E:En Marche

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Europa war tief in der Krise, als ein junger Mann Präsident wurde. Weshalb Macron und seine Bewegung für die EU überlebenswichtig sind.

Von Stefan Ulrich

In der griechischen Tragödie - gemeint ist hier nicht die Krise des modernen Hellas - verstricken sich die Menschen derart in Konflikte, dass diese nicht mehr lösbar erscheinen. Anfang 2017 hatte Europa genau diesen Zustand erreicht: Alles schien gegen die EU zu laufen, die durch den proklamierten Auszug der Briten bereits angeschlagen war. In den USA kündigte der neue Präsident Donald Trump die Freundschaft mit den Altweltlern quasi auf. In Russland arbeitete Wladimir Putin daran, die Ukraine zu destabilisieren und den Nationalismus der EU-Staaten zu schüren. In diesen Staaten selbst gewannen nationalpopulistische, antieuropäische und zum Teil autoritäre Kräfte, beflügelt von der Flüchtlingskrise, rasch an Boden. Nun griffen sie nach der Macht in Frankreich: Marine Le Pen vom radikalen Front National rüttelte heftigst an den Gittern des Élysée-Palastes. Werde sie Präsidentin, sei dies das Ende der EU, raunten die Analysten wie einst Kassandra angesichts des Trojanischen Pferds.

Antike Autoren wie Euripides oder Aischylos zauberten in solch hoffnungsloser Lage den Deus ex Machina auf die Bühne, den Gott aus der Theatermaschine. Der löste die Knoten, entwirrte die Fäden. Daran erinnerte in diesem Frühjahr der Franzose Emmanuel Macron. Noch ohne eigene Partei, nur auf eine rasch zusammengezimmerte Bewegung namens En Marche (etwa: Gehen wir voran) gestützt, gewann der 39 Jahre junge Mann die Präsidentschaftswahl souverän gegen Marine Le Pen. Europa war, fürs Erste, gerettet, und womöglich wird der Sieg Macrons einmal als Wendepunkt zum Besseren in den Geschichtsbüchern beschrieben werden.

Statt zu zerbröseln, könnte die EU jetzt sogar stärker werden

Denn auf einmal öffnen sich ganz andere Perspektiven als zu Beginn des Jahres. Statt zu zerbröseln, könnte die EU sogar stärker werden. Das macht es besonders der deutschen Regierung leichter, die sich zeitweise in der heiklen Rolle wiederfand, Europa allein durch einen dunklen Wald führen zu müssen. Ihr wichtigster Partner, Frankreich, der noch zu Zeiten eines François Mitterrand politisch ihr großer Bruder war, verlor seitdem erheblich an Kraft. Präsident Nicolas Sarkozy wirkte neben der Kanzlerin Angela Merkel oft wie der zappelige kleine Bruder. Sein Nachfolger François Hollande erschien so fahl wie ein Schatten.

Gewiss, auch unter Hollande arbeiteten beide Staaten in der EU zusammen. Ein dynamischer Partner in der Führung aber war Frankreich nicht mehr. Einen solchen Partner, der zugleich als Gegengewicht wirkt, braucht Deutschland jedoch, um von den anderen EU-Ländern nicht wie ein unheimlicher Hegemon wahrgenommen zu werden - was ungerechtfertigt sein mag, angesichts der Geschichte aber verständlich ist.

Doch jetzt kommt Macron. Er hatte im Wahlkampf nicht nur den Mut, für mehr statt weniger Europa zu werben, sondern stellte den Franzosen auch noch soziale Einschnitte etwa im Arbeitsrecht und konsequentes Sparen in Aussicht. Also genau das, was Berlin seit Jahren von Paris fordert. Entsprechend hoffnungsvoll ist man in Deutschland. Man braucht nur die Fotos der ersten Begegnungen von Merkel und Macron zu betrachten, ihre Körpersprache, um zu bemerken, dass sich da zwei gefunden haben. Fürs Erste jedenfalls. Gemeinsam wollen sie die EU aus der Krise führen.

Doch Macron ist kein bequemer Partner. Er strotzt, trotz einbrechender Umfragewerte zu Hause, vor Selbstbewusstsein. Gegenüber Macho-Präsidenten wie Putin oder Trump tritt er sicher und unbeeindruckt auf. "Donald Trump, der türkische und der russische Präsident agieren in einer Logik der Stärke - das stört mich nicht", sagt er. Östlichen EU-Ländern wie Polen und Ungarn, die zum Beispiel in der Flüchtlingskrise keine Solidarität zeigen, droht er: "Europa ist kein Supermarkt." Und im Verhältnis zu Angela Merkel will er keineswegs den Juniorpartner geben. Er lässt sie im Regen stehen, als sie den Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei fordert und damit in der EU isoliert ist. Und er fordert in Athen einen Schuldenschnitt für Griechenland, wodurch er sich als Anwalt der Südländer gegen das strenge Berlin inszeniert.

Der Präsident akzeptiert die Reformforderungen Deutschlands an Frankreich, aber er stellt zugleich eigene Ansprüche: Die Bundesregierung soll mehr fürs Wirtschaftswachstum in Europa tun und sich für gemeinsame europäische Anleihen oder eine europäische Arbeitslosenversicherung öffnen. Berlin wittert dahinter den alten französischen Wunsch, Deutschland solle mehr für die schwächeren Länder der Europäischen Union zahlen. Da kommt vielen Deutschen sofort das Bäh-Wort "Transferunion" in den Sinn. Allerdings weiß Macron genau, dass er nur etwas bekommen wird, wenn er vorher etwas schafft, woran seine Vorgänger gescheitert sind: ein Frankreich, das Haushalt und Schulden in den Griff bekommt und wirtschaftlich wettbewerbsfähiger wird.

Der EU verheißt der französische Präsident nicht weniger als eine "historische Neugründung", damit sie demokratischer und souveräner werde. Den Bürgern will er wieder "Lust auf Europa machen". Falls nicht alle EU-Staaten mitziehen, möchte Macron in einer Kerntruppe voranmarschieren, zum Beispiel in der Rüstungsbeschaffung und Verteidigungspolitik und bei der Reform des Euro-Währungsraums. Auch Änderungen der EU-Verträge, die riskante Referenden in einigen Staaten nach sich ziehen dürften, schrecken ihn nicht.

Macron wartet die Bundestagswahl noch ab, dann will er Vorschläge für ein neues Europa präsentieren

Doch wann geht es los? Wann setzt sich Macron für Europa en marche? Sehr bald, verspricht der Präsident. Noch wartet er die Ergebnisse der Bundestagswahl ab. Kurz darauf will er Vorschläge in rund zehn Themenbereichen machen, um Europa voranzubringen. Darüber will er die EU-Staaten und deren Bürger dann einige Monate lang diskutieren lassen, bevor es mit der Umsetzung zur Sache geht.

Was er wohl im Sinn hat? Zentrale Punkte dürften sein: ein europäischer Verteidigungsfonds, ein Euro-Finanzminister mit eigenem Budget, europaweit einheitliche Listen für die Europawahlen, der Schutz europäischer Schlüsselindustrien vor Übernahme insbesondere durch Chinesen und ein neuer Anlauf für eine europäische Asylpolitik. Verbal wird er sich dabei in vielem mit der Bundeskanzlerin einig sein. Allerdings bedeutet das nicht, dass die beiden unter denselben Begriffen auch dasselbe verstehen. Das wird bei der Diskussion um den Posten eines europäischen Finanzministers deutlich. Berlin erwartet von einem solchen, dass er die Staaten zur Haushaltsdisziplin zwingt; Paris, dass er Investitionen in wachstumsschwachen Ländern finanziert.

Eines aber ist dem Präsidenten und der Kanzlerin klar: Entweder sie reüssieren gemeinsam oder sie scheitern getrennt. In Macrons Worten klingt das so: "Die Symbiose zwischen Frankreich und Deutschland ist die Bedingung dafür, dass Europa vorankommt."

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