Essay:Rausschmeißer

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Illustration: Marc Herold

Die Intoleranz im Internet nimmt zu. Abweichende Meinungen sind ein Grund, Freunde zu verstoßen und unliebsame Gegner mundtot zu machen. Like it or not: Wir brauchen mehr Widerspruch!

Von Johannes Boie

Neulich auf Facebook. Ein Freund beklagt sich auf seiner Seite. Er sei aus einem Freundeskreis gelöscht worden, man habe sich zuvor in größerer Runde über Politik gestritten. Und plötzlich, zack, war er draußen. Nicht nur kein Freund mehr mit dem Herrn, auf dessen Seite die Debatte ablief, sondern er sei sogar blockiert worden.

Blockiert? Eine Funktion, die dafür entwickelt wurde, Stalker und Aufdringliche fernzuhalten, um Trolle im Netz zu bändigen, also all jene wegzudrücken, die Debatten nicht führen, sondern sprengen wollen. Der Freund aber beteuert, er habe einfach nur eine andere Meinung gehabt, habe ihr auch nicht öffentlich abschwören wollen, wozu er aufgefordert worden sei. Es ging bei der Diskussion um Politik, ausgerechnet. Ist es nicht so, dass Politik und Debatte sich gegenseitig benötigen, wie Licht und Schatten?

Jeder Nutzer schafft sich sein eigenes kleines Reich. Da darf kein Widerspruch stören

Diese kleine Geschichte findet jeden Tag tausendfach aufs Neue statt, auf Twitter und Facebook, auf Pinterest, Instagram und Snapchat. Sie findet mit anderem Personal und anderen Themen statt, aber ihre Versionen gleichen sich an einem Punkt: Statt den Konsens zu suchen oder sich einen interessanten Schlagabtausch zu liefern, wird die Debatte abgebrochen.

Die Inuit in Alaska kennen bekanntlich besonders viele Wörter für Schnee, denn Schnee spielt in ihrem Leben eine große Rolle. Das Netz wiederum hat eine ganze Reihe an Vokabeln für Kommunikationsabbruch hervorgebracht: entfolgen, entfreunden, blockieren, verstecken. Und dann sind da noch die Facebook-Knöpfe "Benachrichtigungen für diesen Beitrag abschalten" und "Ich möchte das nicht sehen". So schafft man Ruhe auf der eigenen Facebook-Seite. Und diese Funktionen sind wichtig, weil man mit ihnen Störenfriede oder Spinner aussperren kann. Sie funktionieren aber auch, wenn man das eigene Weltbild nicht infrage gestellt haben möchte. Dann sind sie ein Stummschalte-Knopf für alles, was anders ist als das, was man schon kennt.

Das Netz ermöglicht es wie kein anderes Medium zuvor, abweichende und unliebsame Meinungen einfach nicht mehr zuzulassen. Das klingt zunächst paradox. Ist es nicht gerade das Internet, das uns täglich mit neuen Ideen, lustigen Videos, kontroversen Artikeln versorgt? Meinungen und Themen, auf die man noch vor zehn Jahren, ohne Facebook und Twitter, nie gestoßen wäre?

Tatsächlich aber schafft sich längst jeder Nutzer sein eigenes kleines Reich. Die gedruckte Zeitung kann man wütend in die Ecke pfeffern, wenn einem der Leitartikel nicht gepasst hat, man kann den Leitartikler auch verfluchen. Aber am Tag drauf liegt die nächste Ausgabe wieder vor der Haustür oder poppt im iPad auf. Und die Nachbarin, die eigentlich nett ist, aber ganz andere Ansichten vertritt als man selbst, die ist auch nach einer erregten Diskussion im Treppenhaus noch immer die Nachbarin. Man wird sie wiedertreffen, man wird mit ihr weiterdiskutieren. Den Kontakt zu ihr gleich ganz abzubrechen, das wäre dann doch übertrieben.

Im Netz funktioniert das anders. Die härtesten Maßnahmen sind die einfachsten. Alles lässt sich mit einem Mausklick ausblenden, angefangen beim kleinsten Kommentar, über das, was eine Person schreibt, bis hin zur Person selber. Und die Technik lernt fleißig mit. Wenn ein Nutzer einen anderen nicht mag, dann wird er auch diese Personen nicht mögen. Wenn er in dieser Debatte drei Beiträge mit "Ich möchte das nicht sehen" markiert hat, dann wird er es auch in jener Debatte tun. So kann sich jeder Nutzer mit technischer Hilfe seine eigene Komfortzone schaffen, ganz wie es sich Pippi Langstrumpf vor vielen Jahren erträumt hat: "Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt." Das ist ganz schön bequem.

Die Illusion von der aufgeklärten, zum kritischen Gedankenaustausch fähigen Netzgesellschaft ist dem Bewusstsein gewichen, dass jeder jederzeit beleidigt ist, wenn ihm etwas nicht passt. Was wurde nicht darüber diskutiert, dass die ganze Welt im Internetzeitalter klüger werden würde; dass jeder das Recht haben würde, von allen gehört zu werden.

Theoretisch stimmt das ja auch: Die Gesellschaft wird transparenter. Man erfährt über Büronachbarn und die Freunde einer neuen Freundin auch Dinge, die man nie wissen wollte. Sie wählen eine andere Partei und haben ganz andere Meinungen. Früher hätte man das vielleicht nie erfahren, denn es gab kein Facebook. Früher hätte man diese Menschen vielleicht nie getroffen, denn der Kreis der Kontakte war auf das Leben außerhalb des Netzes beschränkt. Der Punkt ist nur: Sehr viele Menschen wollen gar nicht hören, was es Neues zu erzählen gibt. Sie wollen keinen Meinungsaustausch. Sie wollen lieber die Bestätigung ihrer eigenen Meinung, ihr Online-Leben ist das Pendant zum Kneipenabend mit Gleichgesinnten. Man bleibt unter sich, man bleibt im digitalen Kiez, der zum Mief wird, wenn die Fenster geschlossen bleiben.

Die härtesten Urteile sprechen jene aus, die sich selbst für moralisch überlegen halten

Es gibt nicht wenige Nutzer, die gehen einen Schritt weiter. Ihnen reicht es nicht, sich das Unliebsame vom Leib zu halten. Sie greifen lieber an, statt sich zu schützen, sie sehen sich umstellt von falschen Freunden und Verrätern. Auch für diese Leute hält die neue digitale Welt die passenden Werkzeuge bereit.

Das bekannteste Beispiel aus dem Arsenal der Gesinnungskrieger ist ein Link, der es ermöglicht, herauszufinden, was die eigenen Facebook-Freunde so gut finden. Der Link verbreitete sich im Dezember 2014 durchs Netz, damals nutzten ihn viele Menschen, um zu prüfen, ob unter ihren Freunden etwa jemand ist, der den umstrittenen Rechten der Pegida-Bewegung ein "Like", einen virtuellen Daumen nach oben gegeben hatte. Seit damals werden der Link und ähnliche Tricks gerne genutzt. Es geht jetzt aber nicht mehr nur um Pegida-Freunde. Denn mit diesem Trick lassen sich sämtliche Vorlieben von Facebook-Freunden filtern. Für viele bedeutete das: Entdecke die Möglichkeiten. Wer meiner Freunde hat diesen oder jenen Film geliked, diese oder jene Partei, dieses oder jenes Buch? Was, der auch? Widerlich, der ist die längste Zeit mein Facebook-Freund gewesen.

Dabei bedenken viele nicht, dass ein "Like" oder ein "Favorite"-Sternchen, das Nutzer auf Twitter für die Meldungen anderer Nutzer vergeben können, von ernsthafter Begeisterung so weit entfernt ist wie ein kurzes Nicken von der Unterschrift unter einem dicken Vertrag. Tatsächlich nutzen viele Menschen die Funktionen nur, um sich später wieder an das erinnern zu können, was sie alles "geliked" und "favorisiert" haben. Einen nach unten deutenden Daumen, ein "Dislike", gibt es ja nicht.

Dass die digitale Gesellschaft zur Kontrollgesellschaft wird, hat die Welt in erster Linie den Geheimdiensten, Regierungen und Internetkonzernen zu verdanken. Tatsächlich aber sind wir längst alle kleine Spione, die sich allzu sehr für das Leben der anderen interessieren und die nicht akzeptieren wollen, wenn es sich vom eigenen unterscheidet. Jeder Nutzer ist ein Teil davon, er kann zum Opfer werden oder ein Täter sein. Einer, der mitschwimmt auf der herrschenden Meinung, oder einer, der sie vorgibt. Der Schnüffel-Link steht dabei nur stellvertretend für die andauernde Kontrolle der Nutzer untereinander; im Grunde beginnt sie schon mit dem täglichen Blick auf Facebook, wo man das Leben der virtuellen Freunde im Detail präsentiert bekommt.

Vielleicht entsteht ja gerade eine kleine Gegenbewegung zum Dagegensein aus Prinzip

Die härtesten Urteile sprechen dabei jene aus, die sich selbst für moralisch überlegen halten. Das sind zum Beispiel die kompromisslosen Netzaktivisten gegen Stromtrassen, Windkraftwerke, Braunkohleanlangen, Fracking-Projekte oder AKWs; die selbsternannten Verteidiger des virtuell längst untergegangenen Abendlandes, also jene seltsamen Vögel, die meinen, jeder Döner-Stand sei ein Vorbote der Scharia, sowie ihre natürlichen Erzfeinde, die jede Kritik am Islam für Rassismus halten. Nicht minder von sich überzeugt sind die ewig zornigen Impfgegner, die 24-Stunden-Veganer, die neuen und alten Feministinnen und die Anhänger der reinen Globuli-Lehre (samt ihren jeweiligen Hassgegnern). Sie alle entfreunden und blockieren sich nicht nur gegenseitig, sie versuchen, die anderen mundtot zu machen. So kommt es auch, dass gerade sehr viele Menschen im Netz für die Abschaffung einer Kolumne der Bild-Zeitung kämpfen. Sie haben eine Petition gestartet.

Noch so ein Werkzeug für den Einsatz gegen Pluralismus: Tausende Petitionen gibt es im Netz. Was eigentlich jedem Bürger die Möglichkeit geben soll, seine Stimme in die demokratische Mühle zu werfen, ist heute oft nur ein Ventil für die schnelle Empörung. Also fordern ein paar Tausend Berufsverbot für den Fußballkommentator Marcel Reiff, der einfach nur seinen Job macht. Oder sie drängen auf die sofortige Entmachtung eines Bild-Kolumnisten, der einfach nicht damit aufhört, aus den Sorgen dieser Welt kleine Pathos-Brötchen zu backen.

Wer Kommentare zu diesen Petitionen liest, ahnt schnell: Diese Menschen wähnen sich auf der Seite der Guten, weil es gegen die Bild-Zeitung geht. Dieser Glaube hindert sie daran zu sehen, dass sie gerade dabei sind, die Meinungsfreiheit einschränken zu wollen. Wer im digitalen Nahkampf unterwegs ist, erkennt Freiheit offenbar oft nur als die eigene Freiheit an.

Schon immer gab es Versuche, Debatten zu unterbinden, gegenteilige Meinungen totzuschweigen oder abzustrafen. Alexis de Tocqueville schrieb 1835 in seinem Essay "Über die Demokratie in Amerika", das Denken sei mit "dem Ring der Mehrheit" umspannt. Wer ihn durchbreche, der habe kein Ketzergericht zu fürchten, "aber er ist allen möglichen Verdrießlichkeiten und täglichen Verfolgungen ausgesetzt." Wenn Alexis de Tocqueville eine Facebook-Seite hätte, müsste man sie für seine prophetischen Worte liken, was vermutlich ein, zwei Freunde kosten würde, denn de Tocqueville war, neben vielem anderen, auch Kolonialist. Geht gar nicht!

Das Schöne am Internet ist, dass auf jeden Trend eine Gegenbewegung folgt. Die Stern-Kolumnistin Meike Winnemuth, sonst für Lifestyle, Lustiges und Liebenswertes zuständig, empört sich über die mangelnde Toleranzfähigkeit im Netz, ebenso wie der Blogger Don Dahlmann, der fürchtet, dass all das Geifern, Toben, Ausschließen, Ausgrenzen und Gallespucken zu einer Art "Normalität im Netz geworden ist". Die beiden haben recht: Was wäre das Netz, was wäre die ganze Welt ohne Streit und Debatte, ohne Provokation und Widerspruch? Hacker und Spieltheoretiker wissen, dass Systeme aller Art, von Computern bis Autos, ständig getestet werden müssen, wenn sie dauerhaft funktionieren sollen. So ist das auch mit Meinungen. Nur wer in Kauf nimmt, dass auf die eigene auch mal eingeschlagen wird, kann seine Meinung ehrlich äußern.

Vielleicht entsteht ja gerade eine kleine Gegenbewegung zum Dagegensein aus Prinzip. Wäre das schön: Wenn einfach mal ein paar Millionen Netzheuler etwas weniger beleidigt wären.

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