Erstaunliche Studie:Wie Kinder ihre Eltern erziehen

Mutter und Kind

Zu rund einem Viertel beeinflussen Kinder das Verhalten ihrer Eltern, haben Studien ergeben.

(Foto: SirName / photocase.de)

Der Einfluss von Kindern auf Mutter und Vater ist weitaus größer, als bisher angenommen. Sie formen ihre Eltern - und nutzen dabei auch antiautoritäre Methoden.

Von Christina Berndt

Der junge Mann meinte es wirklich ernst. Er würde später gerne Vater werden, sagte er. Und während er noch kurz den Eltern am Nebentisch einen abschätzigen Blick zuwarf und bemerkte, dass er sein Kind ja niiiiemals noch im Alter von drei Jahren mit einem Schnuller im Mund herumlaufen lassen würde, formulierter er im Brustton der Überzeugung folgenden Satz: "Es reizt mich, einen Menschen nach meinen Vorstellungen zu formen."

Was für eine rührende Illusion! Viele junge Eltern und Noch-nicht-Eltern erliegen ihr - nur um spätestens nach ein paar gemeinsamen Jahren mit ihren Kindern festzustellen, dass nicht nur an ihren Sprösslingen, sondern auch an ihnen selbst einiges an Verformung aufgetreten ist. Allzu lange waren nicht nur naive Kinderlose, sondern selbst Pädagogen und Psychologen der Meinung, Eltern könnten ihre Kinder nach Gutdünken formen, könnten aus ihnen die Menschen machen, die ihrem Ideal entsprechen - wenn sie nur konsequent, liebevoll und besonders elternhaft wären.

Und wenn es dann doch anders ausgehen sollte, dann wären eben die Eltern selber schuld. So, wie sie für jedwede soziale oder psychische Besonderheit ihres Kindes die volle Verantwortung zu tragen hätten.

"Erziehung ist keine Einbahnstraße"

Dabei haben Kinder selbst einen erheblichen Einfluss darauf, wie sie erzogen werden. Das spüren nicht nur Eltern, wenn sich das sechs Monate alte Baby partout nicht mehr füttern lassen will und die Sechsjährige trotz allen guten Zuredens jede Nacht zum Vater ins Bett krabbelt. Das stellen auch Wissenschaftler zunehmend fest.

Seit wenigen Jahren erst widmet sich die psychologische Forschung intensiver diesem Phänomen: Zweifelsohne haben Eltern mit ihren Vorstellungen, ihrem Erziehungsstil und dem Umfeld, das sie ihrem Kind bieten, einen erheblichen Einfluss darauf, was aus ihrem Kind wird, wie es der Welt begegnet, wie selbstsicher es ist und ob es Probleme eher in sich hineinfrisst oder nach außen trägt. Aber auch das Umgekehrte gilt: Kinder erziehen ihre Eltern - und zwar ständig.

Damit ist nicht mal die derzeit beliebte These "Eltern von heute können nicht mal mehr ihre Kinder erziehen" gemeint oder die von den kleinen Tyrannen, die mit "Lärminstallationen im öffentlichen Raum" ihre Familie drangsalieren. Kinder formen ihre Eltern allein mit ihrer Persönlichkeit, und dabei nutzen sie neben Schreien, Auf-den-Boden-Werfen und Um-sich-Hauen auch antiautoritäre Methoden.

"Erziehung ist keine Einbahnstraße", sagt die Verhaltensforscherin Reut Avinun von der Hebräischen Universität in Jerusalem. "Schließlich kommt kein Kind als unbeschriebenes Blatt auf die Welt, sondern mit einer ganz eigenen Persönlichkeit und individuellen Charakterstärken." So findet sich manch sanftmütiger Vater plötzlich als strenges Familienoberhaupt wieder, weil seine kämpferische, ständig die Herausforderung suchende Tochter ihm gar keine Wahl lässt. Und manche Mutter wird nach Jahren ständiger Konflikte begreifen, dass ihrem Sohn die eigene Gestaltung seiner Welt so wichtig ist, dass er Strafen und Kritik eben hinnimmt, weil ständige Kontrolle einfach Gift für ihn ist. Da können andere Eltern noch so kluge Ratschläge geben. "Ich würde niiiiemals . . ." ist eben ein Satz, der ohne die andere, die kindliche Seite, gesprochen wird.

Wer formt wen wie stark?

"Am Ende ist es selten so, wie man sich das als Eltern vorgenommen hat", sagt Stefanie Jaursch, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Passau. "Kinder beeinflussen die Gefühle, Handlungen und Reaktionen der Eltern, und sie unterlaufen deren Pläne. Es ist hilfreich, wenn Eltern begreifen, dass auch sie sich verändern müssen." Das sei auch wichtig für die Entwicklung des Kindes, betont die Psychologin: "Eltern sollten zwar eine Linie vorgeben, aber Kinder müssen auch Erfolge haben, selbst etwas durchsetzen."

Aber wer formt wen wie stark? Darauf könnten Zwillingspaare eine Antwort liefern, dachte sich die Psychologin Reut Avinun. Das Praktische an Zwillingen ist schließlich, dass sie meist zur selben Zeit im selben Elternhaus aufwachsen. Zudem sind eineiige Zwillinge genetisch quasi identisch. Es wäre also zu erwarten, dass Eltern mit ihnen in sehr ähnlicher Weise umgehen - ähnlicher als mit gewöhnlichen Geschwistern. Die Unterschiede in der Erziehung von Zwillingen und Geschwistern könnten also zeigen, wie stark die genetische Ausstattung des Nachwuchses den Erziehungsstil beeinflusst.

Die fast 15 000 Zwillingspaare, deren Daten Avinun ausgewertet hat, geben eine klare Antwort: Zu rund einem Viertel beeinflussen Kinder das Verhalten ihrer Eltern. "Sie haben also einen ganz erheblichen Anteil an der Geschichte", sagt Avinun. Ihr Fazit: "Kein Kind gleicht dem anderen. Deshalb kann auch keine Erziehung der anderen gleichen. Es gibt keine Regeln, die für alle Situationen oder alle Kinder gelten."

Manche Kinder brauchen mehr Trost, andere Grenzen

Eigentlich logisch: Kein Erziehungs-Rezept passt für alle Kinder. Dem stimmt auch die Pädagogin Sabine Michalek von der Katholischen Hochschule Berlin zu. Deshalb sollten Eltern auch nicht krampfhaft versuchen, all ihre Kinder möglichst gleich zu behandeln, meint sie. "Sie sollten sich vielmehr der unterschiedlichen Eigenschaften ihrer Kinder bewusst sein und sie dementsprechend erziehen." Manche Kinder bräuchten nun einmal mehr Trost, andere deutlichere Grenzen. Das fordern Kinder häufig selbst ein. So wird ein besonders verletzliches Kind feinfühlige Eltern dazu erziehen, es zu trösten, zu ermuntern und ermutigen. Ein besonders selbstbewusstes, freiheitsliebendes Kind hingegen wird so lange Grenzen übertreten, bis die Eltern ein Stück weit nachgeben.

So zeigen Kinder ihren Eltern oft, was sie brauchen. Aber leider nicht immer. Ein Kind, das sich schwer damit tut, seine Emotionen zu regulieren und regelmäßig Wutausbrüche bekommt, löst bei seinen Eltern oft Frust und Ärger aus. Dann ziehen sich Mutter und Vater allzu leicht zurück. Der Einfluss schwieriger Kinder auf ihre Eltern ist deshalb sogar besonders groß, wie der Psychologe Eric Stice von der University of Texas anhand von 500 jungen Mädchen gezeigt hat. Die Teenager waren aggressiv und schreckten auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück. Binnen eines Jahres veränderten sie ihre Eltern viel stärker, als diese Einfluss auf sie nahmen. Nur leider war der Einfluss durchweg negativ: Die Eltern hatten sich immer weiter zurückgezogen.

Dabei bräuchten gerade solche Kinder mehr Unterstützung, Geduld und Aufmerksamkeit. "Es ist wichtig, dass Eltern dies erkennen", sagt Gottfried Spangler, Pädagogischer Psychologe an der Universität Erlangen-Nürnberg: "Sie sollten stärker auf das Kind zugehen und sich, wenn es ihnen nicht selbst gelingt, professionelle Hilfe suchen." Kinder legen also leider - ähnlich wie Eltern - nicht immer förderliches Erziehungsverhalten an den Tag. Aber weil Kinder beim Eltern-Erziehen meist keine Vorsätze oder Ziele haben, ist es an den Eltern, gut aufzupassen, was da gerade geschieht.

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