Erziehung:"Senf macht dumm!"

Erziehung: Viele Sprüche, die früher gängig waren, klingen heute äußerst seltsam.

Viele Sprüche, die früher gängig waren, klingen heute äußerst seltsam.

(Foto: Collage SZ)

Manche Sätze gehören zu jeder Kindheit. Und auch wenn wir die Lebensweisheiten längst für Unsinn halten, haben sie sich ins Gedächtnis eingegraben. Was bedeuten sie uns heute?

Von SZ-Autoren

Es gibt Sätze, die gehören zum Standardrepertoire jeder Kindheit. Oft sind es die ersten Sätze, die wir hören - und die letzten, an die wir uns im Alter erinnern werden. Die Lebensweisheiten der Mutter oder die Ermahnungen des Opas sind in unserem Gedächtnis so fest verankert wie Radfahren oder unsere Muttersprache, weil wir sie immer wieder gehört haben. Deshalb prägen sie uns, auch wenn wir sie längst für Unsinn halten, bestätigen Gedächtnisexperten. Die Sprüche zeigen auch, wie schnell sich Erziehung wandelt. Vieles, was früher gängig war, klingt heute äußerst seltsam. SZ-Autoren berichten, was sie selbst zu hören bekamen.

"Wer weiß, wofür es gut ist"

... sagte meine Mutter, wenn ihr nichts Tröstendes mehr einfiel. Nach einer Minute durch die Führerscheinprüfung fliegen, weil man einen Fußgänger übersehen hatte? Sich in einem nicht zu enden scheinenden Liebeskummer verzehren? Sinnlos mit eingegipstem Arm drei Wochen lang aufs Meer starren? Lange habe ich mich gefragt, wozu dieser Satz eigentlich gut sein soll. Eine elterliche Allzweckwaffe, mit der man ein bisschen Anteilnahme zeigt, Optimismus verbreitet, aber nicht zu viel verspricht. Inzwischen finde ich: Er hat auch sein Gutes. Denn neben der beruhigenden Wirkung versteckt sich eine andere Botschaft: Mit etwas Abstand betrachtet sind die wenigsten Dinge es wert, sich über sie aufzuregen. Mareen Linnartz

"Millionen Fliegen fressen Scheiße"

... sagte mein Vater immer, wenn meine Geschwister und ich irgendetwas sagten oder wollten oder taten und es damit begründeten, dass "die anderen" das auch sagten oder hatten oder so machten. Ich mochte den Satz gar nicht. Immer musste ich mich fragen, ob ich etwas mit einer Fliege gemeinsam habe, wenn ich dasselbe will wie jemand anderes, und ob das, was alle wollen, automatisch Mist sein muss? Je älter ich wurde, desto besser fand ich den Gedanken hinter dem Satz: Es ist wichtig, Dinge nicht einfach zu machen, weil "man das so macht". Nicht weil ich die anderen für Fliegen halte oder was sie machen für Scheiße. Sondern weil ich gelernt habe, es vor mir selbst halbwegs genau zu begründen, wenn ich etwas sage oder tue. Meinen Kindern versuche ich das auch beizubringen, die etwas stinkige Metaphorik spare ich mir aber. Meredith Haaf

"Denk an die hungernden Kinder in Afrika"

... sagte meine Mutter immer zu mir, wenn ich nicht aufessen wollte (was nicht häufig vorkam) oder mich über mein Pausenbrot beschwerte (was häufig vorkam, denn gefühlt steckte in den von meiner Mutter gewissenhaft wiederverwerteten Vespertüten stets altes Brot). Mit der Zeit konnte ich den Satz genau antizipieren. Mitgefühl oder gar Einsicht bewirkte er bei mir allerdings nicht. Was würde mein Aufessen den Kindern in Afrika schon helfen? Manchmal stellte ich mir ein unterirdisches Rohr vor, in dem wir all das übrig gebliebene Essen direkt nach Afrika schickten, ein Resterohr sozusagen. Als ich selbst zum ersten Mal meinen vierjährigen Sohn so ermahnte, erschrak ich. Ich wollte ihm eine Nichtallengehtessogutwieuns-Lektion erteilen und zack, da waren sie wieder, die hungernden Kinder in Afrika - diesmal sogar als Foto auf meinem iPhone. Ich hatte tatsächlich "hungernde Kinder" gegoogelt. Ich erschrak ein zweites Mal, mein Sohn starrte auf das Handy. Noch Tage später fragte er mich: "Mama, zeigst du mir noch mal die Kinder?" Seinen Teller isst er seitdem trotzdem nicht leer. Ann-Kathrin Eckardt

"Das Leben ist ungerecht"

... sagte mein Vater, wenn er nach irgendeiner Reise nur einem von uns drei Kindern ein Geschenk mitbrachte, oder wenn er an Weihnachten bei einem Kind aus der Reihe noch ein Extrapaket drauflegte und damit das von meiner Mutter mühsam austarierte Geschenke-Gleichgewicht in Schieflage brachte. Aus Kindersicht beschrieb der Satz also schreiendes Unrecht. Da war nichts zu machen. Mein Vater beschenkte, wen er wollte, und wie viel er wollte. Mal gar nichts, mal viel mehr als erwartet. Und weil nichts zu machen war, hatte der Satz am Ende auch etwas Befreiendes. Es lohnte nicht, erbittert auf seinen Anspruch zu pochen, man wartete auf den Tag, an dem man selbst mit dem Extrageschenk überrascht wurde. Heute steht der Satz für mich auch für eine Lebenshaltung. Den Unwillen, es anderen Leuten recht machen zu müssen, das Wissen, dass das Glück manchmal im Unerwarteten liegt. Jetzt da ich selbst vier Kinder habe, sage ich auch manchmal: Das Leben ist ungerecht. Denn fair geht es aus Kindersicht ja ohnehin nie zu. Nina von Hardenberg

"Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist"

"Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist"

... musste sich mein Mann in seiner Kindheit oft anhören. In den ersten Jahren unserer Beziehung musste ich mich deshalb schrecklich über ihn aufregen. Er sagte ihn, wenn ich mit vierzig Grad Fieber panisch im Bett lag, weil ich am nächsten Tag einen wichtigen Arbeitstermin hatte. Oder der Opa sagte ihn zu seinem dreijährigen Enkel, wenn der wieder einmal heulend mit dem Laufrad auf der Straße lag. Was für ein blöder Leistungsbockmist-Satz, dachte ich jedes Mal. Was für ein ungesunder Satz, der keine Schwäche zulässt, Disziplin beschwört und jeden Blick auf die Gründe eines Unwohlseins wegwischt. Heute kenne ich meine Schwiegereltern seit mehr als 15 Jahren. Was ich an ihnen am meisten bewundere, ist, wie sie es geschafft haben, zwei so selbstsichere, tiefenentspannte Söhne groß zu kriegen. Und ich bin sehr froh darüber, dass sie dieses fast unerschütterliche Vertrauen in die eigenen Stärken auch an meine Kinder, ihre Enkel, weitergeben. Ich weiß nicht, wie genau sie das machen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Stück des Geheimnisses auch in diesem Satz steckt. Darin, wie es ihnen gelingt, selbst diesen Satz so zu sagen, dass er wie eine aufmunternde Liebeserklärung klingt. Sie erwarten nichts von dieser Aufmunterung. Sie streicheln einem damit liebevoll über die Backe. Und wenn man weiterweint, nehmen sie einen in den Arm. Vera Schroeder

"Senf macht dumm"

... hieß es oft, wenn wir zu fünft um den großen Esstisch saßen und es Wiener Würstchen gab. In der Mitte stand dann ein Glas Senf. Griffen wir beherzt zu, bremste unser Vater die Löffelei mit den Worten, dass Senf dumm mache. Anfangs haben wir Kinder das auch geglaubt und sicherheitshalber nur ganz wenig Senf genommen. Später wurden wir allerdings misstrauisch. Die Eltern gaben dann zu, dass sie den Spruch selbst immer nur von ihren Eltern und Großeltern gehört hätten - und gar nicht genau wüssten, warum die das eigentlich sagten. Früher lag es vielleicht daran, dass die Haushalte sparsamer waren und sich Bescheidenheit eben auch am Tisch zeigte. Und dass eine Riesenrumkleckserei mit Senf nicht so einfach von den gestärkten Leinentischdecken in Handwäsche abging. Der wahre Ursprung dieses Spruches aber rührt von einer Namensverwechslung her: Es gibt cyanogene Senföle, die sich zu giftiger Blausäure umwandeln können. In größeren Mengen schädigen sie das Gehirn. Diese Senföle jedoch sind nicht in Senf zu finden. Das habe ich doch einmal nachgeschaut, als ich, ganz automatisch, lieber weniger als zu viel Senf nahm. Ulrike Heidenreich

"Du kannst reden, wenn sich das Handtuch bewegt"

... der Satz war schon ein Zitat, als ihn meine Mutter einsetzte. Er war nicht ernst gemeint, er war eine Erinnerung an finstere Erziehungszeiten. Er tauchte immer auf, wenn die Familie bei den Mahlzeiten am Tisch versammelt saß. Und einer mal wieder zu viel geredet hat, im Zweifelsfall der Jüngste, nämlich ich. Kleiner Witz der Mama: Früher sagte man ja ...! Aber ein bisschen Botschaft steckte schon noch darin, wenn mit diesem Satz daran erinnert wurde, dass Kinder den Mund halten sollen, wenn Erwachsene sich unterhalten. Sie sollen nicht dazwischenreden, sie sollen nicht über etwas sprechen, wovon sie nichts verstehen, und widersprechen sollen sie schon gar nicht. Aha, die Oma hat das gesagt. Früher. Und wenn sich das Handtuch nicht bewegt hat? Du meinst das Handtuch, das neben der Heizung hängt? Da dürfte ich ja nie etwas sagen! Nicht dein Ernst, Mama, oder? Klar, war nur ein Versuch, den Quasselkopf zu stoppen. Genützt hat der Satz nichts mehr. Handtücher hatten auch zu der Zeit schon nichts mehr zu melden. Harald Hordych

"Wer beim Essen singt, kriegt eine verrückte Frau"

... sagten meine Eltern, wenn beim Abendbrot eines ihrer Kinder anfing zu singen. Oft war ich gemeint, weil bei Tisch immer so viel rauswollte aus mir. Grimassen, Geschichten, Beschwerden über doofe Lehrer oder Eltern und eben Gesänge. Ich mochte sie, meine Eltern natürlich nicht. Und wie immer, wenn die Erwachsenen Verbote aussprachen, richtete sich mein Ehrgeiz darauf, sie zu unterlaufen. Eine verrückte Frau könne ja wohl nur mein Bruder kriegen, behauptete ich, um munter weiterzusingen. Meine Eltern haben solche Scharmützel immer öfter verloren. In einem Punkt aber haben sie recht behalten. Verrückte Frauen gab es in der Familie dann reichlich. Constanze von Bullion

"Ihr habt's gut, ihr seid doof"

"Ihr habt's gut, ihr seid doof"

... sagte mein Vater, wenn er am Sonntag an den Schreibtisch musste oder ein unangenehmes Telefonat zu führen hatte, während der Rest der Familie auf dem Sofa oder im Garten liegen bleiben durfte. Er sagte den Satz, wenn er sich Sorgen machte um sich oder die politische Großwetterlage und offenbar das Gefühl hatte, dass wir unbehelligt in den Tag hineinleben durften. Das stimmte in meinem Fall natürlich auch, zumindest als ich klein war. Er fand den Satz natürlich lustig - und ich ahnte als Kind noch gar nicht, wie recht er im Grunde damit hatte. Damals aber habe ich mich über den Satz geärgert, weil er eine Distanz zwischen ihm und dem Rest der Familie schuf. Kürzlich habe ich ihn zu meinem dreijährigen Sohn gesagt, der es auch sehr gut hat. Ich habe mir vorgenommen: Wenn er sich das erste Mal darüber ärgert, lasse ich es. Katharina Riehl

"Quidquid agis, prudenter agas et respice finem"

... sagte mein Vater. Und zwar so oft, dass ich diesen Spruch lange als lästige Fliege in Form von ein paar aneinandergereihten Worten wahrgenommen habe, die permanent um mich kreisten. Für all diejenigen, die ihr Schullatein so wie ich längst vergessen haben, heißt das: "Was du auch immer tust, tue es mit Bedacht und denke an das Ende." Ich habe diesen Satz gehasst, so wie ich diese nervige Sprache gehasst habe. Also habe ich ihn aus meinem Kopf gestrichen. Mein Vater ist seit über 20 Jahren tot und damit auch dieser Spruch. Doch irgendwann tauchte er plötzlich wieder auf, seitdem mag ich ihn sehr. Aus sentimentalen Gründen - und weil viel Wahres drinsteckt. Etwa, dass "mit Bedacht" auch bedeuten kann, dass man alles aus vollem Herzen machen soll. Julia Rothhaas

"Man weiß nie, ob Fische küssen. Über Wasser tun sie es nicht, und unter Wasser sieht man es nicht"

... sagte meine Oma immer, wenn sie auf meine Fragen keine Antworten hatte oder geben wollte. Weil ich den Spruch als Kind so mochte, schrieb sie ihn mir sogar ins Poesiealbum. Für mich klang er geheimnisvoll. Internet hatten wir noch nicht, und so zerbrach ich mir über dieses Rätsel den Kopf. Als Erwachsene merke ich, wie sinnbildlich der Satz für die in meiner Familie verbreitete Einstellung steht: Dinge hinnehmen, lieber nicht so genau nachfragen, man muss ja nicht alles wissen. Emotionen sind ohnehin ein Tabu. Mir hat das nie gepasst, und sollte mich meine Tochter nach dem Liebesleben der Fische fragen, werde ich ihr von den Küssenden Guramis erzählen. Jasmin Siebert

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