Demenz:Du weißt nicht einmal mehr, wie ich heiße

Demenz

Ein wenig vertrauter als die Pflegerinnen - aber wie lange noch?

(Foto: Tobias Kleinschmidt/dpa)

Wie ist das, wenn aus der Mutter eine hilflose Frau wird, die sich an immer weniger erinnern kann? Die vergessen hat, wer das eigene Kind ist? Der Erfahrungsbericht einer Tochter.

Von Maja Linthe

Als ich eintrete, hat sie Tränen in den Augen, obwohl sie meinen Namen nicht mehr kennt, obwohl das Wort Tochter für sie keinen Sinn mehr ergibt. Tochter bin ich nur noch auf Angehörigentreffen. "Wie geht es deiner Mutter?", hat mich eben noch eine Freundin am Telefon gefragt, und eigentlich meinte sie: Wie weit hat sie sich mittlerweile von der Frau entfernt, die einmal deine Mutter war? An ihrer statt ist jemand anderes in mein Leben getreten, ein Mensch jenseits jeglicher Verantwortlichkeit und jenseits aller gesellschaftlichen Konventionen, ein Mensch hinter einer unsichtbaren Wand.

Ich begrüße sie mit einem Kuss auf die Wange, und sie lächelt, streichelt meine Hand. Ich sehe sie vor mir, wie sie sich früher mit demselben Handrücken die Lachtränen aus dem Augenwinkel gewischt hat. Manchmal meine ich, dass etwas in ihr gleich geblieben ist. "Kommst du auch mal wieder?!", begrüßte sie mich noch beim letzten Mal. Und es schien mir so treffend zu sein, das Aufblinken eines alten Zeitgefühls, die passenden Wörter. Aber es sind nur die Hülsen, die sie manchmal noch findet in sich.

Ich möchte mit ihr spazieren gehen und suche nach ihrem Mantel, ihren Schuhen, bereite sie langsam darauf vor, dass wir in den Park gehen werden. Es ist schwierig geworden, ihr die Schuhe anzuziehen, weil sie nicht mehr weiß, wie es geht, wie sie den Fuß halten soll, wann sie drücken soll und womit, auch, weil sie niemandem mehr wirklich vertraut.

Obwohl sie schon so vieles losgelassen hat, fürchtet sie sich davor, sich völlig zu verlieren. Sie will sich nicht hinsetzen, will nicht aufstehen, weil sie Angst hat, die Kontrolle zu verlieren über den Raum, so wie sie schon die Zeit verlor. Sie ist ständig in Abwehrhaltung. Es ist, als zöge die Krankheit sie immer tiefer zu sich hinein, und ich ziehe gleichzeitig an ihrem rechten Fuß, versuche ihr diesen Mutterschuh wieder anzupassen. Er muss einfach noch passen, wenigstens das Spazierengehen dürfen wir nicht verlieren. Aber unsere Runden werden jedes Mal kleiner. Sie schafft nicht mehr so viel.

Ich ziehe sie aus dem Stuhl heraus, beim Mantelanziehen muss mir eine Pflegerin helfen. Es ist schwer, Arme in Ärmel zu stecken, wenn der Mensch nicht versteht, was er tut. Dann biete ich ihr meinen Arm, und sie schaut sich ängstlich um, bittet die Pflegerin mit den Augen um Erlaubnis, spazieren gehen zu dürfen. Sie ist zu meiner Herausforderung geworden.

Ein wenig ist sie das schon als Mutter gewesen. Wir hatten viel Streit. Während ich an meiner Doktorarbeit schrieb, hat sie mir Stellenanzeigen für Sekretärinnen geschickt. Ich sollte nicht überkandidelt werden. Heute ist es ihr egal, was ich bin, heute bin ich für sie nur ein Mensch, zu dem sie tief in ihrem Inneren eine emotionale Bindung hegt. Den Grund dafür hat sie vergessen. Damit muss ich auskommen. Wut ist keine Lösung, und mit meiner Trauer versuche ich sparsam zu sein, denn schließlich lebt sie noch, und für wie viele Jahre würde meine Trauer wohl reichen?

Die Vergangenheit beweisen

Ich ziehe an der schweren Tür, die den acht Demenzkranken der WG das Fortlaufen erschweren soll, und gehe mit ihr nach draußen. Endlich riecht es nicht mehr nach Urin. Was wird sein, wenn sie gar nicht mehr rausgehen kann? Was mache ich dann mit ihr, wenn ich sie besuche? Reden tut sie nicht mehr. Ich lese ihr den Zauberlehrling vor: "Walle, walle . . ." Den mag sie am liebsten. Ich schaue mit ihr alte Fotoalben an, hole sie hervor, als wollte ich ihr die Vergangenheit beweisen.

"Wer ist denn das neben Ihnen?", fragte die begutachtende Ärztin sie, als es um die Pflegestufe 3 ging. Sie aber schaute mich an, lächelte, öffnete den Mund, schloss ihn wieder, verzweifelt. Ich griff nach ihrer Hand. "Ja", sagte die Ärztin endlich und machte sich eine Notiz, "das ist Ihre Tochter, nicht?" Ihr gelang ein Nicken. Und ich dachte, vielleicht, wenn ich fest daran glaube, dass sie noch meine Mutter ist, vielleicht gibt ihr das Halt und sie glaubt es auch. Und ich schaute sie an, wie sie da saß und mit den Augen im Raum herumsuchte, irgendetwas suchte, das es schon lange nicht mehr gab, vielleicht noch nie gegeben hatte. Meine Mutter ist nicht mehr da, dachte ich. Sie ist jemand anderes.

Sie freut sich besonders über die kleinen Kinder, die uns auf der Straße entgegen kommen, deutet auf sie, lacht. Ich erzähle ihr von meinen Kindern, an die sie sich nicht mehr erinnern kann. Meine Tochter will nicht mehr zu Besuch kommen. Das letzte Mal, als das Kind da war, hat sie es unwirsch beiseite geschubst: "Gehen Sie, ich kenne Sie nicht!" Und meine Tochter sagte unter Tränen zu ihr: "Aber du bist doch meine Oma!" Da hat sie ihr über den Kopf gestrichen, hatte Mitleid mit diesem fremden, weinenden Mädchen, das seine Oma suchte und nicht mehr fand.

Was bleibt, sind Emotionen

Die Familienbeziehungen haben für sie die Bedeutung verloren. Was bleibt, sind Emotionen, die sie für den Moment verteilt. Noch bekomme ich mehr als die Pflegerinnen, die sie am liebsten mag. Noch strahlt sie besonders, wenn sie mich sieht. Aber was wird sein, wenn sie sich den Schuh gar nicht mehr anziehen lässt?

Uns kommen andere Mütter entgegen, mit ihren erwachsenen Töchtern ins Gespräch vertieft. Manchmal werde ich traurig davon, aber sie beachtet sie nicht. Vielleicht ist sie lange genug Mutter gewesen, hat es sich ausgemuttert für sie? Sie blickt sich suchend auf der Straße um, bleibt mit den Augen bei mir hängen, lächelt mir zu.

Das Innerste ausgebreitet

Früher, zu Beginn der Krankheit, hat sie von ihrer Kriegskindheit erzählt, immer wieder die gleichen Geschichten. Auch da suchte sie im Zimmer herum, blieb mit den Augen bei mir hängen und fragte: "Hast du das auch noch erlebt?" Und ein wenig hatte ich das tatsächlich, weil sie es wieder zu erleben schien, den Bombenangriff, die Kopfverletzung der Frau, vor meinen Augen erlebte sie es wieder. Ein wenig konnte ich ihr also dabei zuschauen, wie sie meine Mutter wurde. Trotzdem wollte ich ihr den Gefallen nicht tun, nein, ich hatte es nicht erlebt. Ich wollte weder sie werden, noch Mutter werden für sie.

Als eine Feuerwehr mit Sirene vorüberfährt, zuckt sie zusammen, wird ärgerlich und hebt die Hand in einer drohenden Gebärde. Manchmal ist sie auch auf mich wütend geworden, trat beim Duschen nach mir, holte mit der Hand aus. Ich fing ihre Hand ab in der Luft und zischte sie an: "Du schlägst mich nicht!" Und es war mehr als mein Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf dem ich beharrte. In solchen Momenten war sie wieder meine Mutter, die mich schlagen wollte. Das unterschied mich von den Pflegerinnen, gegen die sie auch aggressiv war.

Ich wurde so wütend. Erst vergaß sie, wer ich war, und nun wollte sie mich auch noch schlagen, wenn sie es auch nie tat, immer nur ausholte. In solchen Momenten setzte ich sie in meiner Vorstellung wieder an ihren Platz und sagte: "Du bist meine Mutter, und du schlägst mich verdammt noch mal nicht!" Und irgendetwas schien davon bei ihr anzukommen, mein Einreden auf sie, meine Gespräche mit den Pflegerinnen, denn diese aggressive Phase ging vorüber. Sie wurde fügsamer beim Waschen und Anziehen, fügte sich in das Schicksal einer Frau, die sich nicht mehr selbst anziehen und waschen konnte.

Ich habe sie von da an nur noch selten geduscht, habe es den Pflegerinnen überlassen, weil es mir zu schwer wurde. Nicht das Duschen an sich, sondern die Angst, dass sie in dem Moment, in dem sie mich schlagen wollte, wieder zu meiner Mutter würde, ich sie verantwortlich machte dafür. Nicht, dass ich zurückgeschlagen hätte, aber ich hätte sie gehasst, und hatte doch kein Recht sie zu hassen. Sie war eine hilflose, ängstliche Frau, die mich manchmal an meine Mutter erinnerte.

Als wir an einem Spielplatz vorbeikommen, will sie hineingehen, aber ich ziehe sie weiter, daran vorbei. Sie will den Kindern über den Kopf streicheln, droht ihnen manchmal, wenn sie zu laut sind, und sie macht ihnen Angst. Auch mir macht es Angst, ihr Innerstes so ausgebreitet vor mir zu sehen, das, was sie früher vielleicht sogar vor sich selbst verborgen hat. All die Aggressionen, die eine gute Mutter nicht haben durfte, dieser ewige Verzicht, ich kenne das ja auch. "Esst ihr mal erst. Ich habe keinen Hunger."

Was, wenn es mit genauso erginge?

Sie hat immer erst am Schluss gegessen, wenn wir alle satt waren. Manchmal esse ich heimlich von der Schokolade meiner Kinder, bloß um nicht in diese Mutterfalle zu tappen. Meine Kinder kennen das schon, halten mir genervt ihre nur noch halben Schokoladentafeln entgegen: "Mama!", tadeln sie mich. Was aber, wenn es mir genauso erginge, ich eines Tages die Kontrolle verlöre und alles, aber auch alles preisgeben würde, meine Ängste, meine Aggressionen, meine Liebe? Wenn ich dafür keine Worte mehr fände, sondern sich statt dessen ein Ausdruck dafür fände in mir?

Wir gehen an ihrer alten Wohnung vorbei. So lange haben wir gezögert, sie in einer WG unterzubringen, sie aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen. Schon nach einem Monat erkannte sie die Wohnung nicht mehr, in der sie zehn Jahre mit ihrem Mann gelebt hatte. Mit dem Verlust dieses Mannes hatte alles begonnen, vor etwa zehn Jahren war das. Da war sie Anfang sechzig und ich Ende dreißig. Sie verlor ihre große Liebe und hatte danach kein Interesse mehr am Leben. Also zog sie sich in sich selbst zurück.

Nur dass die Liebe ihres Lebens praktisch das Erste war, was sie vergaß, weil es in der Erinnerung das Nächstliegende, das am kürzesten Zurückliegende war. Aber vielleicht besinnt sie sich nur auf die Liebe, zieht sich allein auf das Gefühl zurück, erinnert sich an ihn nicht als Person, sondern als Gefühl.

Sie wird langsamer, schlurft und stützt sich schwer auf meinen Arm. Sie möchte in die WG zurück. Wieder macht sie den Eindruck, etwas verloren zu haben, ist auf der Suche mit den Augen, mit den Händen, früher mit Worten, nach Worten ringend, immer auf der Suche. Und sie schickte auch uns auf die Suche nach sich, indem sie sich fortnahm, als die, die sie war. Vielleicht war sie müde geworden. Und natürlich haben wir kein Anrecht auf Mütter, wenn wir erwachsen sind.

Aber haben die Mütter ein Anrecht darauf, sich von uns bemuttern zu lassen, sich von uns füttern, windeln und duschen zu lassen? Haben sie ein Anrecht darauf, dass wir ihre Hand abfangen im Flug und sie anzischen: "Du schlägst mich nicht!" Du schlägst mich nicht, denn schau, was ich für dich tue, eigentlich müsste es umgekehrt sein. Andere bekommen ihr Lieblingsessen gekocht, wenn sie nach Hause fahren, kriegen Geburtstagsanrufe und Geschenke, und du weißt nicht einmal mehr, wie ich heiße.

Als ich die Tür der WG mit dem Schlüssel öffne, fällt mir ein, dass sie heute Morgen, als ich zur Tür hereinkam, Tränen in den Augen hatte. Ich führe sie zu ihrem festen Platz am großen Küchentisch und streichle ihre Hand, dieselbe Hand, mit der sie sich früher die Lachtränen aus dem Augenwinkel wischte.

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