Das Geheimnis:Berührungsängste

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Vorsichtig wie zwei Igel gingen Sigmund Freud (l.) und Arthur Schnitzler miteinander um. (Foto: dpa/Ferdinand Schmutzer)

Wiener Verbindung: Der Schriftsteller Arthur Schnitzler und der Psychoanalytiker Sigmund Freud waren zur gleichen Zeit und am gleichen Ort Erforscher der menschlichen Seelen und Triebe. Warum mieden sie sich dann so lange?

Von Volker Breidecker

Nicht jede Nähe wird gesucht, und wenn die Ingredienzen gleichsam hinterrücks ablaufen, wird es womöglich unheimlich. Eine derart problematische Nähe teilten die zwei Wiener Arztkollegen und begnadeten Schriftsteller - der eine mehr als Dichter, der andere mehr als Wissenschaftler - Arthur Schnitzler (1862-1931) und Sigmund Freud (1856-1939) miteinander. Ihre sich kreuzenden Wege waren so viele, dass die beiden diskreten Abstand voneinander hielten, was gar nicht leicht war.

Da war der gemeinsame Beruf zweier Neurophysiologen; da rezensierte der junge Schnitzler öffentliche Vorträge Freuds und seine Übersetzungen von Schriften des Pariser Mentors Jean-Martin Charcot; da lebten Schnitzler und Freud jahrelang nur steinwurfweit voneinander entfernt; da hielt Schnitzler in seinen Tagebüchern seit dem Erscheinen von Freuds "Traumdeutung" 1899/1900 jede neue Freud-Lektüre fest; da las Freud keinen zeitgenössischen Dichter lieber als den Meister der erzählerischen Verknappung, versäumte keine seiner Theateraufführungen und hinterließ davon Spuren in seinen Schriften; da träumte Schnitzler, der eigenes Traummaterial protokollierte und seinem Werk anverwandelte, nicht selten von Freud; da waren viele gemeinsame Bekannte wie Lou Andreas-Salomé, Theodor Reik oder Alma Mahler; und Schnitzlers jüngerer Bruder Julius zählte zu Freuds engstem Freundeskreis beim allwöchentlichen Ritual des Tarockspiels.

Und die vielen Frauen in Schnitzlers Leben? Schnitzler war ein Erotomane

Bis der Tag kam, an dem Freud sich Schnitzler gegenüber erklärte: "Doppelgängerscheu" habe ihn bislang davon abgehalten, das Gespräch mit dem Dichter zu suchen. Auf die kürzeste Formel gebracht, übereignete Freud sein intimes "Geständnis" dem sechs Jahre jüngeren Kollegen brieflich zum 60. Geburtstag. Wovon anders hätte ein so lange aufgeschobenes Gespräch handeln können, als vom menschlichen Seelen- und Triebleben, oder mit Schnitzlers "In eigner Sache" formuliertem Vers: "Von Lieb' und Spiel und Tod".

"Unheimliche Vertrautheit" registrierte Freud, aus dessen Essay über "Das Unheimliche" wir wissen, dass es sich dabei um das "verdrängte Heimische" handelt: Und den "Doppelgänger" wird man niemals los. Doch ist Freuds Brief vom 14. Mai 1922, der zum Auslöser der ersten und dann häufigerer Begegnungen der beiden werden sollte, noch nicht ganz ausgeschöpft. Wie es ein weiterer unheimlicher Zufall wollte, wurde das abendliche Treffen für den 16. Juni verabredet, dem Tag, der seit dem Erscheinen - auch 1922 - der Erstausgabe von James Joyce's "Ulysses", der die Psychoanalyse quasi voraussetzt, als "Bloomsday" begangen wird: "So habe ich den Eindruck gewonnen", schreibt Freud, "dass Sie durch Intuition - eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung - alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe."

Daran ist zweierlei bemerkenswert: Während Freud den Anteil langwieriger Selbstanalysen am eigenen Werk schamhaft unterschlägt, begeht er Schnitzler gegenüber eine Indiskretion, die den hochempfindlichen Dichter alarmieren musste: Gemeint sind die ihm unterstellten Resultate "feiner Selbstwahrnehmung". Sollten diese etwa auf der "Übertragung" eigener Befindlichkeiten auf den anderen beruhen? Bei dem sprachlich hochkontrollierten Freud ist ein solcher Ausrutscher kaum vorstellbar. Woher nimmt er die Sicherheit, dass Schnitzlers Dichtungen künstlerisch verwandelte Ausflüsse von Selbsterlebtem, Selbsterfahrenem und einsetzender Selbstreflexion sind?

Und die vielen Frauen in Schnitzlers Leben? Schnitzler war ein Erotomane pathologischen Ausmaßes, der einen Leporello in Verlegenheit brächte mit der Aufzählung der vielen Mizzis, Olgas, Franziskas, Claras, Mimis, Poldis, Maries, Fannys, Fifis, ob als "süße Mädel" aus der Vorstadt, als verehelichte Ringstraßenfürstinnen oder als Sängerinnen, Tänzerinnen, Schauspielerinnen. Was für Freud, den allzeit Entsagenden, tabu war, scherte Schnitzler wenig, der seine nebenberuflich weitergeführte Privatpraxis auch zur Akquisition neuer Sexualpartnerinnen nutzte. Sein Tagebuch registriert die Namen der Verflossenen wie der Verbliebenen, welche er zum Jahreswechsel regelmäßig mit Fliedersträußen beglückte. In multipler Buchführung zählt und summiert Schnitzler für fast jede Affäre noch die beeindruckende Menge - ausschließlich - seiner Orgasmen.

Das lässt die Vermutung zu, dass die eine oder andere von Schnitzlers Liebschaften auch den Seelenarzt Dr. Freud konsultierte. Der Mann im "Beichtstuhl" hinter dem Kopfende der Couch, in dessen Privatpraxis vorzugsweise Frauen aus gehobenen Gesellschaftskreisen verkehrten, vernahm dort die intimsten Geheimnisse. Plausibel, dass aus den Erzählungen von Patientinnen, die gerade Affären mit Schnitzler hatten, Freud weitaus mehr über des Dichters von - so Schnitzler selber - "impertinenter Sinnlichkeit" geprägtes Intimleben erfahren haben dürfte, als diesem wie jenem genehm war. Zu den Gründen für Berührungsängste trat gelebtes Erfahrungsmaterial für die Psychopathologie des Künstlertums hinzu, worüber beide sich mehrfach austauschten, zumal beide die Kluft zwischen Poetik und Wissen auszutragen oder zu sublimieren hatten. Einer Jugendfreundin gegenüber klagte Schnitzler einmal über Erfahrungen, "wenn man manches durchmacht, während man zugleich darüber steht, sich sozusagen in den Erlebenden und Beobachtenden theilt". Solche unheimlichen Erfahrungen waren auch Freud nicht fremd, und so waren beide sich selbst Doppelgänger genug.

© SZ vom 08.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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