Familientragödie:"Ich war allein mit diesem Albtraum"

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Christina E.'s Bruder starb bei einem Kajak-Unfall. Damals war er 20 und sie zwölf Jahre alt. (Foto: imago/UIG; Bildbearbeitung: SZ.de)

Der Bruder stirbt bei einem Kajak-Unfall. Die Familie schweigt. Über Jahrzehnte. Wie hält man so etwas aus?

Protokoll: Lars Langenau

"Das hier ist meine Sicht der Dinge. Es gibt in unserer Familie sechs andere Perspektiven und Empfindungsweisen. Jede ist für sich gültig und bedeutungsvoll.

Unsere Eltern waren auf einem Spaziergang. Zwei meiner vier Brüder und ich waren zu Hause. Das Telefon klingelte, ich ging ran. Es meldete sich die Polizei. Ob meine Eltern da seien. Ich verneinte. Ob einer meiner Familienangehörigen einen braunen Opel Kadett besäße. Ich bejahte. Sie würden sich, sagten sie, später noch mal melden.

Einer von meinen anderen Brüdern sagte, er habe bestimmt bloß falsch geparkt. Klar, weil dann die Polizei anruft! Wunschdenken. Vielleicht haben sie es auch geahnt und wollten sich nur beruhigen.

Ich ging in mein Zimmer und betete einen kompletten Rosenkranz. Das habe ich zuvor nie gemacht - auch nachher nie mehr. Ich wusste, dass mein Bruder tot ist und das Beten umsonst. Trotzdem war es das Einzige, was mir in dieser Situation sinnvoll erschien. Was hätte ich sonst tun sollen?

Unsere Eltern kamen irgendwann nach Hause. Wurden von der Polizei informiert. Fuhren los. Kamen abends zurück. Mein Vater sagte: 'Der Rudi ist ertrunken.' Beim letzten Wort brach er in Tränen aus. Wir alle mit ihm. Was ich den ganzen Nachmittag über geahnt, befürchtet und gespürt hatte, wurde wahr, der Tod nahm Gestalt an in meinem Leben.

Wir weinten nur ein einziges Mal miteinander: am Tag des Unglücks, als wir erfuhren, was geschehen war, als mein Vater das Unvorstellbare aussprach. Mein Vater, dem ich kurz darauf tröstend den Arm um die Schulter legte. Die Rollen verkehrten sich, ich, das kleine Mädchen, tröstete meinen weinenden Vater.

Als mein Bruder kurz vor seinem 21. Geburtstag bei einem Kajakunfall ertrank, war ich zwölf. Ostersonntag 1986. Danach war mein Leben ein anderes. Einer meiner Brüder schaute am Morgen zu mir ins Zimmer und schloss die Tür sofort wieder, als er mich weinen sah - von außen. Jeder war völlig überfordert. Vor allem wohl auch angesichts des Schmerzes der Anderen.

Es dauerte fünf Wochen, bis man ihn fand. Fünf Wochen der Ungewissheit, die keine Hoffnung mehr zuließen. Ich weiß noch, wie ich zu meiner Mutter sagte, dass er vielleicht durch den See geschwommen und an der anderen Uferseite an Land gegangen sei und ein neues Leben begonnen habe. Kindliche Hoffnung. Die Reaktion meiner Mutter war eindeutig.

Seine Beerdigung begleitet mich seither wie ein schwerer, dunkler Traum. Ich trug ein Kleid meiner Mutter. Wer hat mit zwölf Jahren schon schwarze Kleider? In der Kirche saß mein mittlerer Bruder neben mir. Er weinte, ich umarmte ihn. Am Grab schüttelten mir irgendwelche Leute die Hand. Im Anschluss kein Leichenschmaus. Kein Austausch. Nichts.

Ich habe mich nicht beschützt gefühlt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir auch irgendwann jemand den Arm tröstend um die Schulter gelegt hätte. Auch in den folgenden Jahren nicht. Es wurde nicht geweint. Niemand sprach über diesen Albtraum. Keiner fragte mich, wie es mir geht oder erzählte von sich, wie weh es tut und wie unfassbar es sich immer noch anfühlt. Ich war völlig allein.

Jahrzehnte später erfuhr ich, wo genau der Unfall passiert war. Niemand hatte es mir vorher erzählt. Man wollte mich vor Details schützen. Dass man mir damit auch die Möglichkeit nahm, Abschied zu nehmen und loszulassen, daran hat niemand gedacht. Es gab kein Ritual, keine symbolische Geburtstagsfeier, keine jährliche Annonce in der Zeitung, regelmäßige Gedenkgottesdienste oder so etwas. Es wurde nichts erklärt. Hinterfragen war unerwünscht.

Es hat lange gedauert, bis ich meine Wut zulassen konnte: die unsägliche Wut auf meinen Bruder, dass er uns verlassen hat, dass ich ihm diesen Horror zu verdanken hatte. Dass er verdammt noch mal nicht besser auf sich aufgepasst hat!

Als Kind hat mir niemand gesagt, dass ich auch wütend sein darf. Dafür hat es x Therapien und x Bücher gebraucht. Manchmal bin ich heute noch sauer. Wenn ich mich manchmal - immer seltener, Gott sei Dank - dabei ertappe, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, wenn es mir gut geht. Immerhin habe ich kein schlechtes Gewissen mehr, dass ich lebe.

Als ich als Teenager traurige Gedichte las, hieß es: 'Da wundert es mich nicht, dass es dir schlecht geht, wenn du so was liest!' Auf die Idee, dass es anders herum war, kam keiner: Dass es mir nicht schlecht ging, weil ich so etwas las, sondern dass ich so etwas las, weil es mir schlecht ging. Mir war nicht klar, dass ich wieder glücklich sein darf. Ich dachte, ich müsse auch vor meinem 21. Geburtstag sterben. Oft habe ich mich gefragt: Warum er - warum nicht ich? Warum sollte ich weiterleben dürfen? Ich hatte keine erwachsenen Mechanismen in mir, die mir sagen hätten können, dass das Unsinn ist.

Was für mich noch viel schlimmer als der Verlust meines ältesten Bruders war, war das Schweigen meiner Eltern darüber. Es übertrug sich auf die ganze, jetzt noch sechsköpfige Familie und dauerte Jahrzehnte.

Tagsüber kam der Pfarrer unserer Gemeinde zu uns. Als er mich fragte, wie es mit Französisch in der Schule läuft, bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich konnte nicht fassen, dass er mich etwas so Banales fragen konnte angesichts dessen, was passiert war! Niemand nahm mich in den Arm. Ich saß da am Tisch. Völlig allein im Kreise meiner ganzen Familie. Niemand reagierte auf mein Weinen. Keiner wollte meine Trauer sehen. Konnte doch jeder seine eigene kaum aushalten.

Also gewöhnte ich es mir ab. Geweint wurde nicht. Es wurde geschwiegen. Die Zähne wurden zusammen gebissen. Wir funktionierten.

Meine Eltern selbst weinten nicht. Zumindest nicht, wenn wir es hätten sehen können. Mein Vater ging rasch wieder arbeiten, wir Kinder nach der Ferienwoche zum Unterricht.

Ich lernte die Tränen, den Schmerz und den Schrecken herunterzuschlucken. In der Schule, beim Klavierunterricht, Freunden und gegenüber Lehrern. Ich habe eisern durchgehalten und in Gegenwart anderer keine Träne vergossen. Ich kann mir heute nicht erklären, wie ich das geschafft habe. All meine Leistungsfähigkeit floss in das Unterfangen, meine Tränen zu unterdrücken.

Wir besuchten kein einziges Mal gemeinsam das Grab. Der Name meines Bruders wurde so gut wie nie erwähnt. Würde seine Nennung doch Wunden aufreißen und jeden mit dem eigenen Schmerz konfrontieren.

In diesem Schweigen lag und liegt noch heute so viel Schweres, so viel Dunkles, so viel Angst. Nicht der Tod ist das Grauen, sondern das Schweigen über ihn. Dieses Schweigen ist das Trauma meines Lebens. Nicht der Verlust meines Bruders, wenngleich dieser unendlich schmerzvoll und unbegreiflich war. Und immer noch ist.

Lange Zeit hatte ich das Gefühl - und habe es auch heute noch manchmal - dass ich ihn verrate, wenn ich aufhöre zu trauern. Dass ich ihm dann nicht die Treue halte.

Jahre später initiierte ich zweimal einen Familienausflug am Geburtstag meines Bruders. Aber auch hier waren wir nicht imstande, über all das zu sprechen. Mir wurde bewusst, dass ich es genauso wenig kann, wie die anderen. Jahrelang trainiertes Schweigen kann man nicht plötzlich ablegen.

Der Tod meines Bruders jährt sich kommendes Jahr zum 30. Mal. Die Hoffnung, gemeinsam mit meiner Familie Trauerarbeit leisten und etwas aufarbeiten zu können, habe ich längst aufgegeben. Ich habe meine Familienangehörigen über Jahre hinweg sehr gefordert, sie konfrontiert, Gespräche gesucht, Antworten, Erklärungen, habe gekämpft. Und irgendwann akzeptiert: was wir jahrzehntelang versäumt haben, können wir jetzt nicht mehr aufholen.

Hat ein Kind, das ein Geschwister verloren hat, ein Recht auf den Trost der Eltern, die selbst mit einem unbeschreiblichen Verlust zurechtkommen müssen? Ich denke ja. Ob es gelingt, diesen Trost wirklich zu spenden, ist eine andere Frage."

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Christina E., 41, Augsburg, Erziehungswissenschaftlerin

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