Elternzeit:Werktags gehört Vati mir

Wie der Vater, so der Sohn: Über drei Generationen haben sich die Männer der Famiilie Misselwitz emanzipiert - aus der erzwungen Auszeit ist heute eine freiwilige Elternzeit geworden. Ein Besuch auf der Schwäbischen Alb.

Corinna Nohn

Ganz links schwimmen orangefarbene Wasserschnecken, daneben kriechen grünliche Kreaturen an Land, und noch drei Meter weiter rechts haben sich zwei Dinosaurier ineinander verbissen. Auf dem Zeitstrahl steht ein Zentimeter für eine Million Jahre, und die Urviecher auszuschneiden und auf der Tapete entlang der Wohnzimmerdecke aufzukleben, war eine fisselige Angelegenheit. "Alles für die Kinder", sagt Dieter Misselwitz. Der 75-Jährige sitzt im Rollstuhl und kann die filigranen Gestalten nur noch erahnen, aber er erinnert sich: "Das haben wir damals gemacht, als wir hier rauf gezogen sind."

Das war in den Sechzigern, "rauf" ging es nach Trochtelfingen auf der Schwäbischen Alb, Kinder waren es vier. Und dass der junge Vater damals, als der Slogan "Samstags gehört Vati mir!" fast noch revolutionär war, mit seiner Frau Dinosaurier schnipselte, sagt schon viel über Dieter Misselwitz.

Er hat es nicht bewenden lassen bei der Evolution an der Tapete, Familie war für ihn das Wichtigste. An einem sonnigen Septembertag sitzt er mit seinem ältesten Sohn Sigurd, 49, Enkel Maximilian, 23, und dem fünf Monate alten Lajos im Wohnzimmer, und erzählt. Dieter Misselwitz redet langsam und nicht viel, aber immer wieder sagt er: "Alle meine Kinder waren Wunschkinder."

Das ist ihm wichtig, denn vier Kinder galten in den Jahren nach dem Pillenknick "fast als asozial". Bei der Wohnungssuche auf dem Amt hieß es auch schon mal, "hätten Sie nicht besser aufpassen können?", und Dieter Misselwitz' Mutter schimpfte die Schwiegertochter eine "Gebärmaschine", wollte der jungen Familie die Wohnung kündigen.

Aber das ist lange her, und Dieter Misselwitz erinnert sich lieber an anderes: wie er nach seiner Schicht in einer Messgerätefirma oft die Kinder in den VW-Bus lud und mit ihnen auf einen Hügel fuhr, um den Sonnenuntergang zu beobachten. Und an die Geburtstagsfeiern, wenn er mit Kreide ein Schiff auf den Wohnzimmerboden malte und mit den Kindern herumtobte.

Familienzeit - gezwungenermaßen

Es gab damals noch keine Elternzeit für Väter, aber Dieter Misselwitz hat notgedrungen viel Zeit mit der Familie verbracht, weil er an Multipler Sklerose erkrankte und mit 48 Jahren in Frühpension ging. Die Krankheit hat ihm viel genommen, aber er muss im Rückblick nicht einräumen, er habe zu wenig von den Kindern mitbekommen - wie viele andere Männer aus dieser Generation. Männer wie Udo Jürgens. Erst am Donnerstag hatte der Musiker in der Bild-Zeitung aus Anlass seines 77. Geburtstages bedauert, ihm sei der Job oft wichtiger gewesen als die Familie. Und sein Sohn, der die Familie als "Nummer 1a" und den Job als "1b" bezeichnet, tröstete: "Papa, das war auch eine andere Zeit."

Es war mehr als ungewöhnlich, wenn Väter die Familie zur "Nummer 1" machten und versuchten, das traditionelle Rollenbild ein wenig aufzubrechen. Dieter Misselwitz schob den Kinderwagen durch Trochtelfingen, und die Leute wunderten sich. Er hängte die gewaschenen Stoffwindeln auf die Leine, und die Nachbarn fragten: "Musst du das machen?" Wäsche war Weiberarbeit, und dass einer seiner Frau nicht nur eine Constructa-Waschmaschine kaufte, sondern auch noch beim Aufhängen half, darüber staunte die ganze Straße.

Vererbte Vaterrolle

Bis 1977 war die eheliche Aufgabenverteilung in der Bundesrepublik gesetzlich geregelt: Die Frau durfte nur berufstätig sein, "soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie zu vereinbaren" war. Der Mann verdiente, sie führte den Haushalt. Und Dieter Misselwitz? Der wollte sogar eine Geburt miterleben, doch Väter hatten damals noch keinen Zutritt zum Kreißsaal. Dieter und Renate Misselwitz brachten das zweite Kind mit einer Hebamme zu Hause zur Welt.

Maximilian, der Lajos auf dem Bein auf und ab hopsen lässt, schmunzelt. Wäsche aufhängen, Kinderwagen schieben, die Nabelschnur durchschneiden - das alles war für ihn selbstverständlich, auch schon für seinen Vater Sigurd. Für beide war es "kein Thema", dass sie Windeln wechseln und auch mal alleine aufs Kind aufpassen. "Auf so etwas wären wir gar nicht gekommen!", ruft Renate Misselwitz, 73, dazwischen. Es war damals auch völlig klar, dass sie ihren Beruf aufgab, obwohl sie als Lehrerin für Hauswirtschaft, Handarbeit und Turnen eigentlich die bessere Ausbildung hatte. "Aber Dieter konnte ja nicht mal kochen. Wenn der ein Ei aufgeschlagen hat, ging das in den Pantoffel."

Sigurd Misselwitz und seine Frau teilten Haushalt und Erziehung anders auf. Sie studierten noch, als Maximilian geboren wurde, und während sie für den Abschluss paukte, übernahm er den Kleinen. "Wir haben da viel intuitiv gemacht", sagt Sigurd Misselwitz. "Aber ich habe auch viel von dir übernommen, Vati." Etwa die Regel, dass die Arbeit vorbei ist, wenn man durch die Haustüre tritt. "Ich hätte auch Elternzeit genommen, wenn es das gegeben hätte, auf jeden Fall."

Er habe als Ingenieur in der Entwicklungsabteilung aber auch mal früher gehen können, wenn wenig los war. Jetzt ruft Maximilian "Moment mal!" dazwischen: "Wenn du nach Hause kamst, warst du voll für uns da, das stimmt. Aber wir haben dich auch mal wochenlang nicht gesehen, wenn du auf Dienstreise warst oder Überstunden gemacht hast." Und Sigurd Misselwitz fällt ein, dass er kurz nach der Geburt von Maximilians Schwester zwei Wochen in den USA und die Mutter alleine mit den Kindern war. "Als ich wiederkam, habe ich gemerkt, dass das an die Grenzen ging."

Die Karriere bestimmt das Familienleben

Überhaupt, wenn Sigurd Misselwitz ehrlich ist: Seine Karriere hat das Familienleben doch stärker bestimmt, als ursprünglich gedacht. Wegen seines Jobs zogen sie nach Heidenheim - aber dort gab es keine Arbeit für seine Frau, die als Gerbertechnikerin an der Gerberschule in Reutlingen beschäftigt war. Später betrieb sie einige Jahre lang einen kleinen Laden, dann suchte sie sich immer wieder "kleinere" Jobs, die sich um die Kinder herum organisieren ließen. Im Nachhinein bedauert sie es schon ein wenig, wie es gelaufen ist. "Aber damals dachten wir eben: Es geht nicht anders."

Maximilian und seine Freundin Katharina möchten sich auf keinen Fall später sagen müssen: Hätten wir es doch anders gemacht. So, wie die beiden gemeinsam entschieden haben, dass Lajos mit Stoffwindeln gewickelt wird, wollen sie sich die Arbeit im Beruf und zu Hause möglichst partnerschaftlich teilen. Und Maximilian weiß, wie es sich anfühlt, wenn er keine Zeit hat für seinen Sohn: Er arbeitet als Industriemechaniker; neben Wochenend- und Nachtschichten hat er das Abitur an der Abendschule nachgeholt, machte quasi zwei Vollzeitjobs gleichzeitig. Als Lajos zur Welt kam, stand er gerade vor den letzten Prüfungen. "Das war hart."

Dann aber kamen zwei Monate Elternzeit, und von Januar an wird er noch zwei Jahre nehmen. Dabei hatte ihm der Abteilungsleiter klargemacht, dass ihm das gar nicht passt: Maximilian sei nicht einfach zu ersetzen. Es sei in der Firma zwar ganz normal, dass Frauen wegen der Kinder pausieren. "Aber die arbeiten im Büro, nicht an den Maschinen", sagt Maximilian.

Lebensstandard vor Familienzeit

Er sei der erste Mann, der Elternzeit nimmt. Nicht, weil sich keiner traue, sondern weil die Kollegen Haus oder Auto abbezahlen müssten und auf keinen Euro verzichten könnten. Er streicht Lajos über den Kopf, der lutscht an seinem Bernsteinkettchen. "Das ist schon traurig: Weil sie ihren Lebensstandard so hoch angesetzt haben, können sie es sich nicht leisten, Elternzeit zu nehmen."

Maximilian und Katharina, die Sozialpädagogin ist und nicht die Absicht hat, ihren Beruf aufzugeben, haben den Traum, "dass beide 60 Prozent arbeiten". Maximilian lacht, er denkt wohl an die Schichteinteilung. Und selbst dann, wenn es klappen würde mit den zwei Teilzeitjobs, sei ihnen "doch klar, dass wir materiell auf vieles verzichten müssen". Denn 120 Prozent Arbeit auf zwei Leute verteilt bringe eben nicht so viel wie 100 Prozent von einem. "Wir haben uns darauf eingestellt, dass wir nicht so viel Geld brauchen", sagt Maximilian. Aber es wurmt ihn natürlich, dass das Leben so viel einfacher wäre, wenn sie es machen würden wie seine Großeltern: er Haupternährer, sie Vollzeitmama.

Klar, es habe sich schon einiges verändert, "aber da muss noch viel passieren". Und zwar nicht im Schneckentempo, sondern am besten im Zeitraffer, wie auf dem Evolutionsfresko an der Wohnzimmerwand in Trochtelfingen. Das war damals allerdings auch Geduldsarbeit.

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