Folge 16 der "Deutschlandreise":Fröhliche Scharfrichter

Die Romantische Straße: Entlang der Route mit mittelalterlichen Städten und Burgen sorgt ausgerechnet der Tourismus dafür, dass viel Gutes bleibt, wie es immer war.

Von Joachim Käppner

Wieder und wieder, einmal pro Jahr, brechen sie durch Mauern und Tore der alten Stadt: wüst aussehende Gestalten, aufs schwarze Leder genäht Bilder von Schrecken, Monstern, grausamen Gesichtern und Waffen. Sie gleichen nicht wenig den wilden Landsknechthaufen der Schweden, die 1632 die Freie Reichsstadt Dinkelsbühl belagerten, während des Dreißigjährigen Krieges. Damals freilich wehrten sich Bürger und Bauern mit Spießen, Bolzen und Feldschlangen; heute sieht der Empfang weit freundlicher aus. Die Konditoren backen eine große Torte und verzieren sie mit Totenköpfen und Fledermäusen, um das Herz der Fremden zu erbauen. Hunderte Liter Honigwein stehen bereit und eine große Festwiese. Dort, einigermaßen außer Hörweite, steigt dann jeden August "Summer Breeze", das zweitgrößte Open-Air-Festival für Heavy Metal in Deutschland.

Fan ist auch Christoph Hammer - nicht unbedingt der Musik selber, wohl aber ihrer Anhänger, ein Fan der Fans, wenn man so will: "Wir haben sie wirklich ins Herz geschlossen", sagt Dinkelsbühls CSU-Oberbürgermeister. "Wir können ja nicht nur von der Geschichte leben." Das Heavy-Metal-Fest mit seinen 40 000 Besuchern im Jahr ist ein willkommener Beitrag zum Stadtmarketing.

Hammer mag den Kontrast (von den Einnahmen abgesehen) auch deshalb so gern, weil diese Stadt nahezu unverändert ausschaut wie vor gut 300 Jahren, zumindest wie 1826. In diesem Jahr erließ König Ludwig I. von Bayern ein Edikt, das als Lex Dinkelsbühl bekannt wurde. Zum "Schutz der bayerischen Wall- und Wehranlagen" untersagte der geschichtsselige Regent den Dinkelsbühlern und allen ihresgleichen in Bayern, eben diese Anlagen wegzureißen. Heute ist die Stadt, wie die Tourismuswerber sagen, eine der Perlen auf der Romantischen Straße zwischen Füssen und Würzburg.

Georg Lehle vor Markusturm in Rothenburg o/T.

Unterwegs mit dem Henker: Georg Lehle als frühneuzeitlicher Scharfrichter mit Umhang und Beil. Er lädt seine Gäste zu einer wirklich bemerkenswerten Geisterführung durch Rothenburg ob der Tauber.

(Foto: Sonja Marzoner)

Als eigentliche Ferienstraße, entlang der historienträchtigen Route mit mittelalterlichen Städten, Burgen, barocken Kirchen und Schlössern, wurde sie 1950 proklamiert, in der noch zaghaften Hoffnung, urlaubende Besatzungssoldaten und Touristen aus den USA zu locken. Viele Stätten auf ihrem Verlauf, wie Dinkelsbühl oder das ähnlich schöne Nördlingen, waren einigermaßen heil durch den Krieg gekommen.

Sie hat aber auch gerade darum manche deutsche Literaten angezogen, denn hier ließ es sich leichter als anderswo im verwüsteten und zerbombten Land in jenes geschichtsvergessene Traumreich flüchten, das man für das gute alte Deutschland hielt. Der Heimatdichter Hanns Rupp widmete ihr 1959 gar einen eigenen Versband, in dem es über Dinkelsbühl heißt:

"Ist es Traum, ist es die Wirklichkeit,

die uns im Winkel umspinnt?

Ein Bild nur ist's aus entschwundener Zeit,

ein Sehnen, das uns durchrinnt."

So geht es fort, keinen Ort der Romantischen Straße hat Rupp vor seiner Dichtkunst verschont:

"Du steigst herab von der Bastei,

wie Landsknechtschritt und Melodei,

doch hast du Müdigkeit im Schritt,

die Trommeln wirbeln nimmer mit."

Es klingt alles, als führe die Romantische Straße direkt in eine heile Welt einer Vergangenheit, in der es keine Nazis, keinen Krieg, keinen Holocaust gegeben habe. Das ist lange her, und die Romantische Straße ist immer noch eines der großen deutschen Touristikziele, beliebt auch bei Italienern, Amerikanern, Japanern, die hier ihr Weihnachtskalenderdeutschland suchen und auch finden, zumindest oft genug.

Wanderserie "Romantische Straße"

Der Nachtwächter von Rothenburg ob der Tauber, gezeichnet von Walter Mutter aus Hanns Rupps Buch über die Romantische Straße von 1959.

(Foto: Walter Mutter/Martin Verlag)

Dinkelsbühl an einem Dezembermorgen, Raureif auf den spitzen Dächern, die Türme der Stadtmauer ragen aus dem Dunst. Hammer denkt in seinem von Gemälden und einem Kronleuchter geschmückten Rathausbüro über den Denkmalschutz nach. Und was er sagt, klingt ganz anders als bei vielen Kollegen, die gern klagen: ... bei allem Verständnis, aber ... die vielen Vorschriften, und was das kostet. ... und soll man Investoren wirklich verschrecken wegen ein paar blöder alter Balken ... Nein, Hammer sagt: "In Dinkelsbühl ist der Denkmalschutz nicht unser Feind. Ganz im Gegenteil, wir sehen ihn als riesige Chance."

Heute wacht kein König mehr über die Schönheit Dinkelsbühls, sondern die Baugestaltungssatzung, die den Bewohnern seit vielen Jahrzehnten jegliches Verklinkern, Zubetonieren, Wegbaggern und sonstiges Verhunzen der alten Stadt untersagt. Und Zwang ist kaum noch nötig, denn immer Menschen drängt es danach, in der Innenstadt zu wohnen, wo tatsächlich fast keine Bausünden das Panorama beleidigen. "Leerstand haben wir hier fast gar nicht", sagt Hammer, man müsse eher aufpassen, dass nicht Gewerbeflächen in Wohnraum verwandelt würden. Das sind Sorgen, die andere Städte gern hätten.

Rothenburg odT

Der Dichter Rupp über Rothenburg: "Hier haben alle Häuser ein Gesicht, gleich abgeklärten und versöhnten Leuten, die mit des Alters schmerzlichem Verzicht im Abendrot der Sonne sich bescheiden."

(Foto: Sonja Marzoner)

In Rothenburg ob der Tauber, 36 Kilometer nördlich, wartet schon der Henker. Vor dem großen Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz erläutert er gerade Passanten, dass man Gerichtete vor 400 Jahren zur Abschreckung gern am Strick habe baumeln lassen - "ein Jahr lang, dem Tierfraß ausgesetzt".

Wer aus guten Gründen die Marketing-Sitte nicht so sehr schätzt, als Nachtwächter oder Bänkelsänger kostümierte Statisten in Altstädten herumlaufen zu lassen, der sollte beim Henker Georg Lehle eine Ausnahme machen. Die Geisterführung bei klirrender Kälte wird, ohne zu viel zu verraten, nicht nur zu einer Begegnung mit dem Leibhaftigen führen, sondern auch mit anderen Schauerlichkeiten vielerlei Art; denn Lehle, angetan mit wehendem roten Mantel und einem breitschneidigen Beil, erklärt die Welt aus dem Blickwinkel des Stadthenkers der frühen Neuzeit. Was heißt es, wenn einer den Löffel abgibt? In diesem Zusammenhang: dass er im Verlies die sprichwörtliche Henkersmahlzeit beendet hat, ein gutes Essen mit viel Wein am Abend vor der Hinrichtung. Aber, versichert der Henker den Schaudernden unter seinen Zuhörern, "das Opfer spürt nichts mehr außer einem Gefühl erfrischender Kühle."

Rothenburg hatte durch den Dreißigjährigen Krieg stark an Bedeutung verloren und versank, wie Dinkelsbühl, fortan in einer Art urbanem Dornröschenschlummer, dem sie das perfekte alte Bild verdankt. Die Stadt Rothenburg ist eine solche Schönheit, dass man ihr vor Bewunderung alles verzeiht: die Selbstinszenierung, ihren Hang zu hemmungslosem Kitsch und dass sie den Verehrer teuer zu stehen kommt. Das bürgerstolze Rathaus, die kunstvollen Befestigungstore, Steigen und Fachwerk wie aus einem Spitzweg-Gemälde, die Lage über dem schönen Taubertal, die alten Gassen - Dichter Rupp schrieb dazu, und wenigstens hier darf man ihm zustimmen:

Papierhandlung Wilhelm Breitinger

Wandmalerei in der Papierhandlung Wilhelm Breitinger in Dinkelsbühl.

(Foto: Sonja Marzoner)

"Hier haben alle Häuser ein Gesicht,

gleich abgeklärten und versöhnten Leuten,

die mit des Alters schmerzlichem Verzicht

im Abendrot der Sonne sich bescheiden."

Dinkelsbühl ist anders, kein lebendes Museum seiner selbst wie Rothenburg, sondern eine lebende Stadt mit wachem Bürgersinn, die trotz oder gerade wegen ihres Alters niemals zu alt sein wird. Mehrfach war sie in Gefahr, zerstört zu werden: von den Schweden 1632, von den alliierten Bombern 1945, die Rothenburg im Norden schwer trafen (nur ein sehr fachkundiges Auge kann erkennen, dass ein Teil der Häuser Kopien ihrer selbst darstellen, rekonstruiert in den Wiederaufbaujahren). Und dann vor falschen Modernisierern, die sich für sehr fortschrittlich hielten. Noch 1994 heißt es in dem Buch "Mit der Geschichte leben" mürrisch: "Als wichtigste Ressource der Zukunft scheint hierorts die Vergangenheit zu gelten." Als seien Dinkelsbühls Häuser schuld an dem Ungeist, der hier, wie fast überall im Land, bis 1945 in ihnen hauste. Als ließe er sich austreiben, risse man die Häuser nur nieder; als ließe er sich dauerhaft bannen durch die Unwirtlichkeit, die der moderne Städtebau viel zu oft geschaffen hat.

Die Klage, der Massentourismus zerstöre, was er doch gerade suche, das Echte, Authentische, Originale, ist oft geführt worden, und in vielen Fällen zu Recht. Im Falle Dinkelsbühls verhält es sich geradezu umgekehrt. Es ist sich gleich geblieben, gerade weil es den Tourismus gibt. Wegen der Busse voller Fremder existiert noch eine der schönsten Buchhandlungen Deutschlands, genannt "Zum Grünen Baum", in mehreren Stockwerken eines alten Patrizierhauses gelegen. "Hier in der Region kaufen auch viele Menschen bei Amazon oder fahren zum Discounter in die Vorstadt", sagt Buchhändlerin Brigitte Bauer, "die Besucher halten die Traditionsgeschäfte mit am Leben." Wegen der kaufkräftigen Gäste hält sich auch das nostalgisch-schöne Papiergeschäft Breitinger nebenan, das noch mit Wandmalereien geschmückt ist und dessen Inhaberin gern ausführlich dem Kunden die Vorzüge von Füllfederhaltern alten Stils erläutert. Und dann ist da noch ein jung gebliebener Platzhirsch wie das Flair-Hotel "Zum Weißen Ross", gelegen am einstigen Ferkelmarkt.

Buchcover

Hanns Rupp: Die Romantische Straße (Buxheim 1959). In der Serie "Deutschlandreise" besuchen SZ-Autoren Schauplätze der Literatur oder alter Reiseführer. Nächste Folge: Mit dem römischen Dichter Ausonius an der Mosel.

(Foto: Verlag)

In der herrlichen Wirtsstube, original erhalten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, hängt noch ein Ölgemälde von 1910: das Hotel, damals "Künstlerklause" geheißen, mit Ferkeln davor. Auch ein echter Liebermann ist im Haus zu finden. Damals war es Treffpunkt der berühmten Münchner Malerschule.

"Sie haben, wenn sie knapp bei Kasse waren, Wein, Essen und Unterkunft mit Bildern bezahlt", sagt Wirt Joachim Neuhäuser und lacht. Er führt das Haus in dritter Generation, und um die Tradition zu wahren, lässt er manchmal ebenfalls Maler hier wohnen, die mit Bildern zahlen; die Werke junger Russen stehen noch im Treppenhaus. Es ist ein sehr beseelter Ort.

Abends in der Wirtsstube. Am langen Tisch hat sich eine Runde ehemaliger Dinkelsbühler Schüler gefunden, manche wohnen noch hier. Robbie ist auch in der alten Stadt groß geworden, heute lebt er in Nürnberg, hat starke Arme mit Tätowierungen und kam mit der Harley-Davidson her. Anderswo, sagt er, kommen die Leute zurück und klagen, wie sich alles verändert habe. "Und hier? Es sieht alles so aus, wie es immer ausgesehen hat - und das ist sehr schön."

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