Eltern-Kind-Beziehung:Brutkasten der Persönlichkeit

Es ist wichtig, vom ersten Lebenstag an eine intensive Bindung zum Kind aufzubauen. Denn frühe Störungen der Beziehung zwischen den Eltern und dem Nachwuchs wirken sich unmittelbar auf die Entwicklung aus.

Werner Bartens

Am Anfang war es nur ein etwa sieben Pfund schwerer Fleischklumpen. Neun Monate wuchs er im Dunkeln und konnte in dieser Zeit weder hören noch sehen.

Eltern-Kind-Beziehung: Kinder in der Forschung

Kinder in der Forschung

(Foto: Foto: ddp)

So dachte die Mehrzahl der Mediziner noch vor 50 Jahren über Neugeborene. Mittlerweile weiß die Forschung, dass Föten während der Schwangerschaft nicht nur sehen und hören können, sondern auch viele andere Hirnleistungen vollbringen. 100.000 bis 250.000 Nervenzellen werden jede Minute in manchen Schwangerschaftswochen im Gehirn des Ungeborenen gebildet.

"Dass der Fötus lernt, steht außer Frage", sagt der Neurobiologe Niels Birbaumer von der Universität Tübingen. "Der Fötus träumt, wenn er schläft und er reagiert auf äußere Reize und emotionale Einflüsse."

Dies war eines der Ergebnisse, die am Wochenende in München während der Tagung "Der Säugling - Bindung, Neurobiologie und Gene" diskutiert wurden.

"Armut ist immer noch der wichtigste Risikofaktor für eine schlechte Entwicklung des Kindes", sagt Karl Heinz Brisch von der LMU München und Organisator der Tagung. "In Deutschland nimmt das Problem zu, und die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer."

Dabei ist es vom ersten Lebenstag an wichtig, eine intensive Bindung zum Kind aufzubauen. Die Kinderpsychiaterin Heidelise Als aus Boston hat in etlichen Studien gezeigt, dass Frühgeborene sich besser entwickeln, schneller wachsen, weniger Hirnschäden bekommen, sich Lunge und Herz rascher kräftigen und sie früher entlassen werden können, wenn sie viel Wärme und Zuwendung bekommen.

Dieses Phänomen lässt sich auch neurobiologisch erklären, denn durch sensuelle Impulse reift das Gehirn schneller und die schützenden Markscheiden um die Nervenbahnen bilden sich früher.

Anfangs sei das Programm von Heidelise Als, die Pflege Frühgeborener individueller zu gestalten, auf viel Widerstand bei Schwestern und Ärzten gestoßen - die professionellen Heiler und Helfer fühlten sich offenbar in ihrem Tagesablauf gestört. Eltern, die Nähe und individuellen Umgang wollten, galten als schwierig.

"Vielen Schwestern wurde ja Nähe, Pflege, Wärme abtrainiert", sagt Als. "Dabei ist liebevolle Pflege der Weg zur Heilung, nicht die Maschine."

Inzwischen würden aber in vielen Kliniken Intensivstationen für Frühgeborene anders geplant und beispielsweise mehr Platz zwischen den Inkubatoren gelassen, damit die Bezugspersonen die Babys überhaupt berühren und streicheln können. "Die Hände der Eltern sind wichtiger als jede Kuscheldecke", sagt Als. " Jeder hat nur ein Gehirn im Leben. Es verdient es, dass man sich darum kümmert."

Berührung als erste Sprache

Da der Tastsinn der erste Sinn ist, der sich entwickelt, kann er auch früh stimuliert werden. "Das Neugeborene hat bereits haptische Erfahrungen", sagt Maria Hernandez-Reif von der Universität Alabama.

Sie hat am Touch-Forschungsinstitut in Miami beobachtet, dass sich ein Frühgeborenen-Zwillingspaar zunächst schlecht entwickelte, als es getrennt behandelt wurde.

Nachdem die beiden zusammengelegt wurden, schlangen sie die Arme umeinander und erholten sich schneller. "Berührung ist die erste Sprache", sagt Hernandez-Reif. "Verstehen kommt viel später als Fühlen." Regelmäßige Berührung kräftigt bei Säuglingen die Knochen, beschleunigt die Entwicklung - zudem sind die Mütter dann weniger unruhig und depressiv, während beteiligte Väter so mehr Nähe entwickeln.

Bindungsforscher erkennen immer deutlicher, dass auch die kognitive Entwicklung bei Kindern viel früher beginnt, als bisher angenommen. Gisa Aschersleben von der Universität Saarbrücken hat 56 Mutter-Kind-Paare untersucht.

"Kinder können schon im Alter von sechs Monaten einfache Handlungen als zielgerichtet verstehen", sagt Aschersleben. Die Untersuchung der Kinder im Alter von zehn Monaten habe ergeben, dass Kinder sensitiver Mütter einfache Zusammenhänge - etwa ob schwere oder leichte Kugeln weiter rollen - besser verstehen als Kinder, deren Mütter eher abweisend waren. "Zudem entwickeln sich Sprache, Ausdauer und soziale Kompetenz besser, wenn Kinder sich sicher gebunden fühlen", sagt Aschersleben.

Auch das Verständnis, dass Handlungen emotional sind, ist bei Kindern offenbar früh vorhanden. "Ein mentales Bewusstsein gibt es seit der Geburt", sagt Maria Legersteef von der York-Universität Toronto. "Es wird durch Zuneigung verstärkt und es ist besonders die mütterliche Sensibilität, die Kinder sozial und emotional macht."

Brutkasten der Persönlichkeit

Auch die Befunde anderer Forscher, etwa zur Entwicklung eines eigenen Selbstverständnisses, deuten darauf hin, dass Kinder früher Entwicklungsschritte vollziehen als bisher angenommen. "Im Vorschulalter sind die Förderprogramme zu spät dran", sagt Mechthild Papousek von der LMU München. "In breiten Kreisen verstummt und verarmt die Kommunikation in den Familien, da muss man früher etwas tun."

Damit die Bindung zwischen Eltern und Kindern von Anfang an gestärkt wird, hat Karl Heinz Brisch in München das Programm Safe (Sichere Ausbildung für Eltern) initiiert.

Eltern können in den Wochen vor und nach der Geburt ihre Ängste verstehen und einen feinfühligen Umgang mit dem Baby lernen. "Kinder triggern manchmal traumatische Erfahrungen der Eltern und holen deren Geister aus dem Kinderzimmer hervor", sagt Brisch. "Doch nicht die Methode entscheidet über den Therapieerfolg, sondern die Beziehung zum Therapeuten."

"Erziehung ist die ganz normale Katastrophe", sagt Remo Largo von der Universitätskinderklinik Zürich. "Immer treten Konflikte auf, Kinder können ohne Konflikte gar nicht groß werden."

Man dürfe Eltern daher nicht das Gefühl geben, schuldig zu sein, wenn das Kind manchmal nicht schläft, nicht isst, häufiger schreit oder ein auffälliges Sozialverhalten zeigt.

Das sei natürlich kein Freibrief für Vernachlässigung. "Es ist wichtig, dass Kinder schon ganz früh eine Bezugsperson haben, die verfügbar ist, feinfühlig und verlässlich", sagt Largo.

Die ganz normale Katastrophe

Die Spannbreite der kindlichen Entwicklung ist groß - Eltern sind oft in Sorge, dass ihr Kind sich nicht schnell genug entwickelt.

Im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren lernen Kinder, Körpersprache und Gesichtsausdruck zu erkennen. Die individuellen Unterschiede sind enorm. Zwischen drei und sieben Jahren schärft sich ihr nachahmendes Verhalten und die Orientierung an Vorbildern.

"Wenn Sozialisation und Vorbildfunktion so wichtig sind, müssen wir mehr über uns Erwachsene reden, nicht über Kinder", sagt Largo. Wenn das soziale Lernen zwischen zwei und sechs Jahren am stärksten ausgeprägt sei, könne es zudem nicht richtig sein, dass Mütter mit Kindern allein zu Hause sind.

In der Diskussion um Frühförderung, bindungsschwache Schüler und Eltern, die ihre Kinder missachten, dürfen nicht die Jüngsten vernachlässigt werden, forderten die ältesten Redner.

Theodor Hellbrügge, 87-jähriger Begründer der Sozialpädiatrie, erinnerte daran, dass sich die Kinderheilkunde sehr vom Bett ins Labor verlagert habe.

Terry Brazelton, der legendäre 88-jährige Kinderarzt aus Harvard, lachte während seines Vortrag oft und sagte gut gelaunt: "Babys zeigen mit ihrem Verhalten, was sie wollen. Es ist alles direkt da, so offensichtlich, so deutlich."

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