Erziehung:Ab ins Benimm-Camp!

Erziehung: Die Nachfrage nach Kursen für die Kleinen in Stil und Etikette in gehobenen Hotels steigt.

Die Nachfrage nach Kursen für die Kleinen in Stil und Etikette in gehobenen Hotels steigt.

(Foto: EvgeniiAnd - stock.adobe.com)

"Ich finde das Essen exquilent": Knigge-Kurse für den Nachwuchs werden immer beliebter, jetzt gibt es sie auch in Hotels. Ein Selbstversuch mit der eigenen Familie.

Von Gerhard Matzig

Meine Tochter, sie ist 18, sagt seltsam überbetont zu ihrem fünfzehnjährigen Bruder: "Lieber Bruder, wärst du wohl so freundlich, mir das Wasser zu reichen." Woraufhin der, als säße er nicht bei Tisch, sondern stünde auf der Bühne, theatralisch antwortet: "Obschon ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich dir das Wasser reichen kann, so kann ich dir doch wenigstens die Karaffe geben." Und der Kleine, ein zwölfjähriger, sommersprossiger Hool mit Krawallneigung, prustet: "Ich finde das Essen exquilent."

Mutmaßlich meint er exquisit oder exzellent, aber das ist auch schon egal, weil nun auch die um uns herum sitzenden Gäste des kroatischen Hotels "Kvarner Palace" befremdet zu tuscheln anfangen und meine Frau - "Herr Ober!" - nach etwas beruhigend Hochprozentigem verlangt. Zusammengefasst: Ich wurde verarscht. Das ist eines der Worte, die in den letzten sieben Tagen auf dem Index meiner Familie standen. Niedergeschrieben auf einem Blatt Papier. Überschrift: "NO GO"

Wir hatten uns nämlich gutes Benehmen in den Ferien verordnet. Eine Woche lang wollten wir uns im ganz bewusst gewählten Ambiente eines vormals hochherrschaftlichen K.u.k.-Hotels um Benimm-, Stil- und Etikette-Aspekte kümmern. Um Dinge, die wir im Alltag gern vernachlässigen. Also nicht fläzen, sondern gerade sitzen. Nicht mit dem Messer in der Luft herumfuchteln. Den Unterschied zwischen Wein- und Wasserglas kennen. Andere ausreden lassen. Die Tür aufhalten. So Sachen.

Und, oh, was ist denn das hier? "Das, Kind, ist eine Serviette - und wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass man sie nicht auf den Teller, sondern auf den Schoß legt?" Gut, zugegeben, es kann schon sein, dass ich zu wenig Knigge vermittelt habe, so in den letzten 18, 15 beziehungsweise zwölf Jahren. Und jetzt, am letzten Abend, da die Sonne nach einer Woche Ferien gerade so schön über der Kvarner Riviera versinkt, will auch ich versinken. Am liebsten in diesem wirklich sehr, sehr feinen Terrazzo-Boden vor dem feierlich anmutenden Springbrunnen.

Ich bin gescheitert beim Versuch, aus den Ferien ein Benimm-Camp im Hotel zu machen. Meine Kinder hätten übrigens auch für das Scheitern ein Wort vom Familien-Index. Im Duden wird es als umgangs-, wenn nicht vulgärsprachliches Synonym für "vermasseln" beschrieben und steht ziemlich genau zwischen "verkabelt" und "verkalkt" - und ja, ich weigere mich, es hinzuschreiben. Wenigstens bei mir hat der Etikette-Crashkurs gefruchtet. Meine Kinder haben sich dagegen als erstaunlich resistent erwiesen.

"Kleiner Knigge" für Kinder von sechs bis zwölf Jahren

Eigentlich ist es ja logisch, dass zunehmend auch Hotels Benimmkurse für Kinder anbieten. Vor dem Frühstücksbuffet stehend, denkt man sich nämlich: Das furchtbare Kind, das da eben mit einem sehr großen Löffel lustig im Bircher Müsli herumpatscht - das wird doch wohl nicht etwa meines sein? Und das in diesem majestätisch vor der Insel Krk aufragenden Hotelprachtbau, der 1895 unter dem Namen "Erzherzog Joseph" eröffnet wurde. Was würde Seine Kaiserliche Hoheit zu meinem müslimordenden Kind sagen? Eigentlich, das war der Plan, sollten Bossenwerk und Stuck ganz automatisch dazu führen, dass bei Tisch endlich mal die Ellenbogen zurückgenommen werden. Tja.

"Stil und Etikette werden bei uns schon seit einigen Jahren vermittelt", erklärt Jana Lang vom Hotel "Vier Jahreszeiten" in Hamburg, "und die Nachfrage steigt." Angeboten werden beispielsweise der Kurs "Kleiner Knigge" für Kinder von sechs bis zwölf Jahren - aber auch "Business Etikette" für Hochschulabsolventen. Beim Mini-Knigge-Kurs "erlernen die Kinder bei der erlebnisreichen Darstellung auf spielerische Weise die Umgangsformen und das gute Benehmen im Rahmen einer gemeinsamen Begrüßung, des gemeinsamen Tischdeckens, bei einem Aperitif sowie dem gemeinsamen Essen, bei dem auch knifflige, aber beliebte Speisen wie zum Beispiel Spaghetti nicht fehlen dürfen". 160 Euro kostet der vierstündige Kurs. Kein Wunder also, dass ich in Kroatien die Spaghetti-Aufklärung preisbewusst selbst übernehme.

Die Nachfrage nach Wohlerzogenheit ist gestiegen

In Berlin ist es das "Regent", das aus adoleszenten Rabauken Experten der Tischkultur macht. Und in London ist es das Luxushotel "The Lanesborough", direkt am Hyde Park. Gerade Fünf-Sterne-Häuser bieten immer variantenreichere Benimmkurse für Kinder an. Das entspricht einer gestiegenen Nachfrage nach Wohlerzogenheit nicht nur in den Grand Hotels, sondern ganz allgemein im Leben. Von der Knigge-Renaissance leben auch Tanzschulen oder die Schwarzweiß-Abi-Bälle gut.

In unserem Hotel geht es dagegen nicht ganz so fünfsternig zu. Das liegt nicht nur an den tatsächlich vorhandenen vier Sternen, sondern auch am unaufgeregten Charme und der Patina eines Hauses, das nicht nur aus Etikette und Benimm, sondern auch aus Freude, Spaß und Erholung besteht. Aber eben deshalb ist es ja auch das ideale Setting für meine etwas späten Erziehungsversuche, die man als "Knigge light" bezeichnen könnte. Und als Versuch, sich mal neu zu erfinden.

Das ist ohnehin das schönste Motiv, um ins Hotel zu gehen, meinte der Schriftsteller Vladimir Nabokov ("Lolita"), der sich im "Montreux Palace" am Genfer See dann aber so sauwohl fühlte, dass er erstens 16 Jahre lang blieb - und zweitens die Badezimmerwände mit Schmetterlingen bemalte. Nicht ganz im Sinn der Etikette.

Darum geht es: Was ist Höflichkeit und was ist Etikette? In unserem Hotel begegnen wir einem entzückenden älteren Paar aus Wien. Sie sind tadellos angezogen, haben extrem feine Manieren - und wenn er, der Herr, beim Abendessen ihr, der Dame, den Stuhl artig zurechtrückt, möchte man spontan Erzherzog werden. "Gut aufpassen", sage ich zu meinen Kindern. Da sind aber auch die "Daltons", jedenfalls nennen wir sie so. Es sind vier Jungs aus der Nähe von München.

Sie gehen nicht zum Pool, sondern entern ihn. Unter Lärm und noch mehr Lachen. "Gut aufpassen", sagen meine Kinder zu mir. Beiden Gruppen, den Daltons wie dem entzückenden Paar, ist eines gemeinsam, obwohl die einen eher laut und die anderen eher stilvoll sind: Es sind grundsätzlich freundliche Menschen, die mit anderen Menschen freundlich umgehen. Höflichkeit ist möglicherweise eine ethische Kategorie, die dem Zusammenleben dient. Etikette ist vielleicht etwas aus dem Reich der Selbstoptimierung.

Schon Sokrates ärgerte sich über die Kinder

Und ist es nicht auch so, dass die heute wieder so oft zu hörende Klage über schlechterzogene Kinder, die sogar zu Benimmkursen in den Ferien führt, eine uralte Tradition besitzt? "Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer." Das sagte Sokrates in der Antike. Und Aristoteles meinte: "Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen." Folglich wäre schon damals, als alles besser war, der Etikette-Kurs willkommen gewesen.

Was unser Kroatien-Experiment angeht: Tadellos sind die Manieren meiner Kinder immer noch nicht, die Spaghetti und die Tischdecke bezeugen das; aber es sind - im Grunde - freundliche Menschen. Das genügt erst mal. Und ehrlich gesagt: Man muss ja auch mal chillen. Das Wort steht natürlich auch auf dem NO-GO-Papier. Gurgelnd geht es gerade im Pool unter. Versenkt von einer Dalton-Arschbombe. Dalton entschuldigt sich bei uns und beim entzückenden Paar. Alles ist gut. Es sind Ferien, herrlich.

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