. (Foto: Fiona Mortimer)

Ich musste mein komplettes Leben umstellen, um nach Deutschland zu kommen, aber bislang habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Ich konnte in Deuschland Dinge tun, die ich in Italien nicht tun konnte, zum Beispiel ein Auto kaufen und meine eigene Wohnung haben. Ich bin so dankbar für die Chance, die mir gegeben wurde und für die Großzügigkeit und Liebenswürdigkeit, die ich von Giovanna und ihrem Mann erfahren habe. Dieser Brief, den ich bei mir trage, ist eine Erinnerung an meine Freundin, die ich immer in meinem Herzen trage. Sie gab mir alles und unsere Liebe füreinander ist grenzenlos. Die anderen Karten, die ich in meinem Geldbeutel habe, zeigen Heilige. Meine Heimatstadt ist sehr klein, aber voller Traditionen: Das ganze Jahr über finden dort Festlichkeiten für die Heiligen statt. Für mich sind sie wie ein Schutz, und Religion ist mir sehr wichtig. Ich war während meiner Kindheit der katholischen Kirche immer sehr verbunden, sie ist auch jetzt noch ein großer Teil von mir.

Aniello trägt einen Liebesbrief seiner Freundin und Bilder von katholischen Heiligen immer bei sich. (Foto: Fiona Mortimer)

Kyung Mi Le, aus Busan in Südkorea, lebt in Hannover

Vor sechs Jahren traf ich die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, wusste aber nicht, wohin. Glücklicherweise studierte zu diesem Zeitpunkt ein Freund in Deutschland und riet mir, dorthin zu kommen. Es gab einen neuen Studiengang im Bereich Mode-Accessoires und da dies meinem Job in Korea ähnlich war, entschied ich mich, es zu probieren. Ich wusste nichts über Deutschland, bevor ich hierhinkam, also wusste ich nicht, was ich erwarten sollte. Seit meiner Ankunft hier habe ich wunderschöne Seiten des Landes gesehen: die Umgebung, die Natur, die Kultur. Manche meiner Freunde aus dem Sprachkurs sagen, dass Deutschland zu ruhig und langweilig sei, was ich verstehen kann. Trotzdem finde ich die Umgebung hier perfekt, da ich große Städte wegen des Lärms und der Menschenmassen nicht besonders mag. Mein Leben in Deutschland ist wie der Roman "Der Alchimist" von Paulo Coelho gewesen, eine Sache führte immer zur nächsten. So bin ich nach sechs Jahren immer noch hier und genieße das Leben sehr.

Kyung Mi Le verschlug es durch einen Zufall von Südkorea nach Deutschland. (Foto: privat)

Mein Portemonnaie ist mein wertvollster Besitz. Ich habe es von meinem Mann bekommen, als ich zum Studium hierherkam. Inzwischen sieht es schon recht abgenutzt und verwittert aus. An einem Tag war ich beim Deutschlernen so hektisch, dass ich Kaffee über meine gesamte Tasche verschüttete, davon ist es ausgeblichen. Es ist nun nicht mehr so farbenfroh und sauber wie früher, aber genau das macht mein Portemonnaie kostbar für mich. Manchmal, wenn ich es anschaue, denke ich daran, wie weit ich in Deutschland mit meinem Leben gekommen bin.

Ihr Portemonnaie ist für Kyung Mi Le besonders wegen seiner Gebrauchsspuren kostbar. (Foto: Fiona Mortimer)

Asmaa Kareem aus Bagdad im Irak, lebt in Paderborn

Frauen im Irak sind nicht frei, unsere Gesellschaft wird von Männern kontrolliert. Es ist, als wären unsere Köpfe in einem Gefängnis, das uns vom Denken abhalten soll. In manchen Städten dürfen die Frauen nicht zur Schule gehen. Meine Schwester wollte die weiterführende Schule besuchen, aber mein Onkel verbot es. Er lauerte ihr vor dem Haus auf, schlug sie und zerriss ihre Schulbücher. Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber wusste schon, dass ich raus wollte aus dieser Gesellschaft. Ich war die erste Frau, die unsere Familie verlassen hat und ich habe so den Weg für viele meiner Cousinen geebnet. Ich habe diese Mauer durchbrochen, was sehr schwierig war. Frauen ist es nicht gestattet, alleine zu reisen, also brauchte ich immer eine männliche Begleitung.

Asmaa Kareem konnte durch ein Stipendium mit ihrem Mann aus dem Irak nach Deutschland kommen. (Foto: privat)

Als mein Ehemann um meine Hand anhielt, sagte mein Vater nein, denn ich bin Araberin und Schiitin, er ist Turkmene und Sunnit. Aber weil unsere Familien uns darin unterstützt haben, den Irak zu verlassen, konnten wir uns für ein Stipendium im Ausland bewerben. Mein Mann bekam ein Angebot in Deutschland und unsere Familien hielten das für eine Chance. Ich glaube, ohne dieses Stipendium wäre es für mich nicht möglich gewesen, ihn zu heiraten und den Irak zu verlassen.

Endlich Fahrrad fahren! Asmaa genießt ihre neuen Freiheiten. (Foto: Fiona Mortimer)

Mein erster Gedanke, als ich nach Deutschland kam, war "Oh mein Gott, ich darf Fahrrad fahren!" Das als Frau tun zu können, war wie das Paradies für mich. Es hat fast zwei Jahre gedauert, bis ich endlich akzeptieren konnte, dass ich frei bin. Mittlerweile mache ich meinen Doktor in Mechatronik. Ich habe mich auf die Auffindung von Antipersonenminen spezialisiert, weil mir das Thema angesichts des wachsenden Terrors im Irak sehr wichtig ist. Jeden Tag sieht man dort Explosionen. Darum möchte ich ein Gerät entwickeln, das den Menschen in meinem Heimatland mehr Sicherheit bringt.

Fiona Mortimer aus Victoria, British Columbia, in Kanada, lebt in Weimar

Wie so viele Menschen vor mir bin ich wegen der Liebe nach Deutschland gekommen. Liebe für eine Person, Liebe für das Land, Liebe für die Sprache. Aber Liebe kann verblassen und manchmal vergessen wir den Grund, warum wir uns überhaupt in etwas verliebt haben. Ich habe schließlich verstanden, dass die Liebe, die am stärksten in meinem Leben ist, nicht von jemandem zu kommen braucht, mit dem ich zusammen bin. Sie kommt von der Person, mit der ich mich am sichersten fühle, und die mich trotz meiner Fehler respektiert. Sie kann auch von dem Ort kommen, von dem du stammst oder an dem du lebst, wenn dieser dich herausfordert und dir das Potenzial schenkt, ein besserer Menschen zu werden.

Fiona Mortimer zog für die Liebe von Kanada nach Deutschland. (Foto: Fiona Mortimer)

Das Bild zeigt meine beste Freundin und mich. Als Teenager nahm sie sich die Zeit, mich kennenzulernen, obwohl ich unausstehlich und unbeliebt war. Ich komme aus einem Umfeld, in dem es an Gefühlen und Verständnis mangelte und sie füllte diese Lücke. Ich glaube nicht, dass sie je begreifen wird, wie wichtig sie mir ist und dass ich nicht nur gerne mit ihr zusammen bin, sondern dass ich sie brauche. Sie ist die Person in meinem Leben, die ich am meisten liebe. Sie half mir, auch dann zu wachsen, wenn ich verletzt war. Sie war der Grund, dass ich weiterlebte, wenn ich aufgeben wollte.

Ein Bild von ihrer besten Freundin hat Fiona immer in ihrem Geldbeutel dabei. (Foto: Fiona Mortimer)

Wir sind alle zu sehr mit den Grausamkeiten der Menschheit vertraut und obwohl wir mit festen Moralvorstellungen aufwachsen, vergessen wir diese häufig. Wir können einen Menschen sowohl mit Worten als auch mit Taten zerstören. Manchmal ist Verletzung notwendig. Wir müssen verletzt werden, um daran zu wachsen, verlieren, um zu gewinnen. Ich habe anderen Schmerz zugefügt und ich wurde selbst verletzt. Meine Erlebnisse mögen für jemand anderen kindisch und unverhältnismäßig aufgeblasen wirken - aber wer sind wir, den Kummer eines anderen zu beurteilen? Von jemandem ungeachtet aller Makel akzeptiert zu werden, ist das Beste, was einem passieren kann.

Ich kam wegen der Liebe nach Deutschland und werde ihretwegen wieder nach Kanada zurückkehren. Manchmal braucht es ein oder zwei Abenteuer, um zu herauszufinden, wofür dein Herz schlägt und wo deine Seele hingehört. In meinem Fall gehört sie nach Kanada zu meiner besten Freundin.

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