Familie:Und plötzlich lassen sich deine Eltern scheiden

Ehen werden immer später geschieden - und hinterlassen Scheidungskinder, die keine Kinder mehr sind. Für Saskia Timm bricht mit Anfang 20 eine Welt zusammen.

Von Sophie Burfeind

Wann Saskia Timm die Mail bekam, die ihre heile Welt zerbrechen ließ, weiß sie nicht mehr genau. Diese Zeit ist wie von einem dichten Nebel verschluckt, sie erinnert sich nur noch daran, dass sie gerade in Kanada war für ein Auslandssemester. Auf einmal war da die Nachricht ihres Vaters: "Ich muss dir etwas sagen." Mutter will sich scheiden lassen, sagte er, als sie anrief. Saskia Timm, damals 22 Jahre alt, konnte es nicht glauben. Getrennt hatten sich doch immer nur die Eltern der anderen.

Als sie ein halbes Jahr später zurück in Deutschland war, sagte ihre Mutter, dass sie seit Jahren unglücklich sei mit ihrem Leben, dass sie sich für Saskia und ihren Bruder aufgeopfert habe. Damit müsse nun Schluss sein, nach 21 Jahren Ehe. Außerdem seien die beiden ja jetzt groß.

Immer mehr Ehen werden später geschieden

Saskia Timm, die in Wirklichkeit anders heißt, ist heute 29. Das, was sie vor sieben Jahren erlebt hat, erleben immer mehr Kinder in Deutschland. Seit etwa 20 Jahren werden Ehen zunehmend später geschieden: 1993 waren es noch 14 300 Ehen, die nach 26 und mehr Jahren geschieden wurden, 2014 schon 23 600 - immerhin knapp 15 Prozent aller Scheidungen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass auch die Anzahl erwachsener Scheidungskinder steigt. Wie viele es sind, ist nicht erfasst, in die Scheidungsstatistik gehen nur minderjährige Kinder ein.

Auch in der Öffentlichkeit wird kaum über jene Kinder gesprochen, die gerade erwachsen sind, wenn die Eltern sich trennen. Vielleicht, weil man davon ausgeht, dass es für jemanden, der schon erwachsen ist, nicht so schlimm sein kann.

Für Saskia Timm war es das aber. Sie sagt: "Ich dachte immer, wir waren eine glückliche Familie." Und plötzlich erzählt ihr die Mutter das Gegenteil.

Viele Beziehungen gehen kaputt, wenn die Kinder aus dem Haus sind und die Eltern wieder zu zweit zurechtkommen müssen. "Viele Paare halten zusammen, solange sie im beruflichen und familiären Aufbau sind", sagt der Paartherapeut Michael Cöllen aus Hamburg. "Wenn das erfüllt ist und die Kinder erwachsen, zerbrechen diese Beziehungen."

"Sie verlieren den Glauben an die Liebe"

Für jedes Kind sei die Trennung der Eltern schlimm, sagt Cöllen. Die Folgen aber seien für 15- bis 25-Jährige am gravierendsten. Jüngere Kinder könnten noch leichter ganz eigene Wege finden, glaubt er, und ältere Kinder Trost und Halt in festen Partnerschaften oder in der eigenen Familie erfahren. Schwieriger sei es für diejenigen, die nach Orientierung suchten und für die das Elternhaus noch der wichtigste Anlaufpunkt sei. Sie können in eine tiefe Krise stürzen, wenn bestimmte Annahmen plötzlich an Gültigkeit verlieren, sagt Cöllen. "Sie verlieren nicht nur eine heile Welt, sie verlieren auch den Horizont, die Richtung und den Glauben an die Liebe."

Das wirke sich wiederum auf die Liebesbeziehungen der Kinder aus. "Es gibt heute ja kaum noch Vorbilder für die Liebe", sagt der Paartherapeut. "Meistens sind es die Eltern, die Kinder als liebendes Paar erleben." Zerbricht deren Ehe nach vielen Jahren, zerbricht auch das, woran die Kinder geglaubt haben. In der eigenen Beziehung kann das zum Problem werden: "Das junge Paar wird sich schwören, es anders zu machen. Aber es gibt jetzt einen Misstrauensfunken: Kann ich bei dir sicher sein?"

Einmischen oder raushalten?

Auch Saskia Timm sagt: "Ich dachte immer, wenn man die richtige Person kennen lernt, dann klappt das schon. Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher."

Die 29-Jährige erzählt, sie habe darunter gelitten, zu Hause plötzlich zwischen den Fronten zu stehen - obwohl sie sich mit Mutter und Vater gut verstand. Der verletzte Vater schüttete ihr das Herz aus und redete schlecht über die Mutter; als es um Unterhalt ging, fragte die Mutter sie nach den Finanzen des Vaters aus. Beide sprachen nicht mehr miteinander, nur noch mit der Tochter. "Das hat mich geärgert, ich wollte keine Zeugenaussagen für die Scheidung machen", sagt sie.

Genau das ist der größte Unterschied zu jüngeren Kindern, die dem Konflikt der Eltern relativ hilflos ausgesetzt sind: Wer schon älter und unabhängig von Mutter und Vater ist, kann reflektierter mit deren Krise umgehen. Das ist Vorteil und Nachteil zugleich - denn dazu müssen sich die Kinder bewusst entscheiden, wie sie sich verhalten. Einmischen oder raushalten?

Zu Hause nur noch zu Gast

Michael Cöllen findet, die Kinder sollten sich einmischen. "Sie sollen Stellung beziehen, den Eltern Rückmeldung geben, wie sie deren Verhalten wahrnehmen, und auch Kritik üben am Verhalten." Sie sollten mit den Eltern Streitgespräche führen, sich aber nicht missbrauchen lassen und Partei ergreifen. "Das Ziel soll sein, dass die Eltern sich nicht sinnlos trennen und auf eine unwürdige Weise", sagt er.

Ganz anders sieht das Paartherapeutin Andrea Bräu aus München. Sie hält nichts davon, dass Kinder sich als Vermittler in den Konflikt der Eltern einschalten: "Ich bin das Kind, ich liebe beide gleich und sollte mich deswegen nicht auf die Seite eines Elternteils schlagen." Die Beziehung der Eltern gehe das Kind nichts an - noch dazu, weil die Gefahr zu groß sei, sich doch instrumentalisieren zu lassen. Normalerweise ergreife man nämlich automatisch Partei für den Schwächeren.

Saskia Timms Eltern haben noch ein Jahr lang zusammengewohnt, ohne miteinander zu reden. Dann ist ihre Mutter in eine andere Stadt gezogen. Allein. Warum, wollte sie ihrer Tochter erst nicht sagen. Erst vor zwei Jahren erklärte sie, dass es einen anderen Mann gebe. Die 29-Jährige besucht ihre Eltern heute abwechselnd, beide haben inzwischen neue Partner. Saskia Timm vermisst ihr Zuhause. Sie sagt: "Jetzt bin ich nur noch Gast."

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