Familie:Für immer zu zweit

Familie: Clara Schneider ist sich sicher: Ihr ungeborener Zwillingsbruder ist auf dem Bild, das sie mit vier Jahren gemalt hat, zu sehen. Er schwebt links neben der erneut schwangeren Mutter, die Figur daneben soll sie selbst sein.

Clara Schneider ist sich sicher: Ihr ungeborener Zwillingsbruder ist auf dem Bild, das sie mit vier Jahren gemalt hat, zu sehen. Er schwebt links neben der erneut schwangeren Mutter, die Figur daneben soll sie selbst sein.

(Foto: privat)

"Alleingeborene", so nennen sich Menschen, die glauben, einen Zwilling gehabt zu haben - der lange vor der Geburt gestorben ist.

Von Marlene Mengue und Michaela Schwinn

Clara Schneider* steckte ein Büschel ihrer Haare in eine Streichholzschachtel und vergrub sie in der Erde am anderen Ende der Welt, am Titicaca-See in Peru. "Es war der perfekte Ort, um sich von Jonathan zu verabschieden", sagt sie. Von Jonathan, ihrem Zwillingsbruder. Es war eine symbolische Beerdigung, so, wie es ihre Therapeutin empfohlen hatte. Das Ritual, das sie während eines Aufenthalts in Peru abhielt, sollte ihr dabei helfen, ihren Bruder loszulassen, der wie ihre Haarsträhne auch ein Teil ihres Lebens war. Zumindest glaubt sie das. Denn ob Jonathan je existiert hat, weiß sie nicht.

Clara Schneider ist überzeugt, ein alleingeborener Zwilling zu sein. Sie vermutet, dass ihr Bruder in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten im Mutterleib starb und noch vor der ersten Ultraschalluntersuchung aus ihrem Leben verschwand. Mediziner nennen diese Fälle "vanished twins" - die "verschwundenen Zwillinge". In Foren und sozialen Netzwerken sammeln sich Betroffene, die um ihre verlorenen Geschwister trauern. Tatsächlich bestätigt die Forschung, dass es nach der Zeugung viel mehr Zwillinge gibt, als schließlich auf die Welt kommen. Wie oft dies auftritt, ist jedoch strittig. "Eine Einschätzung ist deswegen so schwierig, weil Mehrlinge häufig vor der ersten Ultraschalluntersuchung absterben", sagt Annegret Geipel, Leiterin der Pränatalen Medizin am Universitätsklinikum Bonn.

Etwa 10 000 Zwillinge kommen in Deutschland jährlich zur Welt. Wegen ihrer engen Bindung geht von ihnen eine eigene Faszination aus, auch die Wissenschaft interessiert sich für diese besonderen Geschwisterpaare. Anhand von eineiigen Zwillingen soll etwa erforscht werden, ob die Identität durch die Gene oder die Umwelt bestimmt wird. Weitgehend unerschlossen ist hingegen das Feld der vorgeburtlichen Wahrnehmung. Noch vor 50 Jahren gingen Wissenschaftler davon aus, dass ungeborene Kinder keinerlei Empfindungen haben. Heute weiß man, dass Föten ihre Umgebung bewusst erleben: Sie spüren das Streicheln der Mutter auf dem Bauch, merken sich die Stimme des Vaters. Ultraschallfotos zeigen, wie Zwillinge im Mutterleib die Nähe des anderen suchen.

Ob der frühe Tod eines Zwillings aber tatsächlich Auswirkungen auf das spätere Leben hat, ist in Medizin und Psychologie umstritten. "Zwischen den Zwillingsgeschwistern befindet sich nur eine dünne Membran, sie haben Kontakt", sagt die Pränatalmedizinerin Annegret Geipel. "Aber dass ein Zwilling nach dem vorgeburtlichen Tod des anderen unter Verlustängsten leidet, wie viele behaupten, halte ich eigentlich für ausgeschlossen."

Unerklärliche Trauer, ständige Unruhe und Schuldgefühle - doch das Phänomen der Alleingeborenen kann wissenschaftlich nicht bewiesen werden

Als Clara Schneider vor sechs Jahren eine Therapeutin aufsuchte, hatte sie noch nie etwas von alleingeborenen Zwillingen gehört. Es ging ihr schon lange nicht mehr gut: Sie litt unter Kopfschmerzen, war unkonzentriert und rastlos. "Oft habe ich ohne Grund die Nächte durchgeweint", sagt die 25-Jährige. Die Schulmediziner konnten ihr nicht helfen, also empfahl ihre Mutter eine Therapie. Der Heilpraktikerin Ulrike Lichtenberg erzählte sie in der ersten Sitzung von ihrem übervollen Alltag, bis zur Erschöpfung engagierte sie sich in Vereinen und in der Schülervertretung. Sie erzählte auch von der Wut auf ihre jüngere Schwester: "Ich habe sie bis in die Jugend hinein schlecht behandelt. Ich war so sauer auf sie, weil ich mir immer einen Bruder gewünscht habe."

Nach vielen Gesprächen war die Therapeutin überzeugt: Ihre Klientin konnte nicht alleine im Mutterleib gewesen sein. "Unerklärliche Trauer und Schuldgefühle sind typische Probleme Alleingeborener", sagt Ulrike Lichtenberg. Mit ihrem Verhalten wolle Clara Schneider den Verlust ihres toten Geschwisterchens kompensieren, ein Leben für zwei führen. Die Patientin war skeptisch, auch ihre Mutter wusste nichts von einer Zwillingsschwangerschaft. Erst als sie alte selbstgemalte Kinderbilder heraussuchte, wurde Clara Schneider stutzig. Dort entdeckte sie einen Jungen, der neben ihr und ihrer Mutter über eine Blumenwiese schwebte. Ihr Bruder? War er es auch, den sie auf einem anderen Bild zusammen mit sich selbst in den Bauch der Mutter gemalt hatte? "Zuerst konnte ich es nicht glauben", sagt sie, "dann war ich erleichtert, weil ich wusste, wo meine Trauer und Wut herkommen."

Doch Clara Schneiders Gewissheit ist nur eine Ahnung. Denn auf dem wichtigsten Bild fehlt Jonathan: dem Ultraschallschallbild. Die meisten Betroffenen haben wie Clara Schneider keinen medizinischen Nachweis. In neunzig Prozent der Fälle verlassen die Föten den Körper vor der zwölften Schwangerschaftswoche durch eine Blutung oder sie verschmelzen mit der Plazenta.

Ab und zu hört man von Patienten, deren mutmaßliches Geschwür nach der Operation als Fremdkörper eines anderen menschlichen Wesens identifiziert wird. Meist ist dabei aber nicht klar, ob das die Überreste eines abgestorbenen Zwillings sind oder die Gewebereste eines nicht ausgetragenen älteren Geschwisterkindes, die nie abgestoßen wurden. Einzelne Zellen wandern hingegen durchaus hin und her, was in den USA einmal zu einem skurrilen Fall führte: Ein Paar brachte nach einer künstlichen Befruchtung ein Kind zur Welt, dessen Gene nicht mit denen des Vaters übereinstimmten. Eine Analyse zeigte, dass das Baby genetisch der Sohn seines ungeborenen Zwillingsbruders sein musste. Die im Mutterleib aufgenommenen Zellen waren offenbar Keimbahnzellen, die sich später in Spermien entwickelten. Durch das Genmaterial in den Spermien konnte ein ungeborener Mann der biologische Vater werden. Dies ist allerdings ein Einzelfall: Nur bei sehr wenigen Mehrlingsschwangerschaften kommt es zu solch einem Austausch der DNA.

Der frühe Verlust eines Fötus geschieht für Mütter meist unbemerkt. Für das überlebende Kind hingegen kann er weitreichende Folgen haben, davon sind einige Therapeuten überzeugt. "Der Zwillingsverlust ist eines der gravierendsten Erlebnisse vor der Geburt", glaubt etwa Ilka-Maria Thurmann. Die Diplompädagogin und Kinder- und Jugendtherapeutin arbeitet seit vielen Jahren mit Alleingeborenen. Die Fälle machen ein Fünftel ihrer Klienten aus. Viele Betroffene kämen mit einer unerklärlichen Trauer in ihre Praxis, gemeinsam versuche man, den Grund dafür zu finden. Mitunter führe das zu der Annahme, dass es mal einen verlorenen Zwilling gab. Zur Therapie gehöre dann auch, sich von ihm zu verabschieden.

Die Symptome der Betroffenen sind verblüffend ähnlich, berichten Therapeuten. Viele kaufen Schuhe, Pullover, Hosen doppelt ein, richten die Möbel in ihrer Wohnung symmetrisch aus und erleben häufig Konflikte in Partnerschaften, weil sie keine Nähe zulassen oder zu viel davon fordern. "In Beziehungen tendieren Alleingeborene dazu, im anderen den eigenen Zwilling zu suchen", sagt auch Ulrike Lichtenberg, die Clara Schneider behandelt hat. "Die Betroffenen sind häufig von ihren Partnern enttäuscht, wenn diese ihnen die früh erfahrene Nähe nicht bieten können. Andere Beziehungen kommen gar nicht erst zustande. Aufgrund von Verlustängsten können sich manche Alleingeborene überhaupt nur schwer auf eine Partnerschaft einlassen." Die Alleingeborenen leiden ihr zufolge auch körperlich, sie sehnen sich danach, den anderen zu spüren, und suchen sich deshalb einen Ersatz für ihren verloren geglaubten Zwilling.

Stefan Bergers Ersatz ist weiß und flauschig. Ohne sein Stoffschaf kann er nicht einschlafen. "Ich habe lange Panik bekommen, wenn ich nachts aufgewacht bin und das Tier nicht da war", erinnert sich der 45-Jährige. Auch er glaubt, seinen Zwilling verloren zu haben. Eigentlich ist er ein rationaler Mensch, doch dann machte ihn durch Zufall eine Kartenlegerin auf eine Schwester aufmerksam. Stefan Berger wusste nicht, was sie meinte. "Ich habe doch nur einen älteren Bruder", sagt er.

Stefan Berger begann, in Fachbüchern und Foren zu recherchieren; vieles, was er dort las, kam ihm bekannt vor. "Ich war ständig auf der Suche, und in meiner Familie fühlte ich mich als Fremder." Mit seinem älteren Bruder konnte er nie etwas anfangen, er sehnte sich nach einer Schwester. Auch hatte er immer wieder über Gallenkoliken geklagt, ohne medizinischen Befund. Doch seit er von der Möglichkeit wisse, dass da mal ein Zwilling gewesen sein könnte, seien die Schmerzen weg. Vielleicht, weil er nicht mehr so angespannt sei wie früher, glaubt er.

Heute sei er bei sich angekommen. "Wenn ich Probleme habe, rede ich mit Jules", sagt Stefan Berger, so hat er seine Schwester genannt. Ob die Antworten auf seine Fragen von ihr sind oder ob er sich eigentlich selbst helfe, sei für ihn nicht wichtig. "Ich vermisse sie, wir wären ein unschlagbares Gespann."

Weil das Phänomen der alleingeborenen Zwillinge wissenschaftlich kaum erforscht ist und nicht bewiesen werden kann, gibt es viele Skeptiker. Auch Karl Heinz Brisch, Bindungspsychologe und Chef der Psychosomatik am Haunerschen Kinderspital in München, sieht die Erklärungsversuche der Betroffenen kritisch. Ängste, Einsamkeit oder Unruhe passten auch zu anderen Befunden. "Die Symptome nur auf den Zwillingsverlust zurückzuführen, finde ich zu einfach und zu kurz gegriffen", sagt er. "Das ist eine sehr spekulative Annahme."

Die Therapeutin Ilka-Maria Thurmann wünscht sich mehr Studien, um mit Fakten überzeugen zu können. "Ich merke aber, dass sich das Leben meiner Klienten nach der Therapie positiv verändert, und zwar drastisch." Auch Clara Schneider sieht heute vieles mit anderen Augen, weil sie eine Erklärung für ihr Verhalten gefunden zu haben glaubt. Auch die Beziehung zu ihrer Schwester habe sich verbessert. Doch der Neuanfang, den sie sich von ihrer Therapie erhofft hatte, blieb aus: Ihre gesundheitlichen Probleme kamen wieder. Stefan Berger hatte hingegen nie das Bedürfnis, einen Therapeuten aufzusuchen. Auch wollte er sich nicht von seiner Schwester verabschieden, im Gegenteil: "Viele sehen nur den Verlust, aber ich sehe es als Geschenk."

(*Name von der Redaktion geändert)

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