Die richtige Anrede:"Du, Frau Merkel!"

Begrüßungsrituale wie der Handkuss und das förmliche "Sie" sind aus der Mode gekommen. Im Zeitalter von Facebook darf jeder jeden sofort duzen. Das ist schade.

Dirk von Gehlen

Du kennst die Situation: eine Party, eine S-Bahnfahrt oder ein zufälliges Treffen in der Stadt; plötzlich steht dir gegenüber dieser Mann, der ein Bekannter eines guten Freundes ist. Du bist noch so jung, dass dir auf Anhieb sein Name einfällt, Du bist aber schon so alt, dass du ihn nicht selbstverständlich duzen willst. Du gehst auf ihn zu und begibst dich dann auf einen rhetorischen Hindernisparcours, bei dem du wie in einem Computerspiel alle direkten Anreden vermeiden oder überspringen musst. Das gelingt dir ein oder zwei Mal, aber spätestens beim dritten Treffen dieser Art beginnst du zu zweifeln: Gibt es keine Lösung für dieses Anredeproblem?

Jahresrueckblick 2006: Angela Merkel

Heutzutage wird im Zweifelsfall eher geduzt als gesiezt. Noch förmlichere Begrüßungsrituale wie der Handkuss sind komplett aus der Mode. (Im Bild: Jacques Chirac und Angela Merkel)

(Foto: ddp)

Keine Lösung, aber immerhin die Ahnung, dass es dem Gegenüber kaum anders geht, möchte dieser Text anbieten, der nur deshalb das Unerlaubte wagt, den Leser dieser Zeitung ungefragt zu duzen, um den Beweis anzutreten: Das Du ist öffentlich derart präsent, es fällt kaum mehr auf.

Im Zweifel greift man heute zum Du

Wir fühlen uns tatsächlich angesprochen, wenn der Möbelmarkt die kameradschaftliche Anrede wählt oder die offizielle Mail eines Versandhandels mit den gleichen Worten beginnt, die auch ein alter Freund wählen würde.

Mit dem Tempo, mit dem uns die digitalen Kommunikationsmittel eine ortsunabhängige stete Nähe versprechen, verschwindet das Sie aus den Dialogen. Es hält sich noch in den streng beruflichen Kontexten, da aber privat und beruflich sich ebenso vermengen wie intim und öffentlich, verwischt sich langsam auch die distanzierende Anrede.

Früher gab es diese Probleme nicht. Früher war man entweder noch in dem Alter, in dem die Welt ohnehin nur aus Du besteht, oder der Anstand legte nah, im Zweifel immer zum Sie zu greifen. Heute greift man vielerorts im Zweifel eher zum Du, und der Siezer fällt dort trotz bester Laune als distanzierter Griesgram auf, der selber in Wahrheit nur höflich sein wollte.

Auf der Straße siezen, zu Hause duzen

Als diejenigen, die von dem Duz-Problem am stärksten betroffen sind, lernten, was höflich ist und was nicht, lautete die Regel vereinfacht gesagt: Auf der Straße siezen, zu Hause duzen.

Als Grundschüler kommt man damit ganz gut durch die Welt. Als Mitglied der digitalen Gesellschaft stößt man damit aber an seine Grenzen: Denn die Öffentlichkeit der Straße und die Privatsphäre des Zuhauses werden online gerade vermischt. Die Regeln für das, was man früher Öffentlichkeit nannte, verschieben sich.

Facebook erlaubt vertraute Blicke in Lebensbereiche fremder Menschen (so diese das über die Einstellungen nicht verhindert haben), die man früher als privat bezeichnete. Man sieht den Bekannten eines Freundes im Schlafanzug mit seinen Kindern unterm Weihnachtsbaum oder in Badehosen beim Schwimmen. In der Sprache des klassischen Anstands war man also bereits bei ihm zu Hause, wenn man ihn zufällig auf der Straße trifft.

Kann man ihn dann noch siezen?

Die längste Jugend aller Zeiten

Für Menschen vom Format eines Louis van Gaal stellt sich eine solche Frage nicht. Der Bayern-Trainer (der sich angeblich sogar von seinen Kindern siezen lässt) hat den Irrtum, das Du stehe stets für Nähe und das Sie für Distanz, aus umgekehrter Perspektive widerlegt, als er einem Journalisten sagte: "Sie dürfen nicht glauben, man müsse duzen, um jemanden zu lieben." Auch Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre brauchten kein Du, um sich ihrer gegenseitigen Nähe zu versichern.

Dem gewöhnlichen Bewohner des digitalen Raumes fehlt diese Stärke, er greift zum einfachen Du, um Nähe oder Sympathie zu betonen. Doch wie bei einem zu oft getragenen Sonntagsanzug (ebenfalls kein wirklich gegenwärtiges Kleidungsstück mehr), droht auch diese Besonderheit bei wiederholter Verwendung ihren Zauber zu verlieren.

Wir werden nicht mehr älter

So hat sich mit Aufkommen des steten, ja geradezu globalen Du das charmante Ritual verabschiedet, dass der Ältere dem Jüngeren das Du anbietet. Das liegt zum einen an der Dauerpräsenz des Du, es liegt aber auch daran, dass der Altersunterschied aus der Mode gekommen ist: Wir werden nämlich - zumindest gesellschaftlich - einfach nicht mehr älter.

Der Journalist Claudius Seidl schreibt in seinem Buch Schöne junge Welt: "Wer heute zwischen dreißig und fünfzig Jahre alt ist, hat keinen klaren Lebensbauplan mehr, und keiner, der heute um die vierzig ist, weiß wirklich, wie er mit diesem Phänomen umgehen soll. Fest steht nur: Er hatte vermutlich die längste Jugend aller Zeiten."

Die Jugend (egal ob lang oder kurz) ist aber jene Phase, in der man vor allem noch nicht im klaren Regelsystem der Anrede angekommen ist: Man stellt sich erstmals die Frage, ob man Gleichaltrige siezen soll. Und wenn der Schalterbeamte bei der Post einen duzt, wird man wütend, wenn das Kind auf der Straße einen siezt, wird man traurig. In diesem Zwischenzustand scheint unsere Gesellschaft in Fragen der korrekten Anrede festzustecken.

Gefangen im Duz-Dilemma

Seidl stellt die These auf, dass wir alle gefühlte 35 Jahre alt sind - 35 Jahre lang. Das kann nicht gutgehen, aber es deckt sich mit dem Lebensgefühl derer, die sich unwohl fühlen in der Welt der Menschen, die sie früher gesiezt haben.

Doch nicht nur das Unbehaustsein in den sich ohnehin rapide veränderten Regelsystemen der Erwachsenenwelt ist der Auslöser für das Duz-Dilemma. Es ist vor allem das Gemeinsame im Unwohlsein. Wer jemals einen Berg bestiegen hat, weiß, dass sich oberhalb der Baumgrenze klassische Hierarchien verflachen. Wildfremde Menschen grüßen sich dort mit Du. Ähnlich geht es all denjenigen, die heute im Wiederholungsmodus 35 Jahre alt sind, weil sie noch nicht im Sie ankommen möchten. Sie fühlen sich wie die Mitglieder der SPD, sie teilen Gemeinsamkeiten und erlauben sich deshalb das verbindende Du.

Und da es kaum eine schönere Gemeinschaft geben kann als die zwischen Lesern und Redakteuren dieser Zeitung, erschien uns die duzende Nachlässigkeit am Anfang ausnahmsweise erlaubt.

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