Familie & Partnerschaft:Plötzlich Mama

Gesellschaft

Illustration: Lisa Bucher

Sarah ist 26 Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Zurück bleibt der Schmerz, zwei kleine Mädchen und die Frage: Kann sie für die Pflegekinder vom Schwestern- zum Mama-Ersatz werden?

Von Hannes Vollmuth

Wann das Muttersein angefangen hat, weiß Sarah nicht genau. Sie war ja nicht schwanger, es gab keine Geburt, kein erstes Bild mit Säugling im Krankenhausbett. Sie kannte ihre Kinder schon, bevor sie ihre Kinder wurden.

Trotzdem hat das Muttersein wohl auch bei ihr im Krankenhaus angefangen. Sarah sitzt auf dem Besucherstuhl, ihre Mutter liegt im Bett mit Armen voll gelber Flecken, die Venen zerstochen von der Chemotherapie. Sarah erinnert sich an die Oktobersonne draußen vor dem Fenster.

Die Mutter sagt zu ihr: Es wäre schön, wenn du auf sie aufpasst. Luisa und Amelie, ihre Pflegekinder seit fünf Jahren. Sie sagt: Es wäre schön. Und nicht: Sarah, du musst. Vier Wochen später ist Mama tot. Sarah sagt immer Mama.

Sie ist damals 26 Jahre alt, hat einen Mann, einen 40-Stunden-Bürojob in der Automobilbranche, ein Haus. Eigene Kinder hat sie noch nicht.

Die Mutter ist tot. Die Kinder brauchen eine neue. Also soll es die Schwester richten

Für die Mädchen ist Sarah die ältere Schwester, eine Art Tante. Nun ist Mutter tot, und die Kinder brauchen eine neue.

Sarah kann sich gut an früher erinnern, wie die Mutter immer da war für sie, wenn sie mit dem Schulranzen nach Hause wackelte. Wie sie jeden Mittag kochte, spielte, tröstete, Gute-Nacht-Geschichten vorlas - Liebe im Überfluss. Wie sie bei Sarahs Auszug half und danach unter der Stille zu Hause litt. Sarahs Vater, Elektriker, arbeitete 50 Stunden pro Woche und mehr. Sarah sagt: "Mama brauchte eine neue Aufgabe. Sie wollte Pflegekinder, ganz kleine."

In Deutschland leben 65 000 Kinder bei Pflegeeltern. Die meisten kennen die Familie vorher nicht, bei der sie unterkommen werden. Das ist so gewollt von den Jugendämtern, eine neue Beziehung soll her, unbelastet und professionell. Manchmal werden aber auch aus den Großeltern Pflegeeltern, aus Freunden, Kollegen oder Geschwistern. Alle diese Menschen machen das freiwillig. Dass jemand einfach reinrutscht so wie Sarah, passiert selten.

Heute sitzt Sarah am Küchentisch, eine große Frau mit langen, dunklen Haaren, die glitzernden Nagellack trägt und eine weiße Bluse. Unter ihrem eigenen Namen will sie nicht erzählen, damit niemand tratscht im kleinen Ort und ungefragt mitredet. Ihr Haus steht am Rande des Dorfes neben einem Weizenfeld und einer blühenden Streuobstwiese. Der Rasen vor dem Haus leuchtet frisch gemäht, darauf ein Trampolin, silberne Stangen, schwarzes Fangnetz, das Sprungtuch ist leer. Vor dem Küchenfenster hört man Kindergeschrei, auf der Anrichte stehen eine Kerze und drei Fotos: Mutter, Mutter mit Sarah, Mutter im letzten Urlaub. Daneben vier Holzbuchstaben: Love. Viel Zeit hat sie nicht. "Die Mädchen sind mit ihren Hausaufgaben noch nicht fertig."

Als vor sieben Jahren Luisa und Amelie, Schwestern, damals fünf und drei, endlich im Haus der Eltern ankommen, besucht Sarah sie jeden Dienstag. Da ist Familientag. Es fühlt sich gut an: bei den Hausaufgaben helfen, spielen, zum Abendessen rufen, kurz vor sechs, das waren Mutters Zeiten und Regeln. Und dann das Licht im Kinderzimmer ausknipsen, so leise es nur geht. Die Mutter sagt: Mit viel Geduld und Liebe kriegst du jedes Kind in einen Rahmen.

Jeder sucht seinen Weg durch die Trauer

Vier schöne Jahre. Vier kurze Jahre. Alle lieben Amelie und Luisa. Und Amelie und Luisa lieben die Mutter, auch sie sagen: Mama. Dann wuchert der Krebs.

Nach dem Tod der Mutter fällt Sarah in ein Loch. Halt kann ihr eigentlich nur ihr Mann Christian geben, ein großer Kerl mit lachenden Augen, der ihr immer zuhört, auch wenn sie in dieser Zeit lieber schweigt.

Natürlich sind da noch Luisa und Amelie, die Pflegekinder, acht und zehn, die nun alleine bei Sarahs Vater wohnen in dem stillen Haus. Sarah reißt sich zusammen, sie will vor ihnen nicht in Tränen ausbrechen, sie weinen eh schon genug. Also versucht sie, die Starke zu sein: für die Kinder einkaufen gehen, bügeln, kochen. Jeder sucht seinen Weg durch die Trauer. Der Vater schweigt, die Mädchen weinen, Sarah funktioniert irgendwie. Sie nimmt zehn Kilo ab in zwölf Wochen.

Zwei Monate später meldet sich das Jugendamt, die Kinder brauchen eine Familie, eine ganze Familie, mit Mutter. Zu den leiblichen Eltern der Mädchen gibt es keinen Kontakt. Aber mit einer neuen Familie wird es auch schwierig, sagt das Jugendamt. Pflegeeltern wollen niedliche Kinder. Keine Mädchen in der Pubertät.

Am Anfang war das mit der Verantwortung ungewohnt. "Glaubst du, wir schaffen das?"

Drei Tage redet Sarah mit ihrem Mann, auch über ihre Familienplanung. Natürlich möchten sie irgendwann mal eigene Kinder. Aber das will ich jetzt für Mama machen, sagt sie schließlich. Also schreiben sie Anträge für die Pflegeelternschaft, besuchen Infoabende, ackern sich durch Unterlagen, verfassen Lebensberichte, beantragen das polizeiliche Führungszeugnis, besorgen ärztliche Atteste, um sämtliche Auflagen des Jugendamts zu erfüllen. Auf einem Seminar für Pflegeeltern spürt Sarah die Blicke der anderen Teilnehmer. Sie ist 27 Jahre alt, die Mädchen könnten ihre Schwestern sein. Wie soll das gehen?

Im Juni 2013 hält ein Auto vom Jugendamt vor dem Haus, auf der Rückbank die Mädchen, im Kofferraum viele Taschen. In den Wochen zuvor haben Sarah und Christian zwei Zimmer ausgeräumt und gestrichen, das eine lila, das andere mintgrün. Sie verschrauben Bretter und Verstrebungen zu Betten. Auf die Nachtschränke stellen sie Lampen und Wecker mit Ziffernblättern groß wie Untertassen. Das Haus verwandelt sich: ein neuer Esszimmertisch für sechs Personen, acht neue Kochbücher, dazu Kochtöpfe in Eimer-Größe, in der Garage bunte Roller und Mountainbikes. Am Ende tragen sie noch ein Trampolin in den Garten.

Als das Jugendamt am Abend wegfährt, macht Sarah Spaghetti Bolognese. Danach zünden sie gemeinsam eine Kerze an, und Luisa und Amelie sagen: Die Mama ist im Himmel. Über was redet man bloß mit Zehnjährigen, fragen sich Sarah und Christian und setzen sich mit ihnen vor den Fernseher. Nachts im Bett fragt sie ihren Mann: Glaubst du, wir schaffen das?

Die erste schlechte Note, der erste Streit, der erste Urlaub

Am nächsten Tag beschließt sie: Entweder es klappt oder eben nicht. Mama ist das Fundament, das schweißt zusammen, auch nach ihrem Tod. "Aber am Anfang", sagt Sarah, "war das mit der ganzen Verantwortung ungewohnt."

Vieles passiert jetzt zum ersten Mal: das erste Sonntagsfrühstück mit Kakao und frisch gepresstem Orangensaft. Der erste Elternabend. Der erste Besuch beim Kinderarzt, mit Vollmachten vom Vormund. Das erste Mal einkaufen gehen mit den Mädels, Jeanshosen bedruckt mit Blumen und T-Shirts mit Glitzerbesatz. Die erste schlechte Note. Der erste Streit. Der erste Urlaub in einem Ferienhaus an der Müritz. Das erste Weihnachten zu viert. Das erste Mal zwei kleine Hände halten, eine links und ein rechts, auf dem Weg zur Eisdiele.

Irgendwann kauft Christian einen zweiten Fernseher, weil er nicht ständig "Violetta" und "Germany's next Topmodel" sehen will. Es ist wie bei einem Magnetfeld, das sich neu ausrichtet, weil zwei weitere Magnete dazugekommen sind.

Einmal steht eine fremde Mutter vor der Tür und beschwert sich über Amelie, die mit ihrer Tochter in eine Klasse geht. Amelie sei gemein zu ihrer Tochter, sagt die Frau. Und Sarah denkt: Irgendwie lächerlich, 3. Klasse. Was einem mit Kindern alles so passiert.

Ansonsten erinnert sich Sarah kaum mehr an etwas aus diesen ersten Monaten. Sie kommt gar nicht zum Nachdenken, sie hat einfach keine Zeit.

Zwei Jahre später arbeitet sie nur noch 30 Stunden pro Woche, aber zu Hause ist immer irgendwas los. Christian hat inzwischen Rückenschmerzen, weil Luisa so gerne an seinen Oberarmen turnt. "Und dieses ständige Trödeln und das Geschnatter im Haus", sagt Sarah. Seit Kurzem gibt es auch noch diese voll süßen Jungs in der Nachbarschaft.

Es ist schwer zu sagen, wer in dieser Zeit wem mehr hilft. "Angst", sagt Sarah, "hatte ich nicht." Die Mutter war zwar nicht mehr da, die konnte sie nicht mehr um Rat fragen. Aber sie erinnert sich natürlich: Wie sie Frühstück für die Kleinen macht. Wie sie tröstet, wie sie schimpft und die Mädchen zum Aufräumen in ihre Zimmer scheucht. Ihre Ordnung gibt Halt.

Die Mutter bleibt auch nach ihrem Tod ein wichtiger Bezugspunkt. Sarah fühlt sich ihr nahe, indem sie weiterführt, was Mama begonnen hat.

Amelie hat vor Kurzem von einer Freundin erzählt, die sagte: Deine Mama ist aber uncool

Natürlich müssen die Hausaufgaben heute auch gleich nach der Schule gemacht werden. Um sechs Uhr: Abendessen. Amelie muss kurz vor acht ins Bett, Luisa um halb neun. Eine Woche hilft die eine in der Küche, dann die andere. Und Fernsehen natürlich nur am Abend. Hobbys wie Tanzen und Chor sind gut, aber bitte schön regelmäßig und immer gut üben. Ein Handy gibt es erst mit 13, auch wenn das Geschrei groß ist. Amelie hat Sarah vor Kurzem erzählt, dass eine ihrer Freundinnen nach der Schule zu ihr sagte: Deine Mama ist aber uncool.

Es ist später Nachmittag geworden in dem Haus am Dorfrand. Die Tür fliegt auf, und Amelie steht am Küchentisch. "Ich weiß nicht mehr weiter in Englisch", plappert sie los, ein flachsblondes Mädchen im lila T-Shirt. Dann erzählt sie von der Freundin und von der Freundin der Freundin und wie die heute im Unterricht den Kunstlehrer fotografiert hat und der Kunstlehrer, wie der letzte Woche wieder im Aufzug stecken geblieben ist, und übrigens, der Musiklehrer . . . "Ach Gott", sagt Sarah, "der Musiklehrer." Einen Moment später sind beide verschwunden: Hausaufgabenkontrolle.

Es ist, als hätten Sarah und Christian zehn Jahre übersprungen

Am Anfang haben Sarahs und Christians Freunde noch gefragt: Habt ihr euch das gut überlegt mit den Kindern? Aber nach drei Jahren haben die beiden schon fast vergessen, wie das war, früher: Last-Minute-Reise nach Zürich und spontane Besuche beim Italiener, auch mal bis spät in die Nacht, man konnte ja immer ausschlafen. Es ist, als hätten Sarah und Christian zehn Jahre übersprungen, sie wurden hineinkatapultiert in eine andere Zeit. Die Elternzeit. Ihre Freunde, die inzwischen eigene kleine Kinder haben, reden über Windeln und Krippenplätze. Christian und Sarah überlegen gerade, ob Amelie als zweite Fremdsprache Latein wählen soll.

"Man ist ja auch stolz", sagt Sarah. Richtig stolz, wenn Amelie im Schulchor beim Adventskonzert singt, erste Reihe. Oder wenn Luisa auf der Faschingsbühne tanzt, in silbernen Leggings und einem Kleid in Neonfarben. Auch ihre Mutter wäre stolz. Auf die Kinder. Auf Sarah und Christian. Wie alles klappt, nach ihren Regeln, ihren Zubettgehzeiten, ihrer Hausaufgabenkontrolle, ihrer Liebe. Als wäre sie lebendig in all diesen Dingen.

Sarah ist jetzt 29 Jahre alt. Irgendwann will sie eigene Kinder haben. Dabei hört sie sich schon längst an wie eine Mutter. Eine echte Mama.

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