Deutscher Alltag:Lauschangriff im Hallenbad

Deutscher Alltag: Eintauchen in die Gesellschaft - im Hallenbad kein Problem.

Eintauchen in die Gesellschaft - im Hallenbad kein Problem.

(Foto: Hanna Lenz)

Die Umkleidekabine im Schwimmbad ist ein Ort der Bekenntnisse und Diskussionen. Ein Hörspiel in sieben Akten.

Von Anne Backhaus

Wer am Sonntag schwimmen geht, findet sich mitten in der Gesellschaft wieder. Bevor der Körper ins Wasser gleiten kann, wird man in der Umkleidekabine aber mit seinen Mitmenschen konfrontiert. Dort wechseln Badegäste nicht nur die Klamotten, sondern sprechen über Alltägliches oder führen Grundsatzdiskussionen, ganz so, als würde niemand zuhören. Viele Menschen fühlen sich hinter der Kabinentür wie zu Hause, weil sie für ein paar Momente vergessen, wie sie eigentlich gerne gesehen werden wollen. Manchmal geht es dabei auch richtig zur Sache. Hörproben aus einem Hamburger Hallenbad:

Mutter: "Torben, kommst du bitte? Hörst du mir einmal zu? Ich rede mit dir."

Torben schweigt.

Mutter: "HALLO? Hier, dein Handtuch. Zieh dich um. Hörst du?"

Torben klatscht seine Schwimmbrille auf den Boden.

Mutter: "Was MACHST du da? Torben? Ich rede mit dir."

Es ist Nachmittag, und das Hallenbad mit Außenpool ist gut besucht. Hinter dem Nassbereich reihen sich mehrere Gänge mit bis zu zehn nebeneinanderliegenden Kabinen aneinander. Die Boxen sind etwas über einen Meter mal einen Meter fünfzig groß, ihre Wände aus rotem Plastik und die Tür per grauem Knauf abschließbar. Jedes Gespräch ist zu hören und das meist laut, weil die Stimmen im Umkleideareal hallen und alle dagegen ansprechen. Vor allem Kinder mit einem Elternteil sind um diese Zeit hier, selten eine ganze Familie. Der Nachwuchs hat Namen wie Lilly, Emma, Tamara, David und Jasper. Oder Torben.

Mutter: "Torben, zieh dich an. Du befindest dich am Rande eines Vulkans. Torben, ich möchte, dass du dich jetzt umziehst."

Torben schweigt.

Mutter: "Torben! Torben? Würdest du dich BITTE JETZT UMZIEHEN?"

Torben schweigt.

Mutter: "Ich hätte lieber eine kleine Tochter bekommen."

Wenige Meter weiter ist eine kleine Tochter in der Umkleidekabine.

Mutter: "Alina, es ist gut jetzt."

Türknallen.

Mutter: "Hörst du schlecht?"

Türknallen. Türknallen.

Mutter: "ES IST GENUG."

Türknallen.

Mutter: "Siehst du? Sie hört einfach nicht auf mich. Und Jan ist nie da. Ich frage mich, ob er überhaupt noch weiß, wo wir wohnen. Er lügt mir direkt ins Gesicht. Ich lese ihm die Textnachrichten von dieser Schlampe auf seinem Telefon vor, und er sagt, er kennt die gar nicht. Oder meinst du, das stimmt?"

Türknallen. Türknallen.

Freundin der Mutter: "Alina, wenn du die Tür knallst, mag dich hier niemand mehr."

Stille.

Mutter: "Meistens ist sie ja ganz lieb."

"Ich hasse meine Beine"

Deutscher Alltag: Badelatschen überall.

Badelatschen überall.

Über den anthrazitfarbenen Fliesenfußboden ziehen sich feuchte Wirbel aus Haaren. Es ist unangenehm und gleichzeitig faszinierend, unbekannten Menschen so nah zu kommen. Eine Mischung aus Fremdscham, Schaulust und Mitgefühl. Manche Gesprächsfetzen schreien geradezu danach, einen guten Rat geben oder einfach das jeweilige Kind umarmen zu wollen. Wäre das okay, sich einzumischen?

Türknallen. Alina nimmt in Kauf, hier nicht mehr gemocht zu werden. Ihre Mutter ignoriert das, sie schildert der Freundin sexuelle Beziehungsdetails. Auch sie hat eine Affäre. Mit wem, bleibt unklar. Und das nervt. Als hätte man das Ende der Werbepause und somit drei wichtige Minuten der Lieblingsserie verpasst. Wer ist dieser Typ, und wo hat sie ihn kennengelernt? Kann Alina nicht mal mit der verdammten Tür aufhören, es ist kaum etwas zu verstehen!

In der Umkleidekabine gilt: Je schlimmer das Gespräch nebenan, umso schwerer lässt es sich weghören.

Frau 1: "Ich hasse meine Beine."

Frau 2: "Wem sagst du das."

Frau 1: "Schau, wenn ich normal stehe, ist inzwischen überall Cellulite."

Frau 2: "Haben wir doch alle. Meine Knie sind knubbelig, DAS ist ätzend."

Frau 1: "Ich bin erst 32."

Frau 2: "Na und?"

Frau 1: "Dafür dann aber überall Pickel. Schau mal, mein Hintern sieht aus wie eine Mondlandschaft mit Pocken."

Tochter: "Papa, hast du die Frau gehört?"

Vater: "Hm."

Tochter: "Was ist Cellulite?"

Vater: "Ich glaube, so Dellen am Bein."

Tochter: "Ist das schlimm?"

Vater: "Anscheinend."

Tochter: "Wenn im Badeanzug 'Made in China' steht, wird der dann in China gemacht?"

Vater: "Ich fürchte, ja."

Tochter: "Das steht in all meinen Sachen."

Vater: "Das können wir leider nicht ändern."

Tochter: "Warum nicht?"

Vater: "Alles andere ist für uns zu teuer."

Tochter: "Ist China schön?"

Vater: "Bestimmt. Jetzt raus hier."

"Alter, Punk ist tot."

Deutscher Alltag: Sitzt die Frisur?

Sitzt die Frisur?

(Foto: Hanna Lenz)

Spricht im Bus jemand laut über Pickel und Orangenhaut am Po? An der Supermarktkasse über die aktuelle Affäre? Eher nicht. Es wäre uns zumindest peinlich. Wie kommt es dann, dass in der Umkleidekabine alle potenziellen Mithörer ausgeblendet werden? Selbst, wenn sie sich ebenfalls zu Wort melden. Vielleicht ist es einfach langweilig, die Kleidung in einer kargen Kabine zu wechseln, und sie muss mit Worten gefüllt werden. Vielleicht lässt uns die Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir noch so sein können, wie wir eben sind, vergessen, dass wir nicht allein sind. Vielleicht wollen wir auch gar nicht allein sein, mit all dem, was wir wirklich denken.

Wäre nur der Lärmpegel nicht so hoch. Es ist zwischenzeitlich schwer, einzelnen Unterhaltungen zu folgen. Nebenan wühlt jemand seit einer gefühlten Ewigkeit in seiner Tasche und flucht dabei, zwei Mädchen suchen ihre Freundin und rufen immer wieder "Luna, streck deinen Fuß unter der Tür durch!" Unzählige Badelatschen schnalzen im Vorbeigehen an die Füße ihrer Besitzer. In der Nebenkabine machen sich zwei Jungen zurecht, vermutlich Teenager, sie wollen gleich irgendwen im Park treffen. Anscheinend verwenden sie Haarspray, es ist Schütteln und Klackern zu hören. Dann, ja, ein langes "Pffffff".

Junge 1: "Ist meine Frisur gerade?"

Junge 2: "Du hast einen Iro."

Junge 1: "Ja, aber ist er gerade? Also in der Mitte."

Junge 2: "Das darf dich überhaupt nicht interessieren."

Junge 1: "Warum das denn nicht?"

Junge 2: "Iro ist doch Punk."

Junge 1: "Alter, Punk ist tot. Ich will jetzt, dass das gerade ist."

Sind Teenager-Frisuren heute eigentlich automatisch sozialen Gruppen zuzuordnen? In den Neunzigern war das irgendwie strenger definiert, aber da war Punk ja auch noch nicht tot und mehr als ein Haarschnitt. Ob der Iro wohl beim Schwimmen nass wurde und auf beiden Kopfseiten runterhing? Oder ragte der aus dem Becken? Letztlich interessieren wir uns ja doch immer, wie wir oder die anderen aussehen. Vielleicht ist auch das so erleichternd hier, keine Sau kann einen sehen. Bevor beim Gang um den Außenpool der Bauch eingezogen wird, kann er sich beim Umziehen in der Kabine sorglos in Falten legen. Ist doch wurscht, ob alle hören, dass ich gerne auf die Speckringe verzichten würde. Weiß ja keiner, dass ich das gesagt habe. Mal eben nackig bücken? Lästern? Geheimnisse weitererzählen? Socken mit Löchern tragen?

Alles kein Problem.

"Was ist aus der Geschichte mit dem Kollegen geworden?"

Deutscher Alltag: Vielleicht liegt das letzte bisschen Privatheit heute in der Öffentlichkeit.

Vielleicht liegt das letzte bisschen Privatheit heute in der Öffentlichkeit.

(Foto: Hanna Lenz)

Sobald Kinder und Elternteile nach und nach das Bad verlassen, kehrt etwas Ruhe ein. Der Boden der Umkleidekabinen wird von zwei Mitarbeitern feucht gewischt. In einem blauen Plastikkorb zeugen zwei vergessene Badehosen, vier Shampoo-Flaschen und ein Paar grüne Badelatschen vom Nachmittag. In den Kabinen sind nur noch vereinzelt Gespräche zu hören, die aber sehr gut, weil der Umgebungslärm sich nahezu komplett gelegt hat. Zu den abendlichen Besuchern zählen viele Sportschwimmer. Sie ziehen sich extrem schnell um, tragen Badekappen, enge Badehosen und auf dem Weg zur Dusche bereits die Schwimmbrille um den Hals. Muskeln haben sie auch. Vor allem aber reden sie nicht, weil sie allein gekommen sind.

Zu hören sind hingegen die Freundinnen im Doppelpack. Sie betreten die Umkleidekabine mit großen, leicht gefüllten Sporttaschen über ihren Schultern. Für den "Tatort" interessieren sie sich nicht, sagen sie, und sprechen trotzdem darüber. Abwertend, weil der Rest der Nation nun Fernsehen schaut.

Frau 1: "Ich bekomme gar keine Luft, wenn ich mir das vorstelle, da so mit der ganzen Familie vor der Glotze zu hängen."

Frau 2: "Oder diese Pärchen, total crazy, wie unsexy ist das bitte?"

Frau 1: "Na ja, vielleicht ist es ja auch schön."

Frau 2: " Ich bitte dich, da mit deinem Typen Kommissar Sonstwas zuzusehen. Da fallen mir echt andere Sachen ein."

Frau 1: "Du bist ja auch schon lange Single."

Frau 2: "Aber bestimmt nicht, weil ich nicht den scheiß Tatort gucke."

Dazu flüstert laut ein Paar, das es aufregend findet, sich gemeinsam umzuziehen.

Er: "Dürfen wir hier überhaupt zusammen rein?"

Sie: "Klar, das ist eine gemischte Umkleidezone."

Er: "Super. Hast du eben diese irre Frau gehört?"

Sie: "Welche?"

Er: "Ach, egal. Komm her."

RUMS.

Sie: "Also das ist wahrscheinlich nicht erlaubt."

Kichern.

Frau 2: "Oh Gott, hier sind sie auch. Nehmt euch ein Zimmer!"

Manchmal ist es wirklich schön, die Kabinennachbarn nicht sehen zu können. Aber ist nicht vor allem die Wut von Single-Frau 2 toll? Endlich kann sie das rufen. Wahrscheinlich dachte sie diesen Satz schon im Park und im Restaurant und an der Bushaltestelle, und nie hat sie etwas gesagt. Will ja auch niemand als frustrierte Single-Spaßbremse dastehen oder irgendwie hysterisch rüberkommen. Die intimen Räume der Umkleidekabine begünstigen es jedoch, die eigene Wahrheit einfach hinauszubrüllen.

Wer wissen will, wie es seinen Mitmenschen wirklich geht, der muss sich nur geduldig umziehen können. Im Gegensatz zum öffentlichen Bad, seiner Architektur und, neben der körperlichen Hygiene, seiner vor allem sozialen Funktion, wird der Vorstufe des Umziehens in der menschlichen Kulturgeschichte aber komischerweise wenig Bedeutung beigemessen. Dabei ist die Umkleidekabine ein Ort, an dem es sich mehr oder weniger anonym und frei von Konventionen sprechen lässt. Vielleicht liegt das letzte bisschen Privatheit heute in der Öffentlichkeit.

Frau 3: "Was ist eigentlich aus dieser Geschichte mit deinem Kollegen geworden?"

Frau 4: "Heißer Scheiß."

Frau 3: "Echt? Ich habe mich das am Arbeitsplatz nie getraut. Das kann einem doch alles kaputt machen."

Frau 4: "Deswegen reden wir darüber auch gar nicht."

Frau 3: "Wie kam es denn so plötzlich dazu?"

Frau 4: "Eine irre Geschichte, aber du darfst das echt auf gar keinen Fall irgendwem erzählen, okay?"

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