Dem Geheimnis auf der Spur:Eine weltbewegende Wette

Wie Georg Friedrich Grotefend vor 200 Jahren von seinem Freund auf einen Spaziergang herausgefordert wird und es der junge Mann schafft, die ersten zehn Zeichen einer uralten Keilschrift zu entziffern.

Von Harald Eggebrecht

Es beginnt alles mit dem Spaziergang zweier Freunde an einem Julitag 1802 in Göttingen. Der eine, Rafaello Fiorillo, ist Sekretär der Bibliothek in Göttingen, der andere Student der Theologie und Philologie, Georg Friedrich Grotefend, der 1775 in Hann. Münden als sechstes Kind eines Schuhmachermeisters geboren wurde. Der talentierte Junge kann auf die Lateinschule seiner Heimatstadt gehen und immatrikuliert sich 1795 an der Göttinger Universität. Zur Zeit jenes denkwürdigen Spaziergangs hat ihn der Altphilologieprofessor Christian Gottlob Heyne längst als Hochbegabung entdeckt und dafür gesorgt, dass er schon an der Göttinger Stadtschule Latein unterrichten kann.

Die beiden Freunde unterhalten sich über Sprache und Schrift und geraten in Streit über die Frage, ob man eine unbekannte Inschrift aus sich selbst heraus entziffern kann, eine, von der man weder weiß, welche Sprache ihr zugrunde liegt, noch worum es inhaltlich geht. Grotefend hält es absolut für möglich, Fiorillo verneint es. Der Wortwechsel spitzt sich zu, bis der Bibliothekssekretär den Junglehrer mit einer Wette herausfordert. Grotefend solle seine Behauptung beweisen, am besten an der bis dahin rätselhaften Keilschrift. Und so geschieht es.

Die altpersischen Könige sind die Schlüsselfiguren, sie bringen die Lösung

Die Keilschrift ist neben den ägyptischen Hieroglyphen und frühen chinesischen Schriftzeichen eines der ältesten und erfolgreichsten Notierungssysteme der Welt, das bis nach Christi Geburt im gesamten Vorderen und Mittleren Orient gebräuchlich war. Entstanden ist sie vor mehr als 5000 Jahren wohl in Uruk, einer der frühesten Stadtgründungen der Geschichte. Sie diente im Laufe der Zeit ganz verschiedenen Sprachen als Schrift.

Blatt

Auf diesem Blatt sind die ersten Keilschriftzeichen dokumentiert, wie sie Grotefend 1802 entziffert hat.

(Foto: Interfoto)

Natürlich greift sich Grotefend nicht irgendeine mit Keilzeichen bedeckte Tontafel, sondern sucht sich ein Dokument aus, von dem er zumindest das historische Umfeld kennen kann, weil es auch in anderer Überlieferung geschildert wird. Er nimmt sich daher jene Abschriften vor, die der bedeutende Forscher Carsten Niebuhr rund vierzig Jahre vorher in den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts auf seiner Reise in den Mittleren Osten in Persepolis anfertigte.

Die altpersische Geschichte kennt Grotefend immerhin so weit, wie sie in griechischen Quellen und auch in der Bibel berichtet wird. Also weiß er, dass der persische König Kyros II. 539 v. Chr. kampflos in Babylon eingezogen ist, nachdem er zuvor das Reich Lydien des legendären Königs Krösus erobert und auch den babylonischen Herrscher Nabonid am Tigris geschlagen hatte. Kyros II. wurde dann zum König des neubabylonischen Reiches gekrönt, das sich von Mesopotamien bis Judäa erstreckte.

Nun entwickelt sich bei Grotefend folgender Gedankengang: Kyros II. wird wohl die Keilschrift aus den eroberten Gebieten übernommen haben, weil sie dort schon üblich war. Grotefend sieht auf den Persepolis-Inschriften, dass es drei Schriftanordnungen gibt, unter denen Altpersisch die wichtigste sein müsste. Außerdem lag Niebuhr schon richtig mit der Annahme, dass die Keilzeichen wegen ihrer Ausrichtung von oben nach unten und die Zeilen von links nach rechts zu lesen seien.

Georg Friedrich Grotefend

Georg Friedrich Grotefend, 1775 bis 1853.

(Foto: Gmeinfrei)

Grotefend forscht nach Königsnamen, eingedenk der griechischen Überlieferung von persischen Titularien, die immer auch die Abstammung des jeweiligen Königs mit angegeben hat. Außerdem dürften Königsnamen öfter vorkommen. Also sucht er nach identischen Zeichenanhäufungen, die er auch findet. Er ist sich nun sicher, den Namen eines Achämenidenherrschers herausfinden zu können, wie ihn die Griechen dokumentiert haben. Kyros II. und Kambyses können es nicht sein, weil die Zeichen für den Namensanfang nicht übereinstimmen. Artaxerxes ist für die Zeichenmenge zu lang, Kyros II. zu kurz. "Es blieben mir also nur die Namen Darius (I., 522-486 v. Chr.) und Xerxes (I., 486-465) übrig, und sie fügten sich in die Charaktere so leicht, daß ich an die richtige Wahl derselben keinen Zweifel setzen konnte." Mit dieser quasi nach Ausschlussverfahren gemachten Entdeckung hat Grotefend schon zehn Keilschriftzeichen entziffert.

Am 4. September 1802 trug er vor der Göttinger Akademie der Wissenschaften stolz seine Ergebnisse vor. Veröffentlicht hat er sie nach langem Drängen von Freunden 1837 als "Neue Beiträge zur Erläuterung der persepolitanischen Keilschrift".

Wie sich im Zuge weiterer Forschungen vor allem der vergleichenden Sprachwissenschaften herausgestellt hat, gibt es insgesamt 37 Keilschriftzeichen. Um nach Grotefends Triumph die restlichen 27 zu entziffern, brauchte es dann noch rund 45 Jahre! Jedenfalls zeigte sich nun, wie flexibel sich die Keilschrift über Jahrtausende hin den verschiedensten Sprachen anpassen ließ, vom semitischen Akkadisch bis zum indogermanischen Hethitisch. Anfangs diente dieses Zeichensystem dem Auflisten, Registrieren und Bilanzieren von Handel und Militär. Doch bald löste sich die Schrift vom rein ökonomischen Zusammenhang und diente dem Abfassen von Gesetzestexten und der Literatur. Das weltälteste Epos um die Helden Gilgamesch und Enkidu ist in Keilschrift verfasst. Dass wir es heute lesen können, verdanken wir unter anderem jener Wette, die Georg Friedrich Grotefend so überzeugend gewonnen hat.

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