Ein Sittenbild:Männer

Das Geld, die Dummheit und die Kastration der Stiere - ein zu Herzen gehendes Sittenbild des Mannes aus dem Herbst 2008.

Roger Willemsen

Vom Autor erschien zuletzt in diesem Herbst im Fischer Verlag der Bestseller "Der Knacks". Das Buch beschäftigt sich mit Bruchlinien und Krisensituationen, auch in der ökonomischen Welt.

Ein Sittenbild: Drei Seelen wohnen in des Brokers Brust: der unterdrückte Stier ...

Drei Seelen wohnen in des Brokers Brust: der unterdrückte Stier ...

(Foto: Foto: photocase/SoulChic)

Da ist dieser Mann neben mir in der Wartehalle des Flughafens, behangen mit Elektronik. Aus dem Ohr, neben der Wange, am Revers, unter den Fingern - von überall blinken Gerätschaften, und wo mal Körperfunktionen waren, öffnen sich Displays.

Über diese verwaltet er sein Ego, den Luftraum beschallend: " ... in der consulting practice machen wir das als knowledge management und utilisation im Rahmen von workshops ... hör auf, das ist ein Sales Legastheniker ... klar ... kein Thema." Er bescheinigt seinem Gesprächspartner "hohe Sympathiewerte".

Der Taxameter der Innenwelt läuft. "Super. Danke für die Info. Tschaui." Er blickt aus dem Fenster des Flughafens mit dem Behagen eines Mannes, der gerne Eisläuferinnen stürzen sieht. Kein Muttersöhnchen, vielmehr der Bewohner einer Welt, in der man zwischen "Freiheit" und "Freizeit", zwischen "Einfall" und "Idee" nicht unterscheidet, "Gesellschaft" sagt, aber "Zielgruppe" meint.

Sechzig Reisende besteigen die Maschine nach Frankfurt. Manche sehen einander sogar ins Gesicht. Vierzig Minuten später kreisen 59 Reisende über Frankfurt - die Kabinenchefin meldet dem Tower einen Todesfall an Bord, man dringt auf sofortige Landung, eine Tote wird mit bedecktem Gesicht nach hinten getragen. Da wendet sich der mit den Displays zu seinem Nachbarn auf der anderen Gangseite: "Endlich mal kein Kreisen über Frankfurt."

Eine Art, den Schock zu bearbeiten oder eine, das Ausbleiben eines Schocks zu beantworten? Diese Hochleistungsmaschine mit elegantem Chassis und bedienerfreundlicher Software, ein Angestellter, der seine Firma nicht mit seelischer Unzuverlässigkeit, Heimweh, Klaustrophobie, Vitalverstimmung oder Privatleben behelligt. Er hat sich von seiner Mutter emanzipiert, das ist seine größte Leistung. Nun steht er am Ende der Einfühlung und trägt ein Milieu. Taxifahrer, Flugbegleiterinnen, Kellner und Barkeeper können von einem wie ihm erzählen: Er widert sie an.

Erlebnis-Stillstand

Für viele wird ein Erlebnis erst dadurch ein Erlebnis, dass sie es sind, die es erleben. Also interessieren sich wenige für eine Geschichte, in der sie selbst keine Rolle spielen. Diese wenigen sind: Leser. Der aus dem Flugzeug ist kein Leser. Er ist angezogen von seelenloser Architektur, lieblosen Speisekarten, unbarmherzigen Konventionen. Er fühlt sich in der äußeren Erfahrungsleere wohler und organisiert sein Leben als Erlebnis-Stillstand.

An ihn muss ich jetzt denken. Er ist der Unbekannte Soldat auf dem Feld der Berufsehre, das Pin-up der Crash-Zeit, er ist der mit panisch geweiteten Augen die Kursstürze Nachbuchstabierende, sich die Haare Raufende, eine Allegorie des Desasters. Männer schreiben dem Erfolg gern genitalverlängernde Wirkung zu. Jetzt wird er sich transzendieren müssen. Etwas Unvernünftiges wird in sein Leben eindringen, Niederlage mit Namen, Scheitern, Misserfolg. Weh ihm! Nun wird er in eine Kultur entlassen, die er nicht kennt. In seiner Sprache gesprochen: er wird enteiert.

Vor Jahren besuchte ich einen der reichsten Großgrundbesitzer Argentiniens, Raoul Moneta mit Namen. Auf seinem Landsitz zogen mit seidenen Paisley-Tüchern die Damen und in Antilopenlederhosen die Herren über die hellen Kieswege den Weiden zu. Präsident Carlos Menem landete mit dem Helikopter hinter dem Haupthaus.

Die beste Gesellschaft kam hier zusammen, grillte, spielte Pool Billard, aß gefüllte Därme und nach Kot und Leber schmeckendes Haché. Dann zogen wir - ein Grüppchen aus Herren, Knechten, Damen und solchen, die aufgegeben hatten, es sein zu wollen - zur Weide und sahen den Gouchos zu, die sich für den Präsidenten und den Feudalherren an die Kastration der Stiere machten.

Den kräftigen schwarzen Kolossen wurde der Hodensack aufgeschlitzt wie mit einem Brieföffner, dann kullerten die weißen Hoden ins Gras und die Stiere sprangen auf und davon mit hohen Schreien, sinnlos mit den Hufen austretend wie vor Freude. Dazu lachten die Männer ringsum auf unsympathische, höhnische Weise, wussten sie doch besser als das Vieh, was da eben verloren gegangen war. Offenbar stellten sie sich die Vergnügen vor, die den Stieren jetzt noch blieben: Gras und Aussicht. Und lachten triumphierend wie über Konkurrenten, als einer das spanische Äquivalent von "Blümchensex" bemühte.

Männer. Stiere. Die aber suchten immer noch das Weite, trampelten und bockten, stießen weiter Hochfrequenz-Töne aus, durch die die Wunde sich Luft machte, es klang, als heulte der Wind durch eine leere Zukunft. Diese Stiere fallen mir ein, wenn ich jetzt die Bilder vom Börsenparkett sehe, und die Schadenfreude isoliere, die sie auch auslösen. Man muss einer von denen sein, ein neoliberaler Universitätsprofessor namens Sinn, um die Kritik an Managern und die Judenverfolgung zu parallelisieren - ein Indiz dafür, wie weit weg von der Wirklichkeit die Finanzwelt leben kann, aber Eva Hermans Schicksal bleibt einem staatlich dotierten Talkshow-Professor natürlich erspart.

Geborene Marktwirtschaftler

"Es gibt Menschen", steht in Hebbels Tagebuch, "die vor dem Meer stehen und nur die Schiffe sehen, die darauf fahren, und auf den Schiffen nur die Waren, die sie geladen haben." Er meint geborene Marktwirtschaftler, quantifizierende Naturen, die alles aus dem Bild werfen, was nicht Ware ist und selbst das Phantom ihres Innenlebens in den Maßen eines Centerfolds berechnen: meine Position, mein Kontostand, meine Statussymbole.

Auf der nächsten Seite: Der gefallene Held.

Männer

Es ist diese eine Spezies Mensch, die der Welt nichts zu geben hat, schon gar kein Mitgefühl, die rabiate, rücksichtslose Kaste derer, die die Temperatur des Gemeinschaftsgefühls drücken. Als sie jung waren, gingen sie zum Ostereiersuchen politischer Parteien.

Ein Sittenbild: ... der unterdrückte Held...

... der unterdrückte Held...

(Foto: Foto: istock)

Zum ersten Hochzeitstag verehren sie ihrer Eheprostituierten Geschenkgutscheine, und zehn Jahre später haben sie öfter auf die Uhr gesehen als ins Gesicht ihrer Frau, sie tragen dazu aber ein Einstecktuch voller Comic-Motive und haben sich zum Klingelton ihres Handys den "Schwiegermuttermarsch" gewählt.

In Kriegsmetaphorik reden sie vom Geschäft, in Zoten vom Privaten. Unsentimental sind sie, aber voller Dünkel angesichts der Hochfinanz, die ihr Hochgefühl speiste und nun nicht mehr. Denn plötzlich liegt etwas Religiöses über der Finanzwelt. "Vertrauen" ist in aller Munde, ein Wort aus dem Exil, ein "Warmduscher"-Ausdruck - und daran soll plötzlich alles hängen? An etwas Transzendentem? Einmal sah ich einen aus dieser Ordnung gefallenen Dreißigjährigen im Anzug, die Tasche neben sich im Dreck, bitterlich weinend. An seiner Seite blickte ein Begleiter auf ihn hinab und tröstete:

"Keine Sorge, das resetted sich."

Tut es nicht. Nun, da eine so unzuverlässige Größe wie "Vertrauen" ökonomische Bedeutung besitzen soll, schwankt die Psychologie des Brokers. "The hero is he who is immovably centred (Held ist der unverrückbar Zentrierte)." Dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson zufolge muss der Held bis in seine Reflexe hinein heldenhaft sein. Soll der Schwärmer streunen, der Zaudernde sich vervielfältigen, der psychologische Mensch zur kubistischen Plastik werden. Nur der Held agiert aus der immer selben Mitte seines Ichs wie der Modell-Athlet, Inbegriff des Mannes.

Im Augenblick ihres Heldentums sind Helden mit ihrem Handeln identisch. Ihre Besessenheit ist eine Fähigkeit, die ganze Person hinter ihre Sache zu bringen. Diese bewundernswürdige Begabung, schlicht zu werden, fehlt den Zweiflern, den Besitzern gemischter Gefühle. Die Krise aber verneint den effizienten Menschen.

Im Angesicht der Niederlage von widerstreitenden Impulsen geleitet, erneuert er sich wider Willen: Unter Blessuren und Zweifeln zum gemischten Charakter werdend, im Weg voran den Rückweg suchend, wird es ihm unmöglich, sich ganz hinter sich selbst zu versammeln. Seine Motivation ist gestreut. Was er sein müsste, kann er nicht sein. Seine Handlungen sind kontaminiert von Zweifeln, offen für Deutungen.

Schon spricht auch der Analyst: "Der Motor der Wirtschaft stottert." Der Motor stottert? Hat die Wirtschaft denn menschliche Züge nur, wo sie Gebrechen zeigt? Oder erkennt man nur daran, dass sie eine menschliche Metapher bekommt, dass sie stottert?

Auf der nächsten Seite: Männer lügen zur Selbstdarstellung.

Männer

Ein Sittenbild: ... und das unterdrückte Muttersöhnchen.

... und das unterdrückte Muttersöhnchen.

(Foto: Foto: istock)

Der in unfeste Verhältnisse Taumelnde weiß: Dieser Knacks in der Finanzwelt ist die Erscheinung einer mitlaufenden internen Zersetzung. Er wird angebahnt vom Korrosionsprozess von Klischees, von Leitbildern im weitesten Sinne. Der in sein Scheitern hineingeschobene Mann sucht sich wie einen Fremden. Er sagt: Ich erkenne mich nicht wieder als der, der ich bin, nicht als der, der ich war, nicht als der, der ich sein wollte, der Mann mit der Stringenz der Politiker-Biographie, ausgerichtet am Karriere-Modell. Ich bin vielmehr der geworden, den ich nicht vorwegnehmen konnte. Das ist meine Krise.

In dieser Lage macht sich der verneinte, in seinem Heldentum gekränkte Mann auf den Weg in die Innenwelt. Im Nasskern wartet die Frau als Sachbearbeiterin des Sensiblen. Er weint. Früher weinten Männer nicht. Heute werden Männer erst durch Tränen Männer. Obama etwa ist ihnen unheimlich. Er ist auf so andere Weise Mann, ein bisschen effeminiert, mit swingenden Schritten und einer Gattin, die einen Schlagschatten wirft, unter dem er Jüngelchen wird.

Männer lügen zur Selbstdarstellung, Frauen, damit sich das Gegenüber besser fühlt. Die Ehefrau unseres gebrochenen Helden, dem Gefallenen des Marktes, sie zeigt sich also beeindruckt von seinen Tränen, denkt aber insgeheim den Satz, den Demokrit in der Wiege des Abendlandes deponierte: "Stuten, solange sie Mähnen haben, sind zu stolz, sich die Esel als Gatten gefallen zu lassen."

Sie hat diesen Mann in ihr Leben gehämmert wie einen Nagel. Mit den Jahren hat sie sich an seine Umarmungen, die eines Ertrinkenden, gewöhnt. In der Nähe der Lust wird er unstet, dann hart vor Aggression oder Angst. Auf sein Begehren findet er meist nur eine sportliche Antwort. An anderen Tagen wiederum entsteigt er der Arbeitswelt, glaubt, die Liebe sei ein Tempuswechsel, rollt sich in die Umarmung herein und schwappt hin und her wie Suppe. Dieser Egoismus, diese Preis-Leistungs-Lust, diese Fuck-and-Go-Mentalität!

Sie begegnet dem Mechanischen, indem sie sucht, das Rührende zu isolieren. Der nackte Mann ist rührend, wenn er nicht weiß, wohin mit seinen Händen. Aber dieser hier, der gefällt sich sogar körperlich, steht vorm Spiegel, zupft, kämmt, rasiert, posiert, ölt, deodoriert, desinfiziert und entkörperlicht den Körper. Und die Frauen, von denen Musil meinte, sie betrachteten den Körper des Mannes als Gestell zur Anbringung des Kopfes? Sie treffen sich inzwischen bei den Californian Dream Men.

Rührend sind diese Männer nicht leicht, und doch gibt es den Ort, an dem sie sich entpuppen: Männer in öffentlichen Bedürfnisanstalten stöhnen. Das ist wahr. Sie schließen die Kabinen, und nichts, was jetzt geschieht, hat mit dem Bedürfnis selbst zu tun. Zurückgeworfen auf sich selbst, seufzt und ächzt der Mann, schwer und klagend dämmert in ihm Bewusstsein. Ist es die transzendentale Obdachlosigkeit, die jetzt über ihn kommt? Ist er so ausgesetzt, so unbehaust? Wie muss ein Männerleben sein, wenn es sich im ersten freien Augenblick in solchem Wehklagen erleichtert!

Und ist er nicht rührend, wenn man sich vorstellt, wie er abends den Kopf in das Kissen drückt? Das Bedürfnis zu schlafen holt manchmal mehr Transzendenz aus Menschen, als das Verlangen zu lieben. Seine Tränen, sein Verlangen nach Zuneigung, schließlich sein Altern, das alles wird jetzt grotesk. Seine Geschenke sind unverhältnismäßig, sein Werben ist Bestechen.

Jemand wird sagen: Jetzt wird er langsam alt, seine besten Tage hat er hinter sich. So aussortiert aus der Gemeinschaft der Leistungsfähigen, hat er nur noch Anspruch auf mildernde Umstände: "in seinem Alter". Es ist, als sprächen sie ihm die Schuldfähigkeit ab. Nachdem er jahrelang irgendein Alter hatte, ist er jetzt "ein Alter" und sieht den anderen beim Jungsein zu. Die Krise überschwemmt sein Leben. Nun ist die Schwäche unausweichlich.

Auf dem Sterbebett ruft er, wie die meisten aller Männer, zuletzt nach der Mutter - und fährt also doch gen Himmel als Muttersöhnchen.

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