Expertentipps zur Erziehung:"Freundschaften verbieten ist das allerletzte Mittel"

Dürfen Eltern den Kontakt zu Freunden verhindern, die ihren Kindern schaden? Psychologin Marion Pothmann darüber, welche Freunde das Kind stärken, welche ihm auf lange Sicht schaden und wie Eltern auf "falsche Freunde" reagieren sollten.

Katja Schnitzler

Eltern machen sich Sorgen, wenn ihre Kinder - egal in welchem Alter - in schlechte Gesellschaft geraten: Das kann der unerzogene Klassenclown in der Grundschule, aber auch die aggressiv auftretende Clique bei Jugendlichen sein. Psychologin Marion Pothmann erklärt, wann und wie Eltern eingreifen sollten.

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"... ich mach, was mir gefällt": Aufsässige Pippi-Langstrumpf-Kinder finden Eltern meist nur in Büchern komisch. Wenn der beste Freund ihres Kindes ein kleiner Satansbraten ist, würden manche gerne den Kontakt verbieten.

(Foto: g-mikee / photocase.com)

Süddeutsche.de: Vom Kleinkind bis zum Jugendlichen, was bedeuten Freunde den Kindern in den verschiedenen Altersstufen?

Marion Pothmann: Vor der Schule reicht für viele Kinder oft schon die bloße Anwesenheit eines Kindes, damit sie es als ihren Freund bezeichnen, auch wenn sie vom Wesen her sehr unterschiedlich sind. Für Eltern ist das oft keine "echte" Freundschaft, für die Kinder aber schon. Im Grundschulalter entstehen Freundschaften, wenn die Kinder gleiche Interessen haben, etwa beide gerne Fußball spielen. Bei Jugendlichen wird Inhalt und Qualtität der Freundschaft wichtiger. Es geht dann mehr um die eigene Identitätsentwicklung und die Abgrenzung von anderen: Wir beide sind gleich und anders als die anderen. Wir engagieren uns zum Beispiel stark gegen soziale Ungerechtigkeiten.

Süddeutsche.de: Schon Kindergartenkinder und Grundschüler haben Freunde, die einen schlechten Einfluss auf sie ausüben. In diesem Alter können Eltern den Kontakt zumindest am Nachmittag noch leicht verhindern. Aber sollten sie das?

Pothmann: Da müssen die Eltern vorher sehr genau hinschauen. Natürlich gibt es Freunde, die einem Kind nicht so gut tun, allerdings kann das unterschiedliche Gründe haben: Die einen verhalten sich antisozial und aggressiv und haben deswegen schlechten Einfluss. Andere hingegen dominieren in der Freundschaft extrem und machen ihren Spielgefährten richtig klein. Statt durch die Freundschaft das Selbstbewusstsein ihres Kindes zu stärken, wird es immer unsicherer. So etwas ist natürlich schwieriger zu erkennen als antisoziales Verhalten, kann aber der Entwicklung eines Kindes stark schaden. Deshalb ist es erst einmal wichtig, dass die Eltern einen guten Überblick über die sozialen Kontakte ihres Kindes haben - egal in welchem Alter.

Süddeutsche.de: Wie schaffen sie das?

Pothmann: Sie müssen interessiert sein und nachfragen: Was hast du für Freunde, was macht ihr zusammen, was spielt ihr? Wer viel über die Freunde weiß und eine gute Beziehung zu seinem Kind pflegt, hat auch im normalen Gespräch Möglichkeiten, einzugreifen. Etwa, indem Eltern vorschlagen: "Macht doch mal dieses oder jenes zusammen, statt Playstation zu spielen." Wenn bei den Freundschaften etwas schiefläuft, sollten Eltern erst mit ihrem Kind sprechen, dann mit beiden und ruhig auch mit den anderen Eltern und Erziehern. Freundschaften zu verbieten ist das allerletzte Mittel.

Süddeutsche.de: Was löst das für Gefühle beim eigenen Kind aus, wenn die Eltern eine Freundschaft ablehnen?

Pothmann: Das hängt natürlich vom jeweiligen Charakter ab. Aber es verunsichert auf jeden Fall, wenn ein Kind merkt, die Eltern stehen nicht hinter der Freundschaft, haben sogar etwas dagegen. Das ist bei kleinen Kindern so, bei Jugendlichen aber auch. Selbst wenn diese behaupten, es ist ihnen egal, was Vater und Mutter sagen: Es beschäftigt sie trotzdem - selbst die, die aus Trotz dann extra viel mit den Freunden unternehmen.

Süddeutsche.de: Das heißt, mit ihrer Ablehnung können Eltern diese Freundschaft noch vertiefen?

Pothmann: Für Jugendliche ist es wichtig, dass sie zwar eine stabile Beziehung zu ihren Eltern haben, dass sie nun aber auch die Möglichkeit bekommen, sich von ihnen abzunabeln. Wer da noch Einfluss nehmen möchte, muss bereit sein, den Jugendlichen bei allen Themen zuzuhören. Und das geduldig, mit einer verständnisvollen Haltung. Das heißt nicht, dass sie alles gutheißen und bejahen, aber zumindest Verständnis aufbringen sollten. Damit Teenager mit den Themen, die sie beschäftigen, zu den Eltern kommen, müssen diese bereit sein, sich auch den Mist anzuhören, den der Jugendliche gebaut hat.

"Bleiben Sie dran, auch wenn es peinlich wird"

Süddeutsche.de: Nun beschleicht die Eltern aber das Gefühl, dass sie keinerlei Einfluss mehr auf ihr Kind haben. Was tun?

Pothmann: Dann ist das Wichtigste, erst wieder Vertrauen aufzubauen. Wer aus Angst seinem Kind alles verbietet, sorgt für eine viel größere Distanz und Entfremdung. Die Beziehung wieder zu stärken ist eine Kunst, um wieder Raum für Gespräche zu schaffen. Zum Beispiel zweimal in der Woche gemeinsam zu Abend essen, wandern oder ins Kino gehen. Wenn die Beziehung wieder besser ist, kann man auf dieser Basis auch Regeln für den sozialen Umgang vereinbaren. Dafür müssen die Eltern wiederum wissen, mit wem ihr Kind zusammen ist und was sie machen.

Süddeutsche.de: Jugendliche, die sich abgrenzen wollen, sind vermutlich wenig begeistert davon, wenn Eltern ihre Freunde kennenlernen wollen?

Pothmann: Das finden viele natürlich erst mal schrecklich peinlich, aber es ist wichtig, dass Eltern dranbleiben, wenn sie wissen wollen, mit wem ihr Kind zusammen ist. Dann müssen die Freunde nach Hause kommen dürfen, oder die Eltern fahren die Clique zur Party - und bekommen so einen Eindruck. Zur Not setzen sie sich im Schnellrestaurant an den Nebentisch, wenn das Kind mit seinen Freunden dort ist.

Süddeutsche.de: Wie Spione? Das bringt das Kind doch in einen Gewissenskonflikt, wenn es den Freunden verheimlicht, dass seine Eltern am Nachbartisch lauschen!

Pothmann: Natürlich ist das für beide eine komische Situation. Aber manche Teenager finden das weniger peinlich als einen offenen Kontakt zwischen Eltern und Freunden. Natürlich müssen die Eltern ihr Kind vor die Wahl stellen, ob es wirklich so eine verdeckte Aktion will oder sich nicht eine andere Gelegenheit arrangieren lässt. Aber bevor die Eltern die Freunde gar nicht kennen, bekommen sie eben so einen Eindruck.

Einsame Eltern, einsame Kinder

Süddeutsche.de: Schlechter Einfluss durch die Freunde ist die eine Sache. Es gibt aber auch Kinder - egal in welchem Alter -, die gar keine Freunde haben. Wie können die Eltern ihnen helfen?

Pothmann: Manche Kinder leiden massiv darunter. Und es gibt andere, denen das weniger ausmacht. Generell sind gute soziale Kontakte natürlich wichtig, egal welches Maß der Einzelne braucht. Allerdings fällt auf, dass oft die Kinder wenige oder keine Freunde haben, deren Eltern auch nur die nötigsten sozialen Kontakte pflegen. Hier spielt das familiäre Vorbild eine sehr große Rolle. Ich rate Eltern, erst mal ihr eigenes soziales Leben aufblühen zu lassen. So lernen Kinder, wie man Freundschaften aufbaut und pflegt.

Süddeutsche.de: Reicht das Vorbild allein aus?

Pothmann: Eltern können ihr Kind zusätzlich unterstützen, indem sie gezielt Aktivitäten mit anderen Kindern organisieren. Es zum Beispiel im Verein anmelden, so dass es andere unabhängig von der Schule kennenlernt. Oder gezielt Kontakte fördern, indem sie Kinder einladen oder gemeinsame Ausflüge machen. Manche werden allerdings durch ihr eigenes Verhalten zum Außenseiter, so dass andere Eltern ihren Nachwuchs nicht mehr zu ihm lassen. Da müssen die Eltern mehr Präsenz zeigen und auch zu den anderen Familien Kontakt aufnehmen, um diese Situation gemeinsam zu lösen. Wenn das alles nichts nützt, können die Kinder zum Beispiel in heilpädagogischen Tagesstätten Sozialverhalten oder therapeutischen Kleingruppen üben. Wenn das alles nicht ausreicht und das Kind sehr unter der Situation leidet, kann auch eine Kinderpsychotherapie helfen.

Süddeutsche.de: Wie wichtig sind Freunde, damit Kinder glücklich sind?

Pothmann: In allen Phasen der Entwicklung ist es entscheidend, eine gute Rolle im sozialen Gefüge zu haben, Anerkennung zu finden und auch Rückmeldungen auf sein Verhalten zu bekommen - selbst negative. Als Schutz vor Krisen ist es immens wichtig, dass sich die Kinder in Freundschaften ausprobieren können, um so ihr Selbstwertgefühl und auch ihre Lebensqualität zu steigern. Zum Lebensglück der Kinder trägt bei, wenn sie von Gleichaltrigen erfahren: So, wie ich bin, bin ich in Ordnung.

Süddeutsche.de: Das gilt dann auch für die Freunde, die die Eltern nicht so gerne sehen?

Pothmann: Da sollten Eltern ihren eigenen Kindern vertrauen und sie darin unterstützen, dass diese auch ihren Freunden klarmachen: Ich mag dich, aber es ist nicht in Ordnung, wie du dich gerade verhältst.

Kinder ohne Freunde sind nicht nur traurige, sondern auch gefährdete Kinder, weiß Dr. Marion Pothmann. Daher hat sie ein Buch "Kinder brauchen Freunde" mit gruppentherapeutischen Übungen veröffentlicht, die Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten helfen, soziale Fertigkeiten zu erwerben - und dann Freundschaften zu knüpfen. Pothmann arbeitet als Leitende Psychologin in der Klinik Hochried in Murnau, einem Zentrum für Kinder, Jugendliche und Familien.

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