Empathie leben:"Man muss auf dem Grund gewesen sein"

Empathie leben: Cecily Corti: Irgendwann, mitten in der Ausweglosigkeit, am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, fühlte ich: Ich lebe. Ich will leben. Trotzdem leben

Cecily Corti: Irgendwann, mitten in der Ausweglosigkeit, am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, fühlte ich: Ich lebe. Ich will leben. Trotzdem leben

(Foto: Vadim Belokovsky)

Cecily Corti betreibt in Österreich vier Unterkünfte für Obdachlose. Über ein Leben und eine Krise, die alles anders machte.

Cecily Corti, betreibt mit VinziRast in Wien inzwischen vier Einrichtungen, in denen Obdachlose Unterkunft finden. Für ihr Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Viktor-Frankl-Ehrenpreis, dem Bruno-Kreisky-Menschenrechts-Preis und dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Vergangenes Jahr hat sie ein Buch über ihr Leben veröffentlicht: "Man muss auf dem Grund gewesen sein", Brandstätter Verlag Wien.

"Ich erlebte die Vertreibung und Flucht aus der Untersteiermark im heutigen Slowenien nach dem Zweiten Weltkrieg, und die Verschleppung und Ermordung meines Vaters. Trennung blieb in meinem Leben eine Konstante: Trennung von geliebten Menschen, Trennung von mir selbst, Trennung, die dem Leben den Boden entzieht.

Ich lernte den Regisseur Axel Corti kennen. Als wir heirateten, war ich gerade 24 Jahre alt. Wir blieben 30 Jahre, bis zu seinem Tod, verheiratet. Axel führte Regie - zu Hause und auch sonst. Er wollte meine totale Hingabe und ebenso absolute Eigenständigkeit, Souveränität, auch Eleganz. Vor allem aber nie einen Anflug von Erschöpfung oder gar Traurigkeit.

Es sind immer die nächsten Menschen, die uns vor die größten Herausforderungen stellen. Anfangs wollte ich meinem Mann beweisen, dass wir die richtige Wahl getroffen hatten, egal wie sehr mir die Spannungen zu schaffen machten. Ich habe lange ein Bild vor anderen und vor mir aufrechterhalten, das so nicht stimmte.

Bis wir nach und nach auseinanderdrifteten. Axel lebte eine andere Beziehung. Jetzt konnte ich mir nichts mehr vormachen. Es war klar: Ich war gescheitert. Liebe, Familie, Zugehörigkeit, Religion. Alles hatte keinen Sinn mehr.

Ich lebe. Ich will leben. Trotzdem leben

Existenzielle Fragen quälten mich durch viele Nächte: Wer bin ich jenseits von all dem? Jenseits von Erziehung, Tradition, jenseits von gesellschaftlichen Normen? Was macht mich als Mensch aus? Was will ich mit meinem Leben? Was heißt es Mensch zu sein? Ich habe mich und die Welt grundlegend hinterfragt.

Irgendwann, mitten in der Ausweglosigkeit, am tiefsten Punkt meiner Verzweiflung, fühlte ich: Ich lebe. Ich will leben. Trotzdem leben.

Durch eine tiefe Freundschaft, die mich mit einem Mann aus Indien verband, begann ich zu begreifen, wie wenig Eifersucht mit Liebe zu tun hat. Was meint Liebe? Was meint Freiheit in der Liebe? Was Treue?

Ein Gedicht von Rainer Maria Rilke verschaffte mir ein tieferes Verständnis: "Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Liebenden nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen, denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen." Es geht also darum, dem geliebten Menschen alle Freiheit zu geben, die man selbst in sich spürt.

Jede Zelle meines Körpers musste verstehen, dass ich allein war

Während dieser Krisenjahre zog ich nach Deutschland, zuerst nach München, später in die Nähe von Köln. Um mich neu zu finden, brauchte ich Distanz - auch gegen den heftigen Widerstand meines Mannes - und viele neue Erfahrungen. Es war meine, es war unsere Rettung. Mein Mann und ich kamen wieder zusammen. Die Basis unserer Beziehung war eine ganz andere geworden.

Empathie leben: Für uns alle sind die VinziRast-Einrichtungen Orte der Übung eines achtsamen, respektvollen und vorurteilsfreien Umgangs zwischen Menschen. Wir wollen Empathie leben, durch bessere Beziehungen selbst einen Beitrag leisten für eine bessere Gesellschaft

Für uns alle sind die VinziRast-Einrichtungen Orte der Übung eines achtsamen, respektvollen und vorurteilsfreien Umgangs zwischen Menschen. Wir wollen Empathie leben, durch bessere Beziehungen selbst einen Beitrag leisten für eine bessere Gesellschaft

(Foto: VinziRast)

Ende 1993 starb mein Mann. Sein Tod markierte den tiefsten Einschnitt in meinem Leben. Ich war 53 Jahre alt und musste die radikale Veränderung meines Daseins erst begreifen. Jede Zelle meines Körpers musste verstehen lernen, dass ich allein bin, allein mein Leben leben muss.

Ich ging auf Reisen, es folgten längere Aufenthalte, zuerst in Indien, dann auch in Guatemala. Ich wollte erkunden, wie andere Kulturen aus ihrer Tradition schöpfen, wie sie die ihnen eigene Spiritualität leben. Wie Körper, Geist und Seele zusammenwirken, um der Aufgabe des Individuums sich selbst gegenüber aber auch gegenüber der Gemeinschaft gerecht zu werden.

Es vergingen wieder Jahre des Lernens, der Selbsterfahrung und dann auch der Weitergabe an Menschen, die nach ihrem Platz in der Welt suchten.

Ich begann in diversen sozialen Einrichtungen ehrenamtlich mitzuarbeiten. Ich wollte dort ansetzen, wo Leid und Schmerz manifest sind, wo tiefe Verletzungen zugefügt wurden, wo Einsamkeit und Krankheit so oft die Folge sind.

Nach der Begegnung mit einem Pfarrer, der von seiner Arbeit mit Obdachlosen in Graz erzählte, war die Entscheidung klar. Er sprach von Dingen, mit denen ich etwas anfangen konnte: bedingungslose Akzeptanz - und die Sünde der Distanz. So entstanden im Lauf der vergangenen zwölf Jahre unsere mittlerweile vier VinziRast-Einrichtungen, in denen obdach- und heimatlose Menschen ein Zuhause finden. Fast ausschließlich ehrenamtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ermöglichen die Aufrechterhaltung dieser Projekte, die nur von privaten Sponsoren finanziert werden.

Die VinziRast ist eine unerbittliche Lehrmeisterin

Für uns alle sind die VinziRast-Einrichtungen Orte der Übung eines achtsamen, respektvollen und vorurteilsfreien Umgangs zwischen Menschen. Wir wollen Empathie leben, durch bessere Beziehungen selbst einen Beitrag leisten für eine bessere Gesellschaft.

Empathie leben: VinziRast Wien: Pärchen dürfen in einem Bett schlafen, mitgebrachte Hunde, oft die treuesten Begleiter dieser Menschen, finden auch Ruhe unter oder im Bett ihres Begleiters. Das verstehen wir unter bedingungsloser Akzeptanz

VinziRast Wien: Pärchen dürfen in einem Bett schlafen, mitgebrachte Hunde, oft die treuesten Begleiter dieser Menschen, finden auch Ruhe unter oder im Bett ihres Begleiters. Das verstehen wir unter bedingungsloser Akzeptanz

(Foto: VinziRast)

In unserer Notschlafstelle nehmen wir Menschen aller Nationalitäten auf, unabhängig ihres Aufenthaltsstatus. Pärchen dürfen in einem Bett schlafen, mitgebrachte Hunde, oft die treuesten Begleiter dieser Menschen, finden auch Ruhe unter oder im Bett ihres Begleiters. Das verstehen wir unter bedingungsloser Akzeptanz.

Nur drei eiserne Regeln gilt es zu beachten: Keine Gewalt, kein Rauchen in den Schlafräumen, kein Spritzen von Drogen. Es ist erstaunlich, aber vielleicht nicht überraschend, wie sehr unsere Haltung der Offenheit und des Respekts, frei von Urteil und Vorurteil eine Atmosphäre der Entspannung und Friedlichkeit ermöglicht.

Die VinziRast ist eine unerbittliche Lehrmeisterin. Wir machen uns vertraut mit Krankheit, Krieg, Armut, Einsamkeit, und auch Tod. Oft wissen wir keinen Rat, keinen Ausweg. Wir fliehen nicht, wir hören zu, wir sind einfach da.

Vertrauen zu schaffen und zu erhalten, ist Knochenarbeit. Es braucht sehr viel Geduld. In unserem bisher letzten Projekt, im VinziRast-mittendrin leben Studierende und ehemals Obdachlose gemeinsam in Wohngemeinschaften. Es ist eine einzigartige Initiative, die es bisher noch nicht gibt. Können Menschen so unterschiedlicher Biografie und Herkunft miteinander in so engem Zusammenleben Erfahrungen sammeln, die neue Wege für eine veränderte Gesellschaft ermöglichen?

Denn wenn wir in einer gerechteren Welt leben wollen, müssen wir zuerst lernen, anders miteinander umzugehen. Bessere Beziehungen machen unsere Welt besser. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, wie es weitergeht."

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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