Eiger-Nordwand:Die öffentliche Wand

Die mythenbeladene Eiger-Nordwand ist 70 Jahre nach der Erstbesteigung mehr denn je eine vertikale Sportstätte. Robert Jasper klettert allen voran.

Dominik Prantl

Als die Zeit der großen Tragödien und Pioniertaten eigentlich längst vorbei war, kehrte der Bergsteiger Anderl Heckmair doch immer wieder zurück an den Eiger, jenen Ort seines größten Erfolgs.

Eiger-Nordwand: Robert Jaspers "Symphonie de Liberté" gilt als die schwierigste Route (Bewertung X-) in der gewaltigen Nordwand. Manchmal folgt auch er gerne - wie auf dem Foto am schwierigen Riss - der vor 70 Jahren erstmals begangenen Heckmair-Route.

Robert Jaspers "Symphonie de Liberté" gilt als die schwierigste Route (Bewertung X-) in der gewaltigen Nordwand. Manchmal folgt auch er gerne - wie auf dem Foto am schwierigen Riss - der vor 70 Jahren erstmals begangenen Heckmair-Route.

(Foto: Foto: Robert Bösch)

Er gastierte dann häufiger im Bergrestaurant Alpiglen zwischen Grindelwald und der Kleinen Scheidegg. Hin und wieder, wie im August 1999, trafen dann zwei Generationen aufeinander. Jene, die Heckmair vertrat, der noch mit Nagelschuhen und Hanfseil in den Felsen unterwegs war, und jene Generation, die Funktionskleidung und Helm trägt, die Generation von Robert Jasper.

Jasper ist als vielseitig begabter Kletterer so etwas wie die Gegenwart des Bergsteigens, und wenn Jasper heute über den inzwischen verstorbenen Heckmair spricht, klingt es nicht so, als spreche er über eine Legende. Er sagt nicht etwa, "der alte Heckmair" oder "der Herr Heckmair", sondern beispielsweise: "Der Anderl war sich ganz sicher, dass er da oben rauskommt."

Jasper kennt die Wand, er ist gewissermaßen ein Erbe Heckmairs, ein Seelenverwandter, den der Mythos "noch immer lockt", wie er sagt. Beide haben dabei die Grenzen des Bergsteigens an der Nordwand neu definiert.

Eine Bessenheit für geistig Gestörte

Der Bayer Heckmair war im Sommer 1938 noch mit dem Rad angereist, und als er am 24. Juli tatsächlich als Erster "oben rauskam" aus jener zuvor noch nie durchstiegenen 1800 Meter hohen Wand, löste er zwar das angeblich "letzte Problem der Alpen", doch ein Ende setzte er dem Rummel am Eiger damit nicht.

Die Erstbesteigung war vielmehr weiterer Zündstoff, um die Mythenbildung voranzutreiben. Manchem hatte die Nordwand als unbezwingbar und dementsprechend als Beispiel bergsteigerischen Starrsinns gegolten. Der langjährige Alpine-Club-Präsident Edward Lisle Strutt nannte sie "eine Besessenheit für geistig Gestörte" und "die dümmste Variante seit den Anfängen des Alpinismus".

Dass Heckmair und dessen Seilkollege Wiggerl Vörg schließlich mit den Österreichern Fritz Kasparek und Heinrich Harrer am Berg erfolgbringend fusionierten, nutzten die Nazis als willkomme Parabel für den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich. Unerschrockene Helden, die ihre Eigeninteressen angeblich einem großen Ganzen unterordneten, das kam dem Regime gerade recht. So steht der Name Eiger auch für den propagandistischen Missbrauch des Bergsteigens.

Mehr noch lässt sich an dem Berg der rasante Fortschritt des Alpinismus' nachzeichnen. Die Neue Zürcher Zeitung ahnte bereits nach der Erstbesteigung im Jahr 1938, dass "es die Draufgänger in der Regel auf die rekordmäßige Verkürzung der Aufstiegszeit absehen." Drei Nächte hatten Heckmair und dessen Kollegen in der Wand verbringen müssen, um damals die einzig kletterbar geltende Route zu bewältigen.

Heute liegt der Rekord für die schnellste Begehung bei 2:47 Stunden, fast 30 Routen führen durch die Wand und manche davon sind "mit unseren Eisgeräten und Steigeisen im Winter sogar einfacher", sagt Jasper.

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Die öffentliche Wand

Robert Jasper hat einige davon bewältigt, "so elf bis 13", wie er sagt, darunter in jenem August 1999 mit der "Symphonie de Liberté" die technisch bislang anspruchsvollste. Vor 70 Jahren wäre wohl kein Mensch auf die Idee gekommen, eine Route durch den Eiger "Freiheitssymphonie" zu nennen. Der von Heckmair gewählte Weg heißt schlicht "Heckmair-Route".

Auch hätte sich kein Bergsteiger als "alpiner Zehnkämpfer" bezeichnet, wie das der eloquente Jasper tut. Andererseits ist sich Jasper bei seinen diversen Eiger-Versuchen garantiert ebenso sicher wie Heckmair, dass er wieder rauskommt - wenn auch nicht unbedingt an der gleichen Stelle. "Früher wurde natürlich geschaut, den einfachsten Weg zu gehen", sagt Jasper. Inzwischen leisten sich Kletterer wie Jasper den Luxus, die "schwierigste oder interessanteste Route zu wählen".

Die Nordwand ist das Sinnbild einer "vertikalen Arena", wie sie der Eiger-Chronist Daniel Anker nennt. Das klingt nach öffentlicher Sportstätte für ausgewählte Athleten mit Publikum Kampfrichtern und Kameras. Letztlich ist sie das auch.

Mit kaltem Schweiß

Schon vor Heckmairs Durchstieg wurden die teils tödlichen, später mystifizierten Dramen in der Wand mit dem Fernrohr verfolgt. Vor einigen Jahren produzierte das Schweizer Fernsehen in Zusammenarbeit mit dem deutschen Südwest-Fernsehen SWR die Sendung "Eiger-Nordwand Live", eine Besteigung in Real-Zeit-Format. Andere sind mit einem Fallschirm aus der Wand gesprungen.

Ueli Steck ließ sich erst im vergangenen Winter von zwei Freunden durch einen Feldstecher beobachten und seine Zeit stoppen. "So kommen später keinerlei Zweifel auf", sagt er.

Steck ist jener Geschwindigkeitskletterer, der die Heckmair-Route in der Rekordzeit von 2:47 Stunden meisterte. Ein Jahr zuvor hatte er es schon einmal probiert und dafür 3:54 Stunden benötigt. Er sagt heute: "Das war eine schlechte Leistung". Er sei schließlich weniger ein Bergsteiger im klassischen Sinne, sondern "Sportler".

Entsprechend geht es weniger ums Gipfelsammeln als das richtige Training. Steck ist deshalb schon 24 Mal durch die Wand gestiegen. Jasper, dem an historischen Stätten wie Todesbiwak oder Hinterstoisser Quergang noch immer "ein kalter Schweiß" über den Rücken laufe, sagt: "Die alten Bergsteiger hatten nach einmal Eiger-Nordwand die Schnauze davon voll."

Heckmair, der noch bis ins hohe Alter als Bergführer arbeitete, ist nie wieder durch die Nordwand gestiegen. Er hat nicht einmal gerne darüber geredet. Mit den neuen Formen des Bergsteigens und Zielen der jüngeren Generation an der Nordwand hatte er jedoch kein Problem. Er sagte einmal: "Was sollen die jungen Bergsteiger mit extremen Wünschen machen, wenn bereits alle Berge, Grate und Wände in unseren Gebirgen er- und durchstiegen sind?"

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