Fluch der ständigen Erreichbarkeit:Ein Loblied auf die Einsamkeit

Frühling in Niedersachsen

Nicht twittern, auf Facebook seinen Newsfeed checken, kein Telefonieren: Der Mensch hat im Technologiezeitalter verlernt, seine Gedanken beim Alleinsein fließen zu lassen.

(Foto: dpa)

Alleinsein für Anfänger: Mit unseren Smartphones, Social-Media-Profilen und Co. sind wir heute keine Sekunde mehr wirklich allein - zu groß ist die Angst, durch das soziale Netz zu rutschen. Dabei gehört das Alleinsein, genauso wie das Entspannen und das genussvolle Essen, zu den Dingen, die der Mensch dringend wieder erlernen muss.

Von Hilmar Klute

Viele Menschen in Großbritannien haben eine höllische Angst davor, kein Handy mehr zu besitzen. Das fing schon vor vier Jahren an, da berichtete die Daily Mail von jenen 55 Prozent befragter Briten, die panisch werden, wenn sie feststellen, dass ihnen kein Mobiltelefon in der Tasche brummt. Im vergangenen Jahr ist ihr Anteil auf 66 Prozent gewachsen, es gibt sogar einen klinischen Begriff für den Wahnsinn: No more phone phobia, oder kurz Nomophobia. Keiner will mehr allein sein, nicht einmal für ein paar Stunden. Wer alleine ist, rutscht wie ein toter Fisch durch die Maschen des kommunikativen Netzes. Wer alleine ist, steht vielleicht schon am Rand des Dissozialen, er könnte bereits morgen einer von den armen Teufeln sein, die nach Monaten tot aufgefunden werden. Ohne Handy kann man ja nicht einmal seine engsten Freunde von seinem bevorstehenden Ableben unterrichten.

Immer wieder liest man von Menschen, die so lange alleine waren, bis es anfing im Hausflur zu riechen. Die Nachbarn antworten auf polizeiliche Nachfrage, sie hätten von der verstorbenen Dame gar nicht vermutet, dass sie überhaupt noch hier wohnen würde, so rar habe sie sich in letzter Zeit gemacht. Auch Besuch sei zunächst selten, später überhaupt nicht mehr erschienen. Erst nach Abschluss der Ermittlungsarbeiten finden sich dann doch häufig die Kinder in der Wohnung ein, um den Wert hinterlassener Schmuckgegenstände zu prüfen.

Das ist die eine, die traurige Seite des Alleinseins. Aber seltsamerweise überschattet sie alle anderen Facetten, denn das Alleinsein ist im Zeitalter der Allgegenwart von Freunden und der Allverfügbarkeit von Ablenkungen, meist digitaler Art, mehr als unpopulär geworden. "Wer allein ist, ist auch im Geheimnis", schrieb Gottfried Benn zu Zeiten, da man noch bei sich sein durfte ohne das vorher zu posten. Heute hat, wer allein ist, eher die Arschkarte gezogen, denn die Geheimnisse sind ja nur dann etwas wert, wenn sie auf Twitter verbreitet, auf Facebook geliked oder in Gesprächsrunden an den Mann gebracht werden können.

Gedanken zu Ende bringen

Alleine sein heißt heute Single sein, Nerd oder Autist. Wer sich selbst genügt, nimmt nicht an der großen Vernetzung teil, die so ungeheuer wichtig ist, weil man die Welt ums Verrecken nicht versteht, wenn man sonntagmorgens nicht gemailt kriegt, was Ian Frazier im New Yorker über den Irrsinn des Frackings geschrieben hat. Sich herauszuhalten aus dem unablässig funkelnden Diskurs ist schon eine Art Eremitage, einen Abend lang nicht auf irgendetwas zu antworten, macht ein ungutes Gefühl. Einen Tag lang nicht socialized zu sein, gilt inzwischen als ähnlich obszön wie Rauchen, Flatrate-Trinken oder Co2-Ausstoßen.

Heute halten viele das Alleinsein für eine gefährliche soziale Störung, von der man insbesondere alte Menschen fernhalten muss. Deshalb werden sie betreut wie Kranke und vernetzt wie die Spinnen oder auf Teufel komm raus beschäftigt; Senioren haben heute zwingend in Online-Communities rumzugeistern, sie müssen nonstop nachbarschaftsbetreut werden und es muss alles getan werden, damit sie nicht im Sessel sitzen und mit sich selbst beschäftigt sind. Denn wenn alte Menschen mit sich selbst beschäftigt sind, denken sie ja immer nur an den Tod und das ist offenbar menschenunwürdig.

Dabei ist es für alte und auch für junge Menschen eigentlich manchmal ganz interessant, irgendwo still zu sitzen und an den Tod zu denken. Oder nur irgendetwas zu denken. Überhaupt kann es nicht ganz falsch sein, ab und zu allein in seiner Wohnung zu hocken und auszuprobieren, wie es ist, wenn man seine Gedanken einfach zu Ende bringt, ohne sie halb gar von anderen beglaubigt zu bekommen. Wir wollen nicht unbotmäßig therapeutisch klingen, aber sich befristet aus der Gemeinschaft herauszunehmen, um sein Verhältnis zu dieser Gemeinschaft zu überprüfen - das hat was.

Alleinsein als Selbsttherapie

Das Schöne am Alleinsein ist ja, dass man es gewissermaßen mitnehmen kann, wohin immer man will. Man muss nicht im Zimmer hocken, da ist man ohnehin nicht allein, weil da der Computer steht, der kleine flache Kommunikationsfascho. Man kann sich alleine in ein Café setzen, in ein Restaurant, in ein Kino. Kein Kommunikationsgerät ist so portabel wie das Alleinsein. Michel de Montaigne, der lässige Turmbewohner, hat ganz hübsch beschrieben, wie er bei sich zu Hause alle Höflichkeitsregeln außer Kraft setzt und inmitten seiner familiären Bagage vor sich hinstarrt: "Ich meinerseits bleibe stumm und träumerisch in mich verschlossen, ohne dass meine Gäste daran Anstoß nehmen."

Das Alleinsein bekommt offenbar erst dann einen gewissen Reiz, wenn es mit einem Event verbunden ist oder in dem großen Therapiegedanken aufgeht, der in unserer Gesellschaft seit einiger Zeit so populär ist. Es findet heute vorzugsweise in Klöstern statt, wo Menschen, die gar nicht einmal religiös sind, über mehrere Wochen in der Stille verweilen, abgeschnitten von der Welt und ihren Anforderungen.

Christian Wulff, der unglückliche Bundespräsident, zog sich nach dem vuvuzelaumtosten Zapfenstreich zum Ausklang seiner Dienstzeit in ein Kloster zurück, um sich vom Amt zu lösen - von der Würde hatten ihn bereits andere gelöst. Horst Seehofer wählte das Zisterzienserinnen-Kloster in Waldsassen, um einmal ohne Markus Söder sein zu können. Und man muss als Klosterbetreiber schon von allen guten Geistern des Marketing verlassen sein, wenn man nicht mit den Lockungen einer "Auszeit auf Zeit" oder einer "Zeit in der Stille" um Gäste in seinem Heiligtum wirbt.

Das Alleinsein gehört wie das Entspannen, das Essen und das Nichtausgebranntsein zu den Lebenstechniken, die offenbar behutsam wieder erlernt werden müssen. Und wie bei allen Dingen, die wir verlernt haben, steht eine ganze Industrie bereit, uns wieder auf die Sprünge zu helfen. Denn wenn das Alleinsein ein Baustein für die Optimierung ist, kann es sogar als Therapie eingesetzt werden.

Wann hat das eigentlich angefangen mit der Verkitschung des Alleinseins als Erleuchtungsbeihilfe? Vielleicht mit den Büchern des brasilianischen Hausfrauen-Verhexers Paulo Coelho, der Tausende auf den Pilgerweg geschickt hat, damit sie auf sich selbst zurückgeworfen werden wie Trampolinspringer? Mit Coelho war es eine Zeit lang angesagt, sich allein durch unkultivierte Landschaften zu schlagen, um in der Einsamkeit zu sich selbst zu kommen. "Wenn du nicht allein sein kannst, wird die Liebe nicht lange an deiner Seite verweilen", scheibt Coelho in seinem neuen Roman "Die Schriften von Accra". Weil aber Coelho eine sehr große Leserschaft mobilisierte, zogen gleich Legionen von auf sich Zurückgeworfenen nach Santiago de Compostela. Das kann der Mann doch nicht mit Alleinsein und Liebe gemeint haben.

Sofern man eine kleine Kulturgeschichte des Alleinseins vorlegen möchte, findet man Glanz vorzugsweise in der Leistungsbilanz solitärer Künstler. Im gesellschaftlichen Alltag herrscht auf dem Feld der Solitude eher blankes Elend vor: Einsame und alleinstehende Menschen galten von jeher als Sonderlinge. Das malerische Werk von Carl Spitzweg bezieht seine melancholische Komik aus der Darstellung von Hagestolzen, alten Jungfern und im Schmerz eingekapselten Witwern oder Witwen. In den Bildern des Amerikaners Edward Hopper wachen alleinstehende Frauen leichtbekleidet in kargen Hotelzimmern einer fremden Stadt auf, sitzen Menschen ohne soziale Bindung an der Theke einer unschön ausgeleuchteten Motel-Bar. Im revolutionären Frankreich des späten 18. Jahrhunderts wurden Alleinstehende aus dem öffentlichen Leben verbannt, sie kamen für Funktionen im Gemeinwesen nicht in Betracht. Junge Mütter ohne Ehemann wurden nicht gegrüßt, Priester geächtet, weil sie in ihrer individualistischen Lebensmanier dem republikanischen Volksgedanken fernstanden.

Alleinsein wichtig für die kulturelle Entwicklung

Aber hätte es keine Menschen gegeben, die gerne allein sind, stünden wir heute weitgehend ohne Kultur da. Bruckner hätte sein Te Deum niemals komponiert, wäre er in Wien nicht als ostentativer Bauerntölpel aufgetreten, um unangenehme Menschen von sich fernzuhalten; Proust hätte seine Recherche nicht geschrieben, wäre er nicht regelmäßig den Soireen der Madame Lemaire ferngeblieben - unvergesslich seine Absagebriefchen mit dem Postskriptum: Ausrede wird nachgereicht.

Paul Cézanne wäre es nie gelungen, den Mont Sainte Victoire in all seinen Schattierungen zu malen, hätte er nicht jeden Tag mutterseelenallein vor ihm gehockt, wäre er nicht eines Tages vom Regen klatschnass geworden und an der sich anschließenden Erkältung gestorben, hätte er seinen Rausch des Alleinseins bis in alle Ewigkeit gepflegt. Und was wäre das Werk Gottfried Benns ohne die Feier der Solitude - noch im Alter wollte der Dichter lieber in seinem Zimmer hocken, "allein an kleinem Tisch, an abgeschlossenem Rund", anstatt das "Menschentum und sein Gebarme" ertragen zu müssen. Heute würde ein Mann in den Lebensjahren des späten Benn einem Senioren-Computer-Club beitreten oder wenigstens von wohlmeinenden Sozialarbeitern zur gesellschaftlichen Teilnahme aufgefordert werden.

Das Alleinsein ist ein Zustand, den klügere Menschen zur Optimierung ihrer Sinne und Fertigkeiten benutzen, für weniger helle Köpfe ist das Alleinsein eine Leerstelle, die gefüllt werden muss. "Unser ganzes Übel rührt daher, dass wir nicht allein sind", schrieb Jean de la Bruyère, der alte Quietist aus dem Frankreich des späten 17. Jahrhunderts: "Daraus ergeben sich das Spiel, der Luxus, die Zerstreuung, der Wein, die Ignoranz, die Verleumdung, der Neid."

Verleumdung, Wein, Ignoranz, Neid? Soll man so einen alten Knochen überhaupt noch zitieren mit seiner Kanzelmoral? Muss man ja nicht, es geht auch mit einer dpa-Meldung aus dem frühen 21. Jahrhundert: Forscher der Universität Darmstadt und der Berliner Humboldt-Universität haben Facebook-User über ihre Empfindungen befragt. 37 Prozent von ihnen sagen, dass sie angesichts der in Wort und Bild dokumentierten sozialen Sensationen ihrer Freunde vor allem dies empfänden: Neid.

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