Die andere Seite des Kalten Kriegs:Kugelsicher

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Seit fast 50 Jahren gibt es in Havanna eine Eisdiele mit revolutionärem Ruf. Schon Fidel Castro schaute hier gerne vorbei und aß Unmengen. Nun muss sich das Café Coppelia auf neue Zeiten einstellen.

Von Boris Hermann

Havanna. In einer Eisdiele sitzen zwei Opernsänger. Tenöre. Sie heißen Héctor Rodríguez und Jorge Felix. Sie bestellen 15 Kugeln Ananas-Eis. Pro Tenor. Kann man so viel essen? "Geht schon", sagt Rodríguez, "schau uns doch an." Tatsächlich sehen die beiden nicht aus, als würden sie sich nach strengen Kalorientabellen ernähren. Das gehört für sie zur Berufsehre, "als Opernsänger braucht man Volumen". Sie stecken gerade mitten in einer anstrengen Probephase, Richard Wagner hat es auch schon nach Kuba geschafft. "Tannhäuser", sagt Rodríguez. Die Partitur hat er dabei, aber er steckt sie sich gleich wieder in die Tasche. Jetzt ist nämlich erst einmal Mittagspause, Zeit für Genuss. Für ein geliebtes Ritual. Rodríguez und Felix kommen jeden Tag ins Café Coppelia. Der Eisberg vor ihnen auf dem Tisch, das ist ihr Mittagessen.

Der "gemischte Eisbecher", auf Spanisch "Ensalada" genannt, wird im Coppelia auf gelben Plastiktellern serviert. An diesem Tag besteht die Mischung aus einer gelblichen Einheitssorte. Die anderen Geschmacksrichtungen sind gerade nicht lieferbar. "Kuba halt", sagt Felix. Die beiden Tenöre haben sich mit den kleinen Tücken der spätsozialistischen Wirtschaft arrangiert. Wenn es nur Ananas gibt, nehmen sie halt nur Ananas. Hauptsache Eis.

In den bald 57 Jahren der kubanischen Revolution war schon fast alles mal irgend-wann knapp. Fleisch, Butter, Kartoffeln, Gemüse, Kugelschreiber, Windeln, Glühbirnen, Stahl, Benzin. Eis hat es immer gegeben. Dafür sorgte der Revolutionsführer Fidel Castro persönlich. Coppelia war seine Idee. Eiscreme statt Opium fürs Volk.

Es gibt ein altes Schwarz-Weiß-Foto von Fidel, aufgenommen im April 1959 im Zoo von New York. Erst ein paar Monate zuvor war er mit seiner tollkühnen Rebellenarmee aus den Bergen der Sierra Maestra gekommen, hatte erst Santiago de Cuba, dann Havanna erobert und den Militärdiktator Fulgencio Batista zum Teufel gejagt, einen alten Freund der Amerikaner. Castros erste (und vorletzte) Dienstreise in die Vereinigten Staaten war alles in allem ein Reinfall. Präsident Eisenhower weigerte sich, ihn zu treffen. Das war der Anfang einer schlechten Nachbarschaft, die schließlich in eine fünf Jahrzehnte währende Fehde mündete. Auf dem alten Foto aus New York sieht Castro trotzdem glücklich aus. Er schleckt an einer Kugel Eis.

Castro und sein helado, das ist eine ganz besondere Beziehungsgeschichte. Der im vorigen Jahr verstorbene Schriftsteller Gabriel García Márquez schrieb in einem persönlichen Porträt über seinen alten Freund Fidel: "Eines Sonntags, als er sich gehen ließ, beendete er ein üppiges Mittagessen mit 18 Kugeln Eis." Es gibt auch Heldendarstellungen, wonach Castro bis zu 28 Kugeln schaffte. Man muss sich jedenfalls wundern, dass er mit seinen 88 Jahren nicht die Statur eines Opernsängers hat.

In der Hochphase des Kalten Krieges entdeckten auch die Amerikaner die Schwäche des Comandante für Milchprodukte aller Art. In einem der unzähligen fehlgeschlagenen Mordkomplotte versuchten CIA-Agenten offenbar, einen der geliebten Milchshakes Fidel Castros zu vergiften. Der soll schon Mitte der Sechziger gegenüber einem Diplomaten aus Paris behauptet haben, der kubanische Camembert sei besser als der französische. Weltruhm erlangte in den Achtzigern seine Obsession, eine hochleistungsfähige kubanische Milchkuh zu züchten. Überlebt bis in die Gegenwart hat seine Liebe zum Speiseeis.

In Havannas schickem Stadtteil Vedado, wo sich die Verkehrsachsen namens "23" und "L" kreuzen, hat Fidel Castro die Eisdiele des Sozialismus im Juni 1966 eingeweiht. Wobei der Begriff Eisdiele in die Irre führt. Es handelt sich vielmehr um eine zweistöckige Kathedrale, um das architektonische Herz des modernen Havanna, errichtet vom kubanischen Star-Architekten Mario Girona. Angeblich werden hier täglich 17 000 Kunden verköstigt. Die Zahl kommt von offizieller Seite und ist mit Vorsicht zu genießen. Aber unter der futuristischen Kuppel gibt es etwa 1000 Sitzplätze, und die Warteschlange draußen an der Straße ist mehrere Hundert Meter lang. An heißen Sommertagen steht man da bis zu zwei Stunden. Es müssen auf jeden Fall sehr, sehr viele Kunden sein.

Yolanda Rodríguez, 39, arbeitet seit 16 Jahren bei Coppelia. Mit ihren großen, runden Ohrringen und ihrem eng gebundenen Kopftuch sieht sie aus wie die Schwester von Jack Sparrow, dem lustigen Piraten aus dem Film "Fluch der Karibik". Sie hat allerdings ein ernsthaftes Studium der Philologie hinter sich. Und weil man damit in Kuba nichts verdienen kann, hat sie sich auf das Kugeln von Eismasse spezialisiert. "Der Mensch passt sich seiner Umgebung an", sagt sie.

Allerdings schämt sich Yolanda Rodríguez auch nicht für das, was sie tut. Sie sieht sich als Angestellte eines Sozialprojekts. "Coppelia ist ein Symbol der Revolution", sagt sie: "Auf der ganzen Welt gibt es kein so gutes Eis zu so erträglichen Preisen." Yolanda Rodríguez räumt gerne ein, dass sie noch nicht die ganze Welt bereist hat, um ehrlich zu sein, kennt sie nur Kuba, aber der Preis ist in der Tat erträglich. Ein Cup pro Kugel. Etwa 0,04 Euro-Cent. In Havanna, so sieht sie das, können auch die armen Leute Eis essen. Soll noch einer sagen, es sei alles schlecht im Sozialismus.

Seinen ganz persönlichen Kalten Krieg, den hat Fidel Castro tatsächlich auch mit der Eismaschine geführt. Sein Eis sollte besser sein als alles, was die Yankees jemals produziert hatten. Dafür ließ der Comandante Expertise aus Kanada sowie Gerätschaften aus Skandinavien kommen und eine Eisfabrik am Rande der Hauptstadt errichten. 26 Geschmackssorten gab es am Anfang. Eine Anspielung auf den 26. Juli, den heiligen Feiertag der Revolution.

Das Geheimnis des Coppelia-Klassikers sind echte Vollmilch, viel Sahne, frische Früchte. Aber stimmt das denn noch?

Plötzlich taut es aber gewaltig zwischen Kuba und den USA. Und natürlich stellt sich die Frage, was das für die Eiscreme der Revolution bedeutet? "Die Welt verändert sich, und wir, als Teil dieser Welt, verändern uns mit ihr", so drückt es die eisverkaufende Sprachwissenschaftlerin Yolanda Rodríguez aus. Sie schlägt einen kleinen Spaziergang vor, denn das, was sie sonst noch zu sagen hätte, entspricht nicht wirklich der offiziellen Regierungsposition. Draußen am Straßenrand, wo die Gespräche vom Verkehrslärm geschluckt werden, fasst sich Rodríguez ein Herz: "Das Eis, das heute verkauft wird, ist nicht mehr das Eis von früher."

Na so was. Da kommen also täglich zwei Tenöre von der Nationaloper, stellen sich geduldig in die Schlange, bestellen 30 Kugeln im guten Glauben, das beste Eis der Welt zu verspeisen, und in Wahrheit ist es nur ein billiger Abklatsch? Rodríguez nickt.

Nehmen wir nur mal das Ananas-Eis, weil das gerade vorrätig ist. Das Geheimnis dieses Coppelia-Klassikers ist dem Vernehmen nach die echte Vollmilch, ganz viel Sahne und frische Früchte. Aber das war einmal. "Das wird nicht mehr subventioniert", sagt Rodríguez. Heute werden nach ihrer Darstellung auch Milchpulver und Geschmacksverstärker beigemischt. Den Kubanern scheint es trotzdem zu schmecken, aber darum geht es nicht. Nicht nur.

Es geht auch um die Frage, ob da gerade die letzten Prinzipien der Revolution verraten werden? Helado por el pueblo, bestes Eis für alle, das war einmal die durchaus charmante Grundidee. Inzwischen gibt es neben der traditionsreichen Volksverköstigungshalle auch einen kleinen, externen Coppelia-Stand für Touristen. Dort hat das Eis immer noch prämierte Bio-Qualität, und es bilden sich auch keine Warteschlangen. Dafür kostet es 25-mal so viel wie nebenan. Etwa einen Euro pro Kugel, das Preis-Leistungs-Niveau stimmt allemal. Aber für die meisten Kubaner ist das unerschwinglich. Yolanda Rodríguez sagt: "Am Ende entscheidet der Kunde."

In Kuba also auch.

Wie sich wohl der einstige Stammkunde Fidel Castro entscheiden würde, für das beste oder für sozialistischste Eis? Schwer zu sagen, das alte Schleckermaul hat sich im Coppelia schon länger nicht mehr blicken lassen.

© SZ vom 12.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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