Familientrio:Mein besonderes Kind stört andere Konzertbesucher

Was soll man tun, wenn die geistig und körperlich eingeschränkte Tochter Klavierkonzerte liebt, mitsummt und die Sitznachbarn deswegen stöhnen? Drei Meinungen.

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Münchner Philharmonie

Quelle: dpa

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Marlies M. aus Starnberg​ fragt:

Unsere Tochter (22) sitzt im Rollstuhl und ist geistig stark eingeschränkt. Sie liebt Klavierkonzerte. Wir gehen oft mit ihr dorthin, sie sitzt am Rand und summt glücklich mit. Natürlich hören einige Gäste das, und da wir Abokarten haben, sitzen dort öfters die gleichen. Ein Paar guckt immer grimmig, und ich habe sie auch schon "Wieder die" stöhnen hören. Was soll ich tun? Haben Sie auch eine Frage? Schreiben Sie eine E-Mail an: familientrio@sueddeutsche.de.

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Quelle: Stefanie Fiebrig

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Ich verstehe, wie verletzend und nervend das sein muss, aber ganz ehrlich, warum können Sie nicht nächstes Mal auch sagen: "Die schon wieder?" Ja, weil es sich nicht gehört. Es ist unkultiviert. Da frage ich mich, warum diese Leute so kultiviert tun, wenn sie sich dann nicht so benehmen. Wenn es ein Drehbuch wäre, würde ich mir ausdenken, dass Sie dieses Paar ansprechen, ihnen Ihre Tochter vorstellen, erklären, warum sie so gerne in Konzerte geht, und dann kommt die Geigenmusik und allen die Tränen, und dann haben Sie zwei Menschen auf Ihrer Seite. Aber eigentlich können Sie darauf verzichten, dass diese Leute sich freuen, wenn Sie kommen. Sie freuen sich ja auch nicht über jeden. Vermutlich brauchen Sie oft ein dickes Fell, und ich hoffe, ich konnte Ihnen ein wenig das dicke Fell streicheln. Ich finde Sie und ihre Tochter nämlich toll!

Kirsten Fuchs ist Schriftstellerin und lebt mit Tochter, Mann und Hund in Berlin. Sie schreibt vor allem Kurzgeschichten und Romane, aber auch Theaterstücke sowie Kinder- und Jugendbücher. Ihr Buch "Mädchenmeute" erhielt 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Jesper Juul

Quelle: Anne Kring

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Seit vier Jahren sitze ich selbst im Rollstuhl und weiß daher aus Erfahrung, dass manche Menschen das (oder mich?) störend finden. Wenn Ihre Tochter dazu noch Spaß am Mitsummen hat, kann ich mir die Reaktionen einiger Menschen vorstellen. Aber davon abgesehen glaube ich, dass Summen viele Menschen im Konzert tatsächlich stört. Mein Vorschlag wäre, dass Sie vor dem Konzert zu Ihrer Tochter sagen: "Ich weiß, dass du Musik liebst und gerne dazu summst, aber ein paar der anderen Musikliebhaber mögen das nicht. Versuche bitte, es zu lassen." Ich weiß nichts über Ihre Tochter, und ob sie in der Lage wäre, das zu verstehen. Aber ich bin mir sicher, dass ein persönlich vorgebrachter Vortrag Eindruck auf sie machen wird, und dann versteht sie vielleicht besser, wenn Sie sie beim nächsten Mal an der Schulter tippen oder "Pst" sagen. Außerdem können Sie sich und Ihre Tochter dem Paar vorstellen und sagen: "Es tut uns leid, wenn ihr Summen Sie nervt. Wir versuchen so gut wie es geht, sie davon abzuhalten." Versuchen Sie, Empathie zu mobilisieren, statt zurückzuschießen oder beleidigt zu sein.

Jesper Juul ist Vater, zweifacher Großvater und Familientherapeut in Dänemark. Er hat zahlreiche Erziehungsratgeber geschrieben, darunter den in 14 Sprachen übersetzten Bestseller "Dein kompetentes Kind".

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Quelle: Anatol Kotte

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Erst mal: stolz sein. Ihre Tochter hat einen Platz gefunden, an dem sie glücklich ist, und ihr Summen sollte das sein, wonach Sie als Eltern streben. Es klingt, als sei das ihre Form, zu tanzen oder ein Instrument zu spielen. Natürlich brechen Sie mit einer jungen Frau im Rollstuhl, die noch dazu Geräusche von sich gibt, hinein in ein steriles Hochkultur-Ghetto, in dem man bedächtig die Augen schließt, um sich den geliebten Brahms zu gönnen. Für diese Menschen ist Klassik wahrscheinlich von ähnlicher Bedeutung wie die Höhe ihres SUVs. Sie ist Mittel zum Zweck. Für Ihre Tochter dagegen ist die Musik etwas, in dem sie sich lebendig fühlt, in das sie sich einmischt. Das finde ich eine viel schlauere Rezeption für ein Klavierstück. Wenn man irgendwen rausschmeißen sollte, dann die Spießer, die neben Ihnen sitzen. Und wenn man dann alle rausschmeißen muss, bis der Saal leer ist, spielt der Pianist eben für Ihre Tochter alleine. Man hätte mal Brahms fragen sollen, welches Publikum ihm lieber gewesen wäre.

Collien Ulmen-Fernandes ist Schauspielerin und Moderatorin. Die Mutter einer Tochter hat mehrfach Texte zum Thema Elternsein veröffentlicht, 2014 erschien von ihr das Buch "Ich bin dann mal Mama".

© SZ vom 24.03.2018/ick
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