Entdeckung der Pizza:Eine kleine Ess-Geschichte

Vor vierzig Jahren kannte sie nördlich von Rom kaum ein Italiener. Dank der Deutschen ist die Pizza heute reif fürs Weltkulturerbe. Eine Rekonstruktion.

Michael Frank

Wer nähme schon gerne alles alleine auf sich? Oder anders gefragt: Wer würfe alle Gewürze in einen Topf? Die Vorstellung von solchem Gebräu macht schaudern. Und doch gibt es sie auf heimischen Speisekarten: Pizza "mit allem"! Was Wunder, dass der Pizzaboden, und mag er noch so kross gebacken sein, unter solcher Last zum matschigen Mehlsumpf kollabiert.

Pizza, Italien, AFP

Italien ist ein erfindungsreiches Land - doch die Liebe zur Pizza entdeckte man dort erst spät.

(Foto: Foto: AFP)

Italien blickt angstvoll in die Backöfen des Nordens, zumindest wenn es um Dinge geht, die als ausgeprägt mediterran gelten sollen. Wenn sie hier zu Gast sind, halten sich die südlichen Nachbarn lieber an Ursprüngliches: Lo stinco ist die aktuelle Obsession, die Schweinshaxn also, auch als Stelze geläufig. Mit crauti natürlich, mit Sauerkraut, das - einst südlich des Alpenhauptkammes unerschöpflicher Quell der schönsten Teutonenwitze - heute als Born vitaminträchtigen Wohlgeschmacks die besseren Küchen Italiens erobert.

Kulturwüste Italien

So wandern und wandeln sich Vorlieben und Geschmack. Doch waren es nicht die Generationen deutscher, österreichischer und niederländischer Touristen, denen es gelungen wäre, solches Kulturgut gen Süden zu tragen. Auch nicht in Zeiten, als man noch voller Argwohn allem fremden Geschmack gegenüber mit Konserven und eigenem Eingewecktem bepackt in den Sommerurlaub an die Adria aufbrach. Die Wege sind verschlungener. Italien ist ein erfindungsreiches Land, und es hat weittragende kulturelle Ideen hervorgebracht, darunter auch solche , die weltweit Schule machen sollten, obwohl sie nur zum Selbstschutz konzipiert wurden: etwa das Touristengetto.

Man stelle sich 200 bis 300 Millionen Übernachtungen pro Jahr vor in diesem Land; man stelle sich all diese Leute aus aller Welt in jedem Dorf vor, in jeder Kirche, jeder Osteria. Italien wäre längst Kulturwüste. So hat man die Menschen aus der Ferne an den Örtlichkeiten ihrer Strandbegierden kaserniert. Das Land vermochte sich so einiges an Eigenleben zu bewahren, die Gäste hatten ihre Urlaubsobsession, ohne sich von italienischer Wirklichkeit irritieren lassen zu müssen.

Und trotzdem ist doch einiges eingesickert ins Land. Wer erinnerte sich nicht noch daran, welch vernichtender Blick jenen traf, der nach dem Mittagsläuten in der Cafébar einen Cappuccino zu bestellen wagte. In dem sonst so gastlichen Land konnte das gar in der Weigerung des Barista enden, derlei nur zum Frühstück schickliche Dinge zur Unzeit zuzubereiten. Heute dagegen: Cappuccino bis Mitternacht.

Doch was sind denn die im Norden vorherrschend kultivierten Küchenklischees Italiens? Pasta und Pizza. Erstere ist unstrittig. Aber Pizza? Vor dreißig, vierzig Jahren waren Pizza und Pizzerien im größten Teil Italiens so exotisch wie heute vielleicht auf Spitzbergen und den Lofoten. Pizza buk man in Neapel, in Kampanien, in Kalabrien. Pizza in Ferrara, Udine, Spoleto? Undenkbar.

Billigmahlzeit Pizza

Mancherorts verzehrte man durchaus weiße Backfladen, die crescia, die piadina oder anderes eher den Fladenbroten Arabiens und Afrikas ähnelndes Gebäck. Man rollte Käse hinein, Schinken, Speck, Gemüse, jegliches Grünzeug. In Mailand, in Turin und deren Industrietrabanten, ja, da gab es schon mal am Eck eine Pizzeria - aus demselben Grunde, aus dem man in Deutschland, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz längst viel mehr davon vorfand als in Italien selbst. Warum in Bayern, in Nordrhein-Westfalen, in Berlin, nicht aber in Umbrien, der Toskana, dem Trentino, dem Aosta?

Die erste Generation der Gastarbeiter im boomenden nordalpinen Europa der Fünfziger waren die Leute aus Neapel, Kampanien und Kalabrien. Die Pizzaesser eben. Mit ihnen kamen gleich die Ersten, die, statt in Kohle und Stahl und am Band zu schuften, die Küchen für Hunderttausende junge Leute aus dem Süden betrieben: Pizzerien eben. Nachfolgende Generationen von Gastarbeitern aus Mittelitalien und dem Norden wunderten sich redlich über die in Deutschland ausgerechnet als "italienische" Lokale ausgewiesenen Pizzerien, die sie von zuhause keineswegs kannten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie sich die Pizza zum kulinarischen Normalangebot mauserte ...

Pizzeria als Befreiungsschlag

Nachrückende italienische Wirtsleute, darauf bedacht, die Kunst mediterranen Kochens im Norden zu zelebrieren, kapitulierten oft nach zähem Ringen mit der Kundschaft: Auch sie boten schließlich Pizza an, die sie ursprünglich kaum kannten und nicht selten als karge Billigmahlzeit aus Gegenden ihres Heimatlandes verachteten, deren Bewohner ihnen spöttisch als saraceni, als Sarazenen, also Araber galten.

Pizza, Italien, AFP

Die beste Variante ist angeblich die Pizza Bianca: Eine Margherita, die sparsam mit Zwiebeln oder Rosmarin belegt, mit ordentlich halbgrobem Salz bestreut und mit etwas Olivenöl beträufelt wird.

(Foto: Foto: AFP)

Irgendwann gewöhnten sich auch die exilierten Italiener anderer Regionen des Stiefels unter dem Druck ihrer Gastgeber daran, Pizza zum alltäglichen Speiseplan zu zählen. Und schließlich waren sie enttäuscht und unzufrieden, wenn sie im Heimaturlaub, zuhause in Italien, nichts dergleichen vorfanden. Genauso verdross es die Urlauber nördlicher Herkunft in Italien, jetzt, da sie sich endlich entschlossen hatten, doch einmal das Risiko einzugehen und von den Hervorbringungen der Küche des Gastlandes vorsichtig zu kosten, ausgerechnet die Pizza nicht zu bekommen, die sie doch als das uritalienische Gericht schlechthin erkannt zu haben glaubten.

Irgendwann dann ist die italienische Heimatfront gegen die neapolitanische Flade zusammengebrochen. Irgendwann haben unter dem Druck aus Crauti-Land in Italien die Pizzerien zu wuchern begonnen. Irgendwann sind dann auch die ersten Gastarbeiter mit ihren Ersparnissen heimgekommen und haben, fleißig, wie sie alle waren, ein Kleingewerbe aufgemacht. Das war idealerweise die Pizzeria, bei der man mit bescheidenen Mitteln eine Attraktion zu bieten vermochte.

Die Pizzeria als Befreiungsschlag

Besonders und zuerst in den Urlaubszentren. Weil es gleich hinter dem Strand von Bibione oder Catolica, wo sie nie zu Hause war, plötzlich Pizza gab, konnte sich urlaubende Nordlichter selbst erst richtig glaubhaft machen, in Italien Urlaub gemacht zu haben. Es dauerte übrigens Generationen, bis die Pizzeria an den Küsten auch allmählich von den Leuten aus dem Hinterland der Urlaubsgettos als kulinarisches Normalangebot, nicht mehr nur als Exotikum, angenommen wurde.

Die Pizzeria war zugleich eine Befreiung für die von Etiketten geplagten italienischen Ristorante-Gäste. Noch vor nicht langer Zeit war es üblich, im Lokal mindesten zwei, üblicherweise aber vier Gänge zu sich zu nehmen. Weniger galt als unschicklich. Die Pizzeria brach mit diesem strengen Ritus, der ursprünglich den Gang ins Ristorante zur feierlichen Angelegenheit aus besonderem Anlass machte. Sieht man einmal von den regional verwurzelten, meist aber vereinzelten Osterie ab, den Hafen- und Arbeiterkneipen, konnte sich Italiens Normalfamilie nur selten das Ausgehen leisten. Das Ristorante war Sache der besseren Leute oder der besseren Gelegenheiten. Die Pizzabäcker erlaubten endlich größerem Publikum, ein Lokal aufzusuchen, ohne großartig zu speisen, sondern sich mit einem einzigen Gericht zu begnügen.

Die Krönung des Geschmacks: Pizza bianca

Von nun an ernährte man sich preiswerter und leichter: Denn italienische Pizza gilt als umso feiner, je weniger drauf ist. "Mit allem" ist pure Barbarei. Höhepunkt für Liebhaber ist sicher die Pizza bianca, die weiße Pizza, die Margherita, die sparsam nur mit Zwiebeln oder nur mit Rosmarin oder beidem belegt und mit ordentlich sale grosso mezza grana, also halbgrobem Salz, bestreut und mit etwas Olivenöl beträufelt wird.

Hunderte Pizzasorten kennt Italien, die in der Legende oft schon seit Generationen in der Familie zubereitet werden, obwohl vielfach die Großeltern als junge Leute Pizza nicht einmal gekannt, geschweige denn öfter verzehrt haben. Italien jedenfalls ist unverhofft über uns zu einem seiner kulinarischen Attribute gekommen, die wir im Norden nun wiederum für den besonderen Ausdruck der Italianità halten. Mit dem Wein ist es übrigens genauso gegangen. Italiener haben den Wein immer getrunken, interessiert hat er sie nie. Erst seit wenigen Jahren, seit die Nordlichter das Weintrinken als kultische Handlung ins italienische Gesellschaftsleben eingeführt haben, wäre jeder Italiener gerne ein Sommelier.

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