Depressionen und Leistungssport:"Aufgeben ist keine Möglichkeit"

Amazing On Ice

Mit drei Jahren begann ich mit dem Eiskunstlaufen, an Wettkämpfen nahm ich mit sieben teil, dann kam die erste Kür, es folgte der deutsche Kader. Mit 13 Jahren stand ich jeden Tag auf dem Eis (Symbolbild)

(Foto: Getty Images/Bildbearbeitung: SZ.de)

Als Eiskunstläuferin war sie auf dem Weg nach oben. Dann forderte der Leistungsdruck seinen Tribut.

Protokoll: Lars Langenau

"Mit drei Jahren begann ich mit dem Eiskunstlaufen. Im Fernsehen hatte ich die Olympischen Spiele gesehen und zu meiner Mutter gesagt: 'Mama, das will ich auch können.' Damals wohnten wir in Nordrhein-Westfalen. Meine Mutter brachte mich in die Eishalle, ich bekam Schlittschuhe angezogen, tappste auf die Eisfläche und lief. Damit, so glaubten meine Eltern und ich, war ein Bund besiegelt, der für das ganze Leben halten würde.

Es ging danach schnell weiter. Meine Eltern fuhren mich fast jedes Wochenende in andere Stadien. Wettkämpfe mit sieben, irgendwann die erste Kür, es folgte der deutsche Kader. Es wurde immer extremer. Mit 13 Jahren stand ich jeden Tag auf dem Eis und trainierte, ob während der Schulzeit oder in den Ferien.

Mein Leben bestand aus Sport, mein Leben war Sport

Zu dieser Zeit verlor mein Vater seine Arbeit. Auf der Suche nach einem neuen Job kamen wir mit meiner Mutter nach München. Dort bekam ich einen neuen Trainer, der meinen Eiskunstlauf als reinen Leistungssport betrachtete. Wenn etwas nicht klappte, wurde ich angeschrien. Es ging nur noch ums Durchprügeln. Da für mich der Sport auch Kunst und Passion war, merkte ich schnell: Das ist eine völlig falsche Umgebung, so funktioniere ich einfach nicht. Zudem plagten mich bereits mit 13 Schmerzen, eine früher erlittene Verletzung machte mir zu schaffen.

Zunächst hielt ich durch. Mein Leben bestand aus Sport, mein Leben war Sport. Morgens zur Schule, danach zum Training. Die Hausaufgaben habe ich auf dem Weg zum Sport gemacht und auf dem Rückweg. Heute sagt mein Therapeut, dass das definitiv nicht ich war. Aber damals war ich davon überzeugt, dass das mein Wille, mein eigener Antrieb war, der mich immer wieder in die Eissporthalle trieb.

Meine Eltern wollten nicht unbedingt eine Eisprinzessin. Sie wollten für mich immer das Beste und mir alles ermöglichen, was ich mir erträumte. Gerade deshalb aber wollten sie, dass ich fleißig bin und die Schule nicht unter dem Sport leidet. Deshalb erzogen sie mich immer leistungsorientiert.

Diese Einstellung eignete ich mir vollkommen an. Gut war ich nur, wenn ich auf dem Eis meine Leistung brachte. Zum Training durfte ich nur, wenn die Schulleistungen 'gut' waren. Eine Drei war bereits nicht mehr gut genug. Ich wollte immer die Beste sein. In allen Dingen. Es war ein langer Prozess zu erkennen, dass ich das nicht immer und überall sein kann.

Meine Eltern legten jeden Cent für mich beiseite, um mir den Erfolg zu ermöglichen. Ich hatte Spaß daran, wollte kämpfen und trainierte im Olympiastützpunkt Dortmund. Ich war komplett auf Leistung gepolt. Mein großes Ziel war die Europameisterschaft. Das hat nicht geklappt, aber ich schaffte es im Nachwuchsbereich bis zur Deutschen Meisterschaft. Drei, vier, fünf Jahre später hätte ich wohl bei den Profis mitmischen können. Aber es kam anders.

Mit 14 der erste Zusammenbruch

Auch die Schule war bis dahin für mich ein permanenter Leistungstest, bei dem ich an der Spitze sein wollte. Doch nach dem Wechsel des Bundeslandes kam ein starker schulischer Leistungsabfall; und schließlich starb meine Großmutter, die ich sehr liebte und die meine engste Bezugsperson war.

Hilfe bei
Depressionen

Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

Dazu kam, dass ich mit der Pubertät ein sehr schwieriges Verhältnis zu meinen Eltern bekam. Ich zog mich immer weiter zurück und grenzte mich durch mein Aussehen ab. Mein Vater reagierte auf meine Veränderung cholerisch und unberechenbar. Er nahm mir Bücher weg, zerbrach meine CDs, übte im Grunde psychische Folter aus. Einmal sperrte er mich sechs Wochen in mein Zimmer ein. Zwar durfte ich noch in die Schule, aber danach musste ich direkt zurück in mein Zimmer. Ich musste klopfen, wenn ich aufs Klo musste. Ich nahm das hin, dachte, er habe recht. Auf die Idee, dass mir Unrecht geschieht, kam ich erst sehr spät.

Komplett überreizte Psyche

Jedenfalls erlitt ich zu dieser Zeit meinen ersten Zusammenbruch. Ich bekam eine Magenschleimhautentzündung, erbrach Blut, bekam Hautausschlag, regelmäßige Schwindelanfälle und Panikattacken. Es folgten unzählige Arztbesuche, doch niemand konnte etwas feststellen - bis ein Arzt Depressionen diagnostizierte. Meine Psyche war komplett überreizt und in der Folge setzte mein Körper aus.

Mein Antrieb war vollkommen weg und meine Unzufriedenheit mit mir selbst steigerte sich bis zum Selbsthass. Zu dieser Zeit stand ich mir permanent selbst im Weg, kam schwer aus dem Haus und brauchte unfassbar lange, um meine Fassade aufzubauen und sie dann den Tag über zu wahren. Ich versuchte mein mangelndes Selbstwertgefühl mit Schminke zu verdecken. Kleinigkeiten überforderten mich. Ich fühlte mich wie in einer Prüfung, ohne vorher gelernt zu haben. Zu dieser Zeit begann ich mich selbst zu bestrafen, verletzte mich an Armen, Beinen und riss mir die Fußnägel aus.

Mein Selbsterhaltungstrieb war weg. Ich konnte mich an nichts mehr festhalten. Immerhin brachte ich noch einen Funken Ratio auf und ging in die Klinik. Nach vier Monaten in der Jugendpsychiatrie inklusive geschlossener Station begann ich mich zurück ins Leben zu kämpfen. Entgegen dem Rat der Ärzte ging ich nicht in eine betreute Wohngruppe, sondern zurück ins familiäre Umfeld zu meinen Eltern. Im Nachhinein war das vielleicht nicht die beste Entscheidung, aber manche Loslösungsprozesse funktionieren erst beim richtigen Zeitpunkt.

Ich hatte zweimal wöchentlich tiefenpsychologische Therapie und wurde vier Jahre lang dazu medikamentös behandelt. Das Abitur auf Antidepressiva zu schreiben, war eine echte Herausforderung, denn ich war dauerhaft müde und schlief auch im Unterricht wegen der Medikamente ein. Doch mein großartiger Therapeut lehrte mich, neue Perspektiven einzunehmen und Alltagssituationen zu genießen. So begann ich, sehr viel Freude an Musik und Konzerten zu finden - und fand darüber auch neue Freunde, die einen Großteil meiner neuen Stabilität ausmachten. Fernab von Leistungssport und Kosten-Nutzen-Denken.

Im zweiten Depressionsloch meines jungen Lebens

Ich begann ein Studium, Literatur- und Sprachwissenschaften, und konnte mich als weitgehend stabil bezeichnen. Doch da begann schon der nächste Kampf: Da die Privatinsolvenz meiner Eltern beim Bafög-Amt nicht anerkannt wurde, musste ich mein Studium selbst finanzieren.

40 Stunden in der Woche jobbte ich, 40 Stunden studierte ich. Minimum. Immerhin lernte ich viele Leute kennen, von denen manche zu Freunden wurden. Doch noch immer war ich völlig auf Leistung getrimmt und überforderte mich wieder heillos. So wiederholten sich all die beklemmenden Symptome meiner ersten psychosomatischen Erkrankung - und verschlimmerten sich. Wirklich verstanden, dass ich erneut ein arges Problem habe, hatte ich erst, als ich eines Abends im Jahr 2013 in der U-Bahn saß, aussteigen wollte und meine Beine sich einfach nicht mehr bewegen ließen. Ich war in diesem Moment wie querschnittgelähmt.

Da es die Endstation der U-Bahn war und ich aussteigen musste, zog ich mich auf Händen robbend hinaus. Das war einer der heftigsten dissoziativen Anfälle, die ich erleben musste. Ich nahm Kontakt zu meinem ehemaligen Therapeuten und einer neuen Psychiaterin auf - und musste eingestehen, dass ich gerade in meinem zweiten großen Depressionsloch meines noch jungen Lebens steckte. Diesmal verbrachte ich sieben Wochen in der psychosomatischen Klinik - der besten, die ich kenne.

Die Außenwelt nahm ich nur noch als Bedrohung wahr

Was bis heute keiner verstehen kann: Für mich war die Diagnose, erneut psychisch erkrankt zu sein, zu diesem Zeitpunkt viel schlimmer, als hätte sich eine der körperlichen Krankheiten bestätigt - es stand unter anderem Multiple Sklerose im Raum. Die Perspektive, diesen jahrelangen Kampf aus der psychischen Krise erneut führen zu müssen, war ein einziger Albtraum. Ich wusste, was es an Arbeit und Kraft kostet, sich selbst zu verändern, mit seiner eigenen Psyche zu arbeiten, und ich wusste gleichzeitig, dass es der einzige Weg aus der Krise ist.

Abermals stieß ich an viele Punkte, an denen ich nicht weiterwusste. Ich konnte schlecht einschlafen und wenn, dann hatte ich massive Albträume. Wenn ich schlief, dann 18 bis 20 Stunden durchgehend. Die Außenwelt nahm ich nur noch als Bedrohung wahr. Jeder Kontakt, jede Frage war mir zu viel. Ich war völlig auf mich selbst fixiert, war aber völlig unfähig zum Handeln.

Ich sehnte mich nur nach Ruhe und fühlte mich, als würden 500 000 Steine auf mir liegen, die mich nach und nach erdrücken. Ich verlor jede Hoffnung, dass es jemals wieder anders wird. Auch hatte ich suizidale Gedanken, unternahm aber keinen Versuch. Denn Aufgeben, so war ich ja schon als kleines Mädchen gepolt, ist keine Möglichkeit.

Inzwischen kann ich auch die kleinen Dinge schätzen

Diesmal aber hatte ich durch meine Jobs und die Uni gute Freunde gefunden, bei ihnen stieß ich auf große Hilfsbereitschaft. Sie konnten mich beruhigen, mir Ängste nehmen. Und wenn ich Bestätigung brauchte, dann waren sie da. Meine Freunde hielten mich aus, ob ich weinte oder nichts tat.

Der letztendlich entscheidende Punkt war aber der Klinikaufenthalt. Hier wurden mit mir gemeinsam die tief liegenden Strukturen aufgedeckt, hier wurde nicht nur den oberflächlichen Symptomen Aufmerksamkeit geschenkt, sondern meiner ganzen Lebensgeschichte. Ich wurde mit den Traumata, die ich erlebt hatte, erneut konfrontiert und konnte lernen, anders mit ihnen umzugehen. Es wurde aktiv mit meinen Ängsten gearbeitet.

Man kann es aus dem tiefsten Loch schaffen

Ich lernte mich und meinen Körper durch Achtsamkeitsübungen neu kennen. Heute kann ich auf kleinste Symptome reagieren. Beispielsweise nehme ich leichtes Sodbrennen oder Fußschmerzen als Warnsignal wahr und nehme mir abends die Zeit, mir meine aktuelle Lebenssituation bewusst anzuschauen, wo eventuell die 'Leistungspersönlichkeit' über andere Teile meiner Persönlichkeit überhandnimmt.

Heute muss ich erkennen, dass ich sehr früh ein angeknackstes Selbstbewusstsein entwickelt hatte. Ich weiß, dass ich die Neigung zu Depressionen mein Leben lang nicht loswerde, weil ich eben noch sehr auf Leistung konditioniert bin und das tief in mir steckt. Aber ich achte heute viel besser auf mich. Das heißt nicht, dass mich ein Schicksalsschlag nicht wieder in die Tiefe führen könnte, aber mit der richtigen Hilfe - ob es nun eine wachsame Umwelt, ein stabiles soziales Netz oder die richtigen Ärzte und Therapeuten sind - kann man es aus dem tiefsten Loch schaffen.

Mittlerweile erhält mich ganz viel am Leben. Der innere Frieden, den man sich selber schenken kann, ist so viel mehr wert als ein teurer Urlaub oder die Anerkennung anderer. Ich liebe die Kunst, sei es im Museum, im Theater, in Konzertsälen oder in Büchern. Aber ich habe auch gelernt, die kleinen Dinge zu schätzen. Etwa wenn ein Schmetterling früh morgens beim Verlassen des Hauses an mir vorbeifliegt, als wenn er mir einen schönen Tag wünschen würde. Und wie das so mit kleinen Dingen ist, habe ich auch die Hoffnung, dass meine kleine Geschichte und mein Kampfeswillen anderen 'Kämpfern' Kraft geben kann."

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Die Protagonistin ist 27 Jahre alt, lebt in München und Berlin, schreibt ihre Doktorarbeit und möchte auf Rücksicht auf ihre Tätigkeit als selbständige Künstlermanagerin anonym bleiben.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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