Diskussion um Sterbehilfe:Leben oder Tod

In den Niederlanden wird über das Recht Älterer auf eine Suizidpille diskutiert. Sollte auch in Deutschland die Sterbehilfe endlich legalisiert werden? Ein Pro und Contra.

Melanie Ahlemeier und Sarina Pfauth

Das, was einem im Leben niemand nehmen kann, ist die Würde. Garantiert von Artikel 1 des Grundgesetzes. Er muss auch für den Tod gelten. Aktive und vor allem gesetzlich legitimierte Sterbehilfe ist daher eine dringende Notwendigkeit - und zwar zur Entlastung all jener Menschen mit Todessehnsucht.

Denn wenn das Leben nicht mehr selbstbestimmt erscheint oder wenn die Angst vor dem Leben größer ist als die Angst vor dem Tod, kann aktive Sterbehilfe ein Segen sein.

Sterbehilfe ist keine assistierte Selbsthinrichtung und erst recht keine prämortale Geschäftemacherei, wie manchmal behauptet wird. Sie ist eine vom Todeskandidaten gewünschte, in einigen Fällen aber nicht mehr selbst zu erledigende Handlung. Und weil sie im Sinne des nicht mehr zu heilenden, oft austherapierten Kranken geschieht, sollte sie auch in Deutschland endlich legalisiert werden.

In den Niederlanden wird jetzt, neun Jahre nach der dortigen Sterbehilfe-Legalisierung, der nächste Schritt vorbereitet: Die Letzte-Wille-Pille für Menschen über 70 Jahre. 70 Prozent der Bevölkerung, so das Ergebnis einer Umfrage, befürworten das Vorhaben. Ein Beispiel für Deutschland?

Auf alle Fälle. 55 Prozent und damit die Mehrheit der Bürger hierzulande wünschen sich, dass jeder frei entscheiden kann, ob er sein Leben beenden will und wessen Hilfe er dazu benötigt. Das hat eine Studie vor nicht allzu langer Zeit ergeben. Es ist ein eindeutiges Votum. Das Tabuthema Sterbehilfe sollte angepackt werden - und zwar schnell.

Bitte juristisch sauber

Juristisch einwandfrei abgesichert, würde dann auch der in der Bundesrepublik bekannte Sterbetourismus endlich ein Ende finden. Wer seinem Leid ein Ende setzen möchte, ist derzeit auf die Unterstützung einer im Ausland ansässigen Organisation angewiesen. Nach dem Überqueren der Grenze wird oft auf dem erstbesten Parkplatz der Todescocktails gereicht. Doch sterben fernab der Legalität ist unwürdig. Kein Mensch hat es verdient, sich in seinen letzten Lebensstunden mit Gewissensbissen quälen zu müssen. Wer seinem Leben freiwillig eine Ende setzen möchte, sich selbst dazu aber nicht mehr in der Lage sieht, sollte Hilfe in Anspruch nehmen dürfen - ganz legal, auch hierzulande.

Auch jene Menschen, die Angst vor dem Alter, vor dem körperlichen und geistigen Verfall haben, könnten ein Stück Lebensqualität gewinnen. Denn wer vermeiden möchte, dass das Klingeln der Hightech-Windel zwecks Alarmierung des Pflegedienstes das alleinige tägliche Highlight ist, der könnte seinen Wunsch nach einer Letzte-Wille-Pille schriftlich festhalten. Zum Beispiel in der sogenannten Patientenverfügung. Das Papier, das sich immer mehr durchsetzt, könnte um den Punkt "Sterbehilfe, ja oder nein" ergänzt werden: Wer sie wann möchte - oder eben auch nicht.

Keine Frage, das Alter gehört zum Leben ebenso wie Kindheit und Jugend. Wer aber Angst hat, den Zeitpunkt zu verpassen, an dem er nicht mehr Herr seiner Sinne ist und vor allem: wer vermeiden möchte, über Jahre, vielleicht Jahrzehnte gepflegt zu werden, sollte die juristisch saubere Chance dazu bekommen. Der Gesetzgeber könnte ein Beratungsgespräch ähnlich wie etwa vor einem Schwangerschaftsabbruch zur Pflicht machen. Möglicherweise auch mehrere Gespräche, vielleicht sogar im jährlichen Turnus.

In den Niederlanden ist die aktive Sterbehilfe seit April 2001 weitgehend entkriminalisiert. Voraussetzung für die Unterstützung beim Sterben: Der Patient leidet aussichtslos, er äußert den Willen zur Sterbehilfe ausdrücklich und frei. Willkür und Missbrauch, wie von etlichen Kritikern befürchtet, haben sich nicht bestätigt. Im vergangenen Jahr sind so 2700 Niederländer freiwillig aus dem Leben geschieden. Von einem gesellschaftlichen Druck auf Alte und Kranke, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, kann daher keine Rede sein. Der Run auf die Sterbehilfe - es gab ihn nicht.

Die Würde des Menschen ist unantastbar - auch wenn es um den Tod geht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite die Gegenmeinung: Warum der selbstbestimmte Tod eine Abkürzung zum Tod darstellt, die den Menschen eine grundlegende Sicherheit raubt.

Die Suizidpille: Eine Abkürzung zum Tod, die die Menschen alleinlässt.

Es geht bei dieser Frage nicht um den Tod, sondern um das Leben. Wer aktive Sterbehilfe legalisiert, raubt den Menschen eine grundlegende Sicherheit. Eine, die sie zum Leben brauchen. Der Einzelne in einer Gesellschaft kann nur dann unbeschwert leben, wenn er sich sicher sein kann, dass alle Wege mit ihm gegangen werden, egal was ihm auf seinem Lebensweg begegnet: Rollstuhl, Krebsdiagnose oder andere Schicksalsschläge.

Die aktive Sterbehilfe nimmt diese Gewissheit. Sie ist die Abkürzung zum Tod, der Umweg um Leid, aber auch um Mitleiden und Mittragen. Wer die aktive Sterbehilfe legalisiert, erhöht den Druck auf die Kranken und Hilflosen, der Gemeinschaft nicht länger zur Last zu fallen. Gedanken wie "Es wäre für uns alle besser, wenn ich nicht mehr da wäre" fänden dann eine konsequente Antwort: Das Ja zur tödlichen Injektion oder zur Suizidpille.

Wie eine Gesellschaft mit dem Sterben umspringt, sagt viel darüber aus, welchen Wert sie dem Leben beimisst. Die Frage nach der Legitimität aktiver Sterbehilfe ist letztlich die Frage danach, was ein Leben wert- und würdevoll genug macht, um gelebt zu werden. Ein gesetzliches Ja zur Sterbehilfe wäre ein offizieller Stempel dafür, dass ein Leben, dessen Ende absehbar ist, keinen Wert mehr hat. Das Grundgesetz sagt indes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Diese Würde hängt nicht ab davon, ob der Mensch leistungsfähig ist. Ein Leben verliert auch nicht deshalb seinen Wert, weil es keinen Spaß mehr macht oder seine Erhaltung sehr viel Geld kostet.

Wir Europäer leben in Gesellschaften, in denen vor allem Junge, Erfolgreiche und Starke Platz haben. Aber auch die Alten, die Kranken, die Schwachen haben Achtung verdient. Wer das aus seinem Menschenbild heraus so nicht bestätigen kann, sollte zumindest bedenken, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit selbst einmal zu jenen gehören wird, die nichts mehr für die Gemeinschaft leisten können, sondern abhängig sind von Hilfe und Zuwendung.

Nun geht es aber bei der Forderung nach aktiver Sterbehilfe nicht vornehmlich darum, die Alten und Kranken aus dem Leben zu drängen, sondern Todkranken den letzten Wunsch zu erfüllen.

Doch liegt es in der Verantwortung der Gesellschaft, den Einzelnen zu schützen - notfalls auch vor sich selbst. Praktisch gesehen dürfte es extrem schwierig sein, zu prüfen, wer wirklich sterben will und außerdem in der Lage ist, dies zu entscheiden. Die Gefahr, jemanden zu töten, der depressiv ist oder eine depressive Phase hat, Druck von Verwandten und Pflegekräften spürt oder unter Ängsten leidet, denen man auch anders begegnen könnte, wird weiter bestehen. Der Sterbewillige bürdet damit auch den Ärzten und Entscheidern eine Verantwortung auf, die kein Mensch tragen müssen sollte.

Sterbehilfe-Verteidiger wie der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch stellen die Autonomie des Einzelnen über alles andere. Es geht bei der Sterbehilfe-Frage aber nicht nur um Einzelne, es geht auch um die Folgen für eine ganze Gesellschaft. Deshalb darf diese Frage nicht allein an einem Einzelschicksal beantwortet werden.

Türe zu und weg

Schwerkranke verzweifeln am Leben, und die aktive Sterbehilfe ist eine mögliche Antwort auf die Angst vor Abhängigkeit, vor Leid, vor Einsamkeit, Schmerz und Hilflosigkeit. Doch eine Gesellschaft kann auch versuchen, die Wurzeln dieser Ängste zu bekämpfen. Wer dies ernsthaft tun will, muss sich den schwierigen und traurigen Seiten des Lebens stellen. Das Sterben müsste dazu wieder näher am Leben sein. Bislang wird der Tod in unserer Gesellschaft jedoch immer anonymer, er entschwindet aus dem Blickfeld. Sterbende werden aus den Mehrbettzimmern entfernt und in kleine Sterbezimmer geschoben. Türe zu und weg.

"Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden", schreibt der Psalmist. Aber wer denkt schon gerne über den Tod nach? Doch dadurch, dass wir uns vor den Sterbenden und ihrem Leiden fürchten, geht etwas verloren. Denn von ihnen können wir etwas fürs Leben lernen. Chiara Lubich, die nach langer Leidenszeit im Jahr 2008 verstorbene Gründerin der katholischen Fokolar-Bewegung, schrieb: "Wer sich im Dunkel befindet und leidet, sieht weiter, als einer der nicht leidet."

Leben birgt Leiden, und eine Gesellschaft sollte sich dessen bewusst sein. Sie sollte sich davor hüten, den Wert des Lebens an dessen Spaßfaktor festzumachen. Wir müssen an dieser Stelle entscheiden, in was für einem Land wir leben wollen. In einem, das sogar das Sterben sauber, lautlos und effizient macht? Oder in einem Land, in dem die Schwachen getröstet werden. In dem alles dafür getan wird, damit Menschen in Frieden sterben können, ohne Schmerzen und ohne Einsamkeit.

So sähe eine Gesellschaft aus, die zum Leben ruft. Und nicht zum Tod.

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