Expertentipps zur Erziehung:"Zu faul zum Sprechen? Das gibt es nicht"

Während das eine Kind schon vor dem ersten Geburtstag sagen kann, was es will, verständigt sich das andere noch mit zwei Jahren lieber mit Gesten. Psychologin Sabine Frevert erklärt, warum Eltern ihr Kind auf keinen Fall zum Sprechen zwingen sollten.

Katja Schnitzler

Unterschiede in der Entwicklung von Kleinkindern fallen den Eltern spätestens dann auf, wenn andere fragen: "Spricht es denn noch nicht?" Die Psychologin Sabine Frevert ist beim Bielefelder Institut für frühkindliche Entwicklung Expertin für Entwicklungsdiagnostik und hält Fortbildungen für Erzieher und Lehrer ab. Im Interview erklärt sie, warum Eltern von späten Sprechern trotz nervender Fragen entspannt bleiben können und sollten.

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Im Kopf sind die Wörter schon, nur wollen sie nicht immer herauskommen: Sogenannte "späte Sprecher" suchen dann nach anderen Möglichkeiten der Kommunikation.

Süddeutsche.de: Das eine Kleinkind spricht in ganzen Sätzen, das andere hat gerade erst "Mama" gesagt - und alle werden nervös, wenn es mit 14 Monaten noch immer nur krabbelt und brabbelt. Können Sie die Eltern beruhigen?

Sabine Frevert: Eltern müssen sich eines klarmachen: Bei jungen Kindern sind Unterschiede in der Entwicklung normal - bis zu einem gewissen Grad ist das völlig im Rahmen, auch bei der Sprachentwicklung. Manche sprechen schon mit zehn Monaten Zwei-Wort-Sätze, andere erst mit 14 Monaten ein paar Worte. Die meisten Kinder sagen mit eineinhalb Jahren etwa 50 Wörter und schalten dann bis zum zweiten Geburtstag einen Gang hoch. Wissenschaftler nennen das den "Wortschatzspurt". Mit diesem Sprint beginnen die Kinder, Sätze mit zwei Worten zu bilden, zum Beispiel "Mama Schere".

Süddeutsche.de: Wie viele Kinder fallen aus diesem Zeitraster?

Frevert: Relativ viele sind "späte Sprecher", nämlich 14 bis 20 Prozent: Diese Kinder sagen mit 24 Monaten noch keine 50 Wörter. Die "späten Sprecher" sollte man schon im Auge behalten - was aber nicht notwendigerweise bedeutet, dass sie Entwicklungsdefizite haben. Bis zum dritten Geburtstag hat die Hälfte von ihnen den Rückstand wieder aufgeholt und spricht eifrig. Die andere Hälfte sollte nun aber tatsächlich gefördert werden. Ob ein Kind sein Sprachdefizit mit drei Jahren aufgeholt hat, wird nicht mehr an der Menge der Wörter festgemacht. Wichtig ist dann der Satzbau, das Kind sollte jetzt in ganzen Sätzen sprechen können, zum Beispiel "Da steht Annes Fahrrad".

Süddeutsche.de: Müssen diese Kinder zur Sprachtherapie?

Frevert: Zweijährige "späte Sprecher" nicht unbedingt. Wichtig ist, dass sie im Alltag gefördert werden und die Eltern dabei gut beraten werden. Zum Beispiel von einem Logopäden oder beim Heidelberger Elterntraining, das speziell den Eltern von "späten Sprechern" Tipps gibt.

"Nutzen Sie den Alltag"

Süddeutsche.de: Was raten Sie diesen Eltern?

Frevert: Es soll kein Druck entstehen, damit die Kinder ihre Freude an der Kommunikation behalten. Wichtig ist, entspannte Gesprächssituationen zu schaffen. Sie können sich zum Beispiel abends Zeit für ein Bilderbuch nehmen und nicht nur die kurzen Texte vorlesen, sondern kleine Geschichten zu den Bildern erzählen - und dabei die Kinder mit einbinden, ohne sie abzufragen.

Süddeutsche.de: Also ist es mit "Wo ist die Kuh?" nicht getan?

Frevert: Besser sind Fragen wie "Was ist denn das für ein Tier? Oh, eine Kuh. Was macht denn die Kuh da?" Dabei sollten Eltern jeden Kommunikationsversuch des Kindes honorieren, wenn statt "Kuh" immer nur "Mmm" kommt, nicht auf das korrekte Wort drängen. Sondern das Angebot des Kindes aufgreifen und sagen, "genau, die Kuh macht muh. Und schau nur, sie frisst Gras." Wer das zehn Minuten jeden Abend macht, fördert sein Kind enorm.

Süddeutsche.de: Reicht das denn aus?

Frevert: Bei vielen Kindern: Ja. Eltern müssen um Gottes willen nicht immer auf das Kind einreden. Jede gestresste Mutter hat das gute Recht, auch mal schweigend mit dem Kind spazieren zu gehen. Aber man kann sich angewöhnen, mehrere "Sprachinseln" in den Tag einzubauen und zum Beispiel seine Alltagstätigkeiten nicht immer still zu verrichten, sondern sie sprachlich zu begleiten. So hören die Kinder dieselben Wörter immer und immer wieder - nur so erweitern sie ihr Vokabular und lernen die richtige Grammatik gleich mit. Ich kann schweigend den Tisch decken oder aber sagen "Jetzt decken wir den Tisch, wo sind denn die Gläser. Trägst du dein Glas selbst zum Tisch?" Gut ist es, sich zu überlegen, was mein Kind interessiert: Wenn der Sohn Baustellen liebt, schauen Sie dort öfter vorbei und sprechen Sie über Bagger und Kräne, deren Farben und was diese Maschinen gerade machen.

Süddeutsche.de: Manche Kinder ersetzen den fehlenden Wortschatz durch eine ganz eigene Lautsprache, die meist nur ihre Familien verstehen. Sollen Eltern für andere übersetzen?

Frevert: Ja, denn das Kind will ja kommunizieren und ein guter Gesprächspartner sein. Es kann nur einfach noch nicht sprechen. Also sollten sich Eltern kurz in das Kinderspiel einschalten und dem anderen Kind erklären "Ich glaube, er will den Bagger."

Süddeutsche.de: Andere "späte Sprecher" kommen auch mit Gesten gut klar, was gerade von Außenstehenden oft als "maulfaul" ausgelegt wird ...

Frevert: Das ist aber keine Faulheit. Wenn sie es können, werden die Kinder sprechen. Bis dahin sollte man ihnen helfen, indem man auf die Gesten eingeht, aber mit Worten. Wenn das Kind etwa auf das Milchglas zeigt, sagen die Eltern: "Du möchtest die Milch? Warte, ich gebe dir deine Milch gleich." Je öfter das Wort wiederholt wird, desto eher nimmt es das Kind in seinen Wortschatz auf. Und irgendwann kommt dann "Mi" statt der Geste.

Bloß nicht erpressen

Süddeutsche.de: Manche Eltern fordern aber: "Erst wenn du Milch sagst, kriegst du sie!" Ist das richtig?

Frevert: Stellen Sie sich vor, jemand verlangt von Ihnen etwas, das Sie einfach nicht können. Das ist doch frustrierend. Kinder kommunizieren immer auf dem Level, das ihnen möglich ist. Für sie ist das Gefühl wichtig, verstanden zu werden. Also sollten Eltern entspannt bleiben und auf Gesten und Laute der Kinder eingehen. Die Wörter kommen schon noch. Überhaupt machen Eltern intuitiv viel richtig.

Süddeutsche.de: Dann sind wir ja beruhigt.

Frevert: Das können Eltern auch sein. Nehmen wir zum Beispiel den sogenannten Babytalk: Wer mit Babys und Kleinkindern spricht, redet viel melodiöser, höher und in kurzen Sätzen. Das ist genau der richtige Weg, um sich in eine neue Sprache hineinzuhören. Stellen Sie sich vor, Sie kommen nach Finnland. Die Finnen kämen Ihnen sehr entgegen, wenn Sie in kurzen, melodiösen Sätzen mit Ihnen sprächen - dann würde Ihnen irgendwann ein Wort auffallen, das Sie schon einmal gehört haben. Manche Kinder brauchen diesen Babytalk länger, andere nicht so lange, aber da passen sich Eltern automatisch an. Wenn das Kind viele Wörter kennt, fangen Mütter und Väter von sich aus an, auf die Grammatik zu achten. Sagt das Kind "da hinnehört", antworten die Eltern "genau, da gehört der Baustein hin" - ganz zwanglos, ohne zu belehren.

Das andere Kind spricht nicht nur, es läuft auch schon und das eigene Kind krabbelt noch brabbelnd durchs Wohnzimmer. Das wäre nicht so schlimm, würden nicht Verwandte und Bekannte mehr oder weniger offen auf die Defizite des Nachwuchses hinweisen - und die Eltern in tiefe Zweifel stürzen: Hier finden Sie die neue Folge der Erziehungskolumne "Kinder - der ganz normale Wahnsinn".

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