Vorwürfe gegen Dieter Wedel:Unschuldsvermutung heißt nicht, dass die Opfer schweigen müssen

Die Taten, die Dieter Wedel vorgeworfen werden, sind möglicherweise verjährt. Das ist kein Grund, Ungeheuerlichkeiten auf sich beruhen zu lassen.

Kommentar von Heribert Prantl

Verjährung? Viele der Taten, die dem Regisseur Dieter Wedel vorgeworfen werden, sind sehr lange her. Das ist kein Grund, nicht darüber zu reden und nicht darüber zu schreiben. Verjährung kann kein Grund sein, Ungeheuerlichkeiten auf sich beruhen zu lassen.

Womöglich ist der Anspruch des Staates auf Verfolgung und Strafe ja tatsächlich durch Zeitablauf erloschen. Aber daraus folgt kein Anspruch von Wedel, dass sexuelle Gewalt, wie sie ihm vorgeworfen wird, unter den Teppich gekehrt bleiben.

Unschuldsvermutung? Das heißt nicht, dass die Opfer nicht reden dürfen. Unschuldsvermutung heißt auch nicht, dass die Zeugen nicht aussagen dürfen.

Aufdecken und Schweigen brechen: Darum geht es bei der Debatte um den Regisseur Wedel. Es gilt aufzuklären, ob und wie dieser Regisseur seine Macht missbraucht hat, von wem und warum solcher Machtmissbrauch verschwiegen, vertuscht und verdeckt worden ist.

Das Dossier der Wochenzeitung Die Zeit hat dies auf sehr penible Weise unternommen. Man liest die Schilderungen der gepeinigten Schauspielerinnen und ist fassungslos. Man liest fassungslos die ärztlichen Atteste von Gewalttätigkeiten, die von Wedel ausgegangen sind. Die Dokumente liegen im Archiv des Saarländischen Rundfunks. Man liest fassungslos Schilderungen der perfiden Strukturen, die am Set geherrscht und die sich ungehindert jahrelang entwickeln konnten - weil es ein Kartell des Beschweigens und Verschweigens gab, an dem auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk beteiligt war. Die Vorwürfe gegen Wedel waren dort bekannt.

Man hat sich vom vermeintlichen Genie des Regisseurs (und vom Geld, das mit ihm zu verdienen war), blenden lassen; man hat sexuelle Gewalt wie einen Kollateralschaden in Kauf genommen. Das ist das Ergebnis der erschütternden Zeit-Dokumentation.

Sie ist kein Gerichtsurteil, sie ist keine rechtskräftige Feststellung eines Sachverhalts. Sie ist aber eine eindringliche und schlüssige Beschreibung von Herrschaftsstrukturen - diesmal nicht derer der katholischen Kirche, sondern im Film- und Fernsehgeschäft. Es geht um psychische und physische Gewalt, es geht darum, wie ein Berserker Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt hat und warum dies von Mitwissern hingenommen wurde.

Wedel wäre der deutsche Harvey Weinstein

Die Auftraggeber haben es toleriert, dass Wedel seine Opfer der Lüge bezichtigte; sie haben die Indizien für die Glaubwürdigkeit der Opfer vom Tisch gewischt und abgeheftet. Die Opfer haben die Gewalt und deren Vertuschung letztlich hingenommen und mit sich selbst ausgetragen - weil sie sich schämten und dachten, eh nichts bewirken zu können. Hier wirkt die "Me Too"-Bewegung befreiend; es ist keine Schande, missbraucht worden zu sein; es ist ein Frevel, gegen den sich Opfer wehren müssen.

Wenn die Vorwürfe gegen Wedel stimmen - und man muss aufgrund der Klarheit, der Vielzahl und der Dichte der Aussagen gegen ihn annehmen, dass das so ist - dann ist Wedel die Personifikation all dessen, was die "MeToo"-Bewegung anprangert. Wedel wäre dann der deutsche Harvey Weinstein, dessen Fall den Schauspielerinnen aus Wedels Filmen den Mut gegeben hat, spät an die Öffentlichkeit zu gehen.

Aus den veröffentlichten Dokumenten ergibt sich ein Vorgehen des Beschuldigten nach immer gleichem Muster: Es handelt sich demnach um einen Missbrauch im Fortsetzungszusammenhang, um Serientaten. Die Gleichgültigkeit von Produktionsfirmen, Rundfunk- und Fernsehanstalten den Opfern gegenüber kann man Beihilfe zum sexuellen Missbrauch nennen. Die Auftraggeber haben den Mann weitermachen lassen, haben ihm Aufträge erteilt. Sie haben seine Übergriffigkeiten, sein demütigendes Treiben und seine aggressive Geilheit als Ausdruck des Wedelschen Ingeniums toleriert.

Wenn Wedels Taten verjährt sind, ist auch die Beihilfe dazu verjährt. Aber Anstalten, die sich über öffentliche Beiträge finanzieren und die dem Gemeinwohl verpflichtet sind, können sich nicht hinter der Verjährung verkriechen. Und die Unschuldsvermutung verbietet nicht Diskussion und Aufklärung.

Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die mit Wedel skrupellos ihre Geschäfte machten, sollten einen unabhängigen Untersuchungsbeauftragen einsetzen, der die Vorwürfe aufklärt - so wie dies die Jesuiten vom Berliner Canisius-Kolleg nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals getan haben. In der Selbstbeschreibung der ARD heißt es: "Unsere Angebote unterstützen eine kulturell, sozial und politisch versierte und kompetente Gesellschaft, fördern Teilhabe und das menschliche Miteinander." Daraus ergeben sich Pflichten.

Es ist richtig, dass sich die Unschuldsvermutung nicht in eine Schuldvermutung verkehren darf. Aber die Aussagen der Opfer sind so klar, dass es eine Schande wäre, die Dinge nicht aufzuklären.

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