Flüchtlinge:Rückkehr des verlorenen Sohnes

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Der inzwischen zehnjährige Mahdi Rabani (M.) war knapp ein Jahr lang verschollen. Sein Bruder Yusef (8) freut sich, dass er wieder Fußball mit ihm spielen kann. (Foto: Maria Feck)

Die Rabanis glaubten, ihr Sohn sei bei der Flucht nach Europa ertrunken. Nun ist Mahdi wieder da. Ein Besuch bei der afghanischen Familie.

Von Julia Rothhaas

"Willkommen zu Hause, Mahdi". Das Schild hängt immer noch an der Haustür, daneben baumeln zwei rote Ballons, die keine Luft mehr in sich haben. Das schlichte Stück Pappe markiert das Ende von Mahdis Reise. Einer Reise, von der niemand glaubte, dass sie je ein gutes Ende finden würde.

Ibrahim Rabani, Mahdis Vater, ist ein schmaler Mann, der älter aussieht als 40. Er sitzt am Esstisch in der Wohnung, die er mit seiner Familie Ende Dezember in Bad Bodenteich, anderthalb Stunden südlich von Hamburg, bezogen hat. Auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer stehen zwei Bilderrahmen, auf beiden Fotos sieht man nur seinen zweitjüngsten Sohn. Mahdi im Schnee, Mahdi mit einem Fußball unterm Arm. Die Bilder sind nach seiner Rückkehr entstanden und so etwas wie der Beweis, dass er wirklich wieder da ist. Denn manchmal können sie es selbst noch nicht glauben, obwohl das Kind mit am Tisch sitzt. "Wir dachten, er sei ertrunken", sagt sein Vater.

Knapp ein Jahr lang glaubt die Familie, er sei tot. Auf der Flucht von Afghanistan nach Europa war er plötzlich weg, Mahdi, neun Jahre alt.

Am Anfang ist dies eine Flüchtlingsgeschichte, wie man sie dieser Tage oft hören kann. Die Familie lebt etwa 40 Kilometer westlich von Kabul in der Provinz Parwan, Mahdi wächst dort mit zwei Schwestern und zwei Brüdern auf. Der Vater arbeitet als Lehrer, die Familie hat ein gutes Auskommen. Doch dann bekommen die Rabanis immer häufiger Besuch. Unerwünschten Besuch. Von den Taliban. Seit die internationalen Truppen Ende 2014 ihren Kampfeinsatz in dem Land beendet hatten, ist die Terrororganisation wieder überall im Land auf dem Vormarsch. Khatera, mit 16 Jahren die älteste Tochter der Familie, soll mit einem Taliban-Kämpfer verheiratet werden. Das Mädchen sei schließlich im heiratsfähigen Alter, sagen die Männer.

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"Das kam nicht infrage", erzählt Ibrahim Rabani. Anfangs kann der Vater die Männer noch abwehren, bald stehen sie jeden Tag vor der Tür. Sie fragen nun auch nach der 14-jährigen Tamanna. Aus der Frage wird eine Forderung, eine Drohung.

Die Familie hält den Druck nicht mehr aus, sie beschließen: Wir müssen weg. Die Rabanis verkaufen ihr Haus und all ihre Möbel und leihen sich Geld von Verwandten, damit sie es mit ihren fünf Kindern und den beiden Schwestern des Vaters bis nach Deutschland schaffen können. Sie vertrauen sich dafür immer neuen Schleppern an, die sie über Iran bis in die Türkei bringen. Mal zu Fuß, mal mit dem Auto.

Die ganze Familie sucht - ohne Erfolg

An einem Nachmittag im Februar 2015 landen sie an der türkischen Küste. Der Plan: Nachts sollen sie mit Booten auf die griechische Insel Lesbos gebracht werden. "In dem Waldstück saßen etwa 160 Leute. Wir haben auf das Signal der Schlepper gewartet und sind dann im Gänsemarsch Richtung Wasser gelaufen", sagt Shokrieh Rabani, die Mutter, 38 Jahre alt. Sie hätten sich geweigert, einzusteigen. "Da sollten viel mehr Menschen auf das Boot als abgemacht." Doch das interessiert niemanden. Sechzig, vielleicht siebzig Menschen müssen sich in ihren Schwimmwesten auf das Boot quetschen. Mahdi klettert mit einem Kumpel ganz nach vorne. Die Jungs sind aufgeregt, aus Kindersicht ist dies ein Abenteuer. Auch Mahdis Familie steigt ein. Allerdings auf ein anderes Boot.

Etwa hundert Meter von der Küste entfernt dringt Wasser durch den Holzboden, das Boot, in dem die Rabanis sitzen, ist einfach zu voll. Es säuft ab. Nur Ibrahim Rabani kann schwimmen, der Rest seiner Familie strampelt sich mit letzter Kraft ans Ufer zurück. Dort liegen sie zwischen all den anderen Menschen mit vollgesogenen Kleidern auf dem kalten Boden und spucken Salzwasser. Shokrieh Rabani ist die Erste, die in dem Chaos versucht, wieder einen Überblick über alle Familienmitglieder zu bekommen. Da merkt sie: Mahdi fehlt.

Sie fängt an, nach ihrem Sohn zu rufen, bald schlägt die ganze Familie Alarm. Der Junge sei bestimmt irgendwo in der Nähe, beteuern die Schlepper. Sie versuchen, die Familie zu beruhigen. Schließlich soll durch ihr Geschrei niemand auf das Geschehen in diesem Waldstück aufmerksam werden. Als es hell wird, gehen die Rabanis in Dreiergruppen durch den Wald, sie suchen die Küste ab, rufen wieder und wieder Mahdis Namen. Nach drei Tagen brechen sie die Suche ab. Sie verlassen den Wald und kommen in einem Ort in der Nähe unter. "Unsere Flucht hatte ein Ende, die Weiterreise ohne Mahdi wurde sinnlos", sagt Ibrahim Rabani.

Als Mahdis Boot Lesbos erreicht, springt er als Erstes an den Strand. "Ich dachte, dass mir gleich meine Familie entgegenkommt", sagt er. Vergeblich. Als die Letzten vom Boot steigen, fängt Mahdi an zu weinen. Eine afghanische Familie nimmt ihn mit zum Auffanglager. Seine Familie sei vielleicht schon dort, trösten sie ihn. Aber dort weiß niemand, dass eines der Boote gesunken ist und die Menschen darin an den Strand zurückgeschwommen sind. Die Schlepper bleiben stumm.

Die Familie, die Mahdi aufgenommen hat, will den Jungen nicht alleine zurücklassen, sie nehmen ihn mit bis in die Schweiz. Dort übergeben sie ihn den Behörden, er wird in ein Kinderheim gebracht. Mahdi ist sich sicher, dass seine Familie noch lebt. Aber wie soll ein Neunjähriger nach seiner Familie suchen? Fotos hat er keine, sämtliche Handys haben die Schlepper zu Beginn der Flucht einkassiert. Und von Suchdiensten für Vermisste im Internet hat er nie gehört. "Ich hatte so Heimweh", erzählt er, seine Mutter streichelt ihm über den Kopf. "Und das Essen hat auch nicht geschmeckt." Nur das Fußballspielen habe ihn in dieser Zeit etwas trösten können.

Sieben Monate bleiben die Rabanis in der Türkei, die Tage verblassen. Wenn einer anfängt zu weinen, dann weinen auch die anderen. Die Menschen, bei denen sie untergekommen sind, verlangen plötzlich mehr Geld für ihre Unterkunft. Daraufhin beschließt die Familie, abermals in ein Boot zu steigen. Diesmal erreichen sie Lesbos. In dem Auffanglager reichen sie die beiden einzigen Fotos herum, die sie von ihrem Sohn haben. Aber niemand hat das Kind gesehen. Ende Oktober landen sie schließlich im niedersächsischen Uelzen. Sie sind jetzt in Sicherheit, aber erleichtert sind sie nicht.

Mahdi Rabani, ja, den gibt es

In dem Lager fallen die Rabanis auf. Warum seid ihr so traurig, jetzt ist doch alles gut, fragen die Menschen. Auch Rani Hijazi, ein Flüchtlingshelfer vom Deutschen Roten Kreuz Uelzen, erfährt vom Schicksal Mahdis. Die Geschichte geht ihm so nah, dass er beschließt, ihnen zu helfen. Seine Familie habe selbst aus Libanon fliehen müssen, erzählt er später deutschen Medien, er habe halt was tun wollen. Heimlich beginnt er, nach dem Jungen zu suchen, denn er will keine Hoffnung schüren. Er telefoniert sich durch die Aufnahmeeinrichtungen, bald erweitert er seine Suche bis in die Schweiz. Tatsächlich wird er im Dezember, sechs Wochen später, im Kanton Bern fündig. Mahdi Rabani, ja, den gibt es. Zum Beweis schickt er ein Foto, das er unter einem Vorwand von der Familie schießt.

27 Prozent der in Europa ankommenden Geflüchteten sind laut einer Schätzung der europäischen Polizeibehörde Europol unter 18, mindestens 10 000 von ihnen seien in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft verschwunden. Der Bundesfachverband umF (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge) vermutet, dass sich einige nach der Erstregistrierung eigenständig auf den Weg zu Verwandten machen und somit offiziell als vermisst gelten. Aber natürlich gibt es auch viele Kinder, die im Chaos der Flucht verloren gehen. So wie Mahdi.

Es bleiben viele Fragen, für die Europa dringend Antworten braucht, etwa: Warum hat bei der Registrierung der Familie auf Lesbos niemand gemerkt, dass sieben Monate zuvor ein Kind mit dem gleichen Namen alleine angekommen ist und nun von den Eltern vermisst wird? Wie kann ein Neunjähriger so viele Grenzen passieren, ohne dass ihn jemand in Obhut nimmt? Warum kam nur eine einzelne Person in Deutschland und der Schweiz auf die Idee, die Lager abzutelefonieren? Warum dauerte es zwei Monate, um das Kind aus der Schweiz zu seinen Eltern zu bringen? Aber es bleibt auch die Frage: Warum hat die Familie nicht noch einmal gesucht, nachdem sie im Oktober 2015 in Deutschland landete? "Wir hatten einfach so ein Gefühl, dass er tot ist", sagt Ibrahim Rabani fast flüsternd. Erst als er von Mahdis Rückkehr erzählt, bekommt seine weiche Stimme wieder Kraft.

"Mama, ich lebe", sagt Mahdi etwa elf Monate nach seinem Verschwinden zu seiner Mutter am Telefon. Der Vater ist gerade in der Stadt einkaufen; als er zurückkommt, sieht er Frau und Kinder fürchterlich weinen. "Ich dachte, es sei wieder was passiert", sagt er. Mit der Rückkehr seines Sohnes habe er nicht gerechnet. Am 7. März darf Mahdi endlich zu seinen Eltern fliegen. Die Mutter ist so aufgeregt, dass sie alle schon morgens um vier Uhr weckt.

In Bad Bodenteich versuchen die Rabanis nun, in einen neuen Alltag zu finden, während sie auf die Bewilligung ihres Asylantrags warten. Seit Ende Dezember wohnen sie in einer eigenen Wohnung, die Kinder gehen zur Schule. Beim Deutschlernen hat Mahdi einen Vorsprung durch seine Zeit in der Schweiz. "Ich spreche Schwizerdütsch", sagt er auf Schweizerdeutsch und grinst.

Er sei erwachsen geworden, sagt Shokrieh Rabani. "Früher hat er häufig mit seinem kleinen Bruder Yusef getobt, heute ist er viel ruhiger." Nur nachts, da sei der Zehnjährige wieder ganz Kind und schlafe bei ihr im Bett. Das Schild an der Haustür wird Mahdi wohl noch eine Weile brauchen, bis er wirklich zu Hause angekommen ist.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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