Dem Geheimnis auf der Spur:Thomas Manns Gespenster

Spiritismus

Über dem Medium erscheint ein zweiter Kopf: Mit solchen Fotos sollten damals angebliche Geistererscheinungen belegt werden.

(Foto: Ullstein Bild)

Man hält sich an den Händen und beschwört übersinnliche Gestalten: Okkulte Sitzungen und Parapsychologie waren in den Zwanzigerjahren sehr modern. Auch der berühmte Schriftsteller machte bei der Geisterbeschwörung mit.

Von Nicolas Freund

München im Dezember 1922. In einem Palais nahe dem Karolinenplatz hat sich eine illustre Runde versammelt: einige Schwabinger Intellektuelle, ein junger polnischer Maler sowie eine Reihe Naturwissenschaftler und Mediziner, darunter zwei Zoologieprofessoren, ein Arzt aus der Schweiz und eine "Spezialistin für Nervenmassage". Man sitzt im Stuhlkreis und hält sich an den Händen. Es wird gemurmelt, einer der Professoren sorgt für leise Musik. Das großzügige Zimmer ist ein klassischer Altbau mit Türen an drei Seiten. Es liegt allerlei Krempel wie Filzringe, ein Teller mit Mehl, Glöckchen und Spieldosen, ein umgedrehter Papierkorb und eine Schreibmaschine herum. Drei Kameras und ein Magnesium-Blitzlichtapparat sind aufgebaut. Eine Ecke des Zimmers ist mit schwerem schwarzem Stoff verhängt, man nennt sie "das Cabinet". Davor sitzen die Besucher.

Die unheimlichen Séancen bei einem Arzt in München sind Stadtgespräch

Gastgeber der Runde ist der stadtbekannte Freiherr Albert von Schrenck-Notzing. Er hält sich heute im Hintergrund. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf einen 18 Jahre alten Jüngling namens Willi Schneider in einem Schlafrock, der über und über mit leuchtenden Bändern benäht ist. Zur Sicherheit wurden die Gewandärmel und die Vorhänge zusätzlich mit fluoreszierenden Nadeln bestückt. Jede Bewegung soll sichtbar sein. Zur einen Seite Willis sitzt dessen Hauswirtin, die sich für den Jungen ein wenig verantwortlich fühlt. Sie hält seine Beine fest. Auf der anderen Seite sitzt der Schriftsteller Thomas Mann und hält die Hände Willis. Beide sollen überwachen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Denn man hat sich hier getroffen, um Gespenster zu beschwören.

Seitdem der Arzt Schrenck-Notzing 1905 in Algerien dem angeblichen Erscheinen des Phantoms Bien Boa beigewohnt haben will, forscht er an Materialisationsphänomenen: der Entstehung von geisterhaften Gestalten durch Gedankenkraft oder ein Medium. Ein Buch zu dem Thema brachte ihm viel Spott ein, aber seine Sitzungen sind Stadtgespräch und werden auch von ernsthaften Wissenschaftlern frequentiert. "Zwischen Betrug und Wirklichkeit gab es viele Zwischenstufen, und irgendwo waren sie eins", schreibt Thomas Mann später über das, was sich an jenem Abend im Palais Schrenck-Notzing zugetragen hat. Gespenster, Geister und Parapsychologie waren in dieser Zeit schwer en vogue. Fotografie und Film, die es anscheinend vermögen, die Wirklichkeit so wiederzugeben, wie sie ist, bildeten wegen Entwicklungsfehlern, doppelter Belichtungen oder absichtlicher Manipulationen immer wieder Wesen und Dinge ab, die es gar nicht geben sollte. Die vermeintliche Objektivität der Bilder unterstützte den Aberglauben noch. Nicht zufällig sind schon in dieser Zeit einige Lieblingsfiguren des Kinos Vampire, Geister und andere Wiedergänger, die auf der Leinwand zum Leben erweckt werden.

Dem Prinzip der Aufklärung folgend, führten die neuen Technologien und Wissenschaften um 1900 zu mehr Objektivität und ungeahnten Möglichkeiten. Damit einher gingen aber eine ganze Reihe neuer Mythen der Moderne, von denen das Gespenst nur eines der prominentesten ist. Thomas Mann hatte offensichtlich ein großes Interesse am Unerklärlichen. In seinem "Zauberberg" kommt er wenige Jahre nach der Séance im Palais Schrenck-Notzing auf eben jene Dialektik angesichts des Unheimlichen zurück, das sich mit Vorliebe durch ein neuartiges technisches Medium ausdrückt: Im Roman lässt Mann den jungen Ingenieur Hans Castorp vor dem knochigen Bild seiner eigenen Röntgenaufnahme erschaudern.

An diesem Winterabend in München gibt der Schriftsteller aber vorerst noch den Skeptiker, er kann mit der vorgespielten Sachlichkeit der Parapsychologen wenig anfangen. Selbst der erwartungsvollen Lust am Okkulten, die das Treffen der Hobby-Geisterseher umweht, gewinnt Mann nichts ab: "Sollte (man) suggestive Stimmung, eine Atmosphäre der Weihe und des Geheimnisses erwartet haben, so findet (man) sich enttäuscht."

Tatsächlich: Wie von Geisterhand beginnt das Tuch durch den Raum zu gleiten

Lange Zeit geschieht bei der Séance gar nichts. Erwin und Minna, die Geister, die sich sonst gerne durch Willi zeigen, lassen auf sich warten. Nur zwei der Leuchtstecknadeln sind zu Boden gefallen. Waren das jetzt vielleicht schon die Gespenster? Dann verlangt Willi nach einem Taschentuch. Der Freiherr weiß, was zu tun ist. Er zückt aus seiner Brusttasche ein "nur wenig gebrauchtes Schnupftuch", und lässt es zu Boden sinken. Alle Augen sind auf das Stück Stoff gerichtet. Tatsächlich: Wie von Geisterhand beginnt das Tuch durch den Raum zu gleiten. Ein Glöckchen beginnt von selbst zu läuten, eine Spieldose spielt, die Schreibmaschine schreibt. Ein Filzring wird Thomas Mann gar ins Gesicht geschleudert. Höhepunkt ist das Erscheinen "eines länglichen Etwas, schemenhaft, weißlich schimmernd, von der Größe und ungefähren Form eines Unterarmstumpfes mit geschlossener Hand". Dann ist der Spuk vorbei. Mann weiß nicht, was er glauben soll. "Das war nicht möglich - aber es geschah."

Ein Betrug? Oder ist er wirklich Zeuge einer paranormalen Erscheinung geworden? Beides kommt ihm in den Sinn. Nach Erklärung suchend, fällt Mann nur ein, von einer "Gaukelei" zu sprechen: "Die Begriffe der Realität und des Truges mischen sich darin, und vielleicht ist das eine Mischung und Zweideutigkeit mit echtem Lebensrecht, die der Natur weniger fremd ist, als unserem biderben (= biederen) Denken." Die Pseudo-Wissenschaft der Materialisationsphänomene konnte sich nicht durchsetzen - aber im Schaudern vor einer alten Gespensterfotografie lässt sich noch die Faszination dieser Epoche am Unerklärlichen empfinden.

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