Contergan:Eine einzige Tablette

Vor 50 Jahren kam Contergan auf den Markt. Das Schlafmittel war angeblich harmlos, doch rund 10.000 Kinder wurden im Mutterleib davon geschädigt. Wie Betroffene heute damit leben

Arno Makowsky

Der Beipackzettel ist schon ein bisschen brüchig, beim Auseinanderfalten muss man aufpassen, dass er nicht kaputtgeht. Doch alles ist noch gut zu lesen, auch der Absatz, auf dem mögliche Nebenwirkungen verzeichnet sind. Da steht: "Die ungewöhnlich gute Verträglichkeit von Contergan forte wurde in zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen und in umfangreichen klinischen Prüfungen nachgewiesen." Und weiter unten: "Selbst extreme Überdosierung führt zu keinen toxischen Symptomen."

Contergan-Geschädigte

Pressefotograf Christian Knabe ist einer von 2800 Contergan-Geschädigten in Deutschland.

(Foto: Foto: Christian Knabe)

Es ist ein trüber Spätsommertag im schwäbischen Ort Allmendingen in der Nähe von Ulm; es nieselt ein wenig, an den Bäumen hängen Äpfel und tiefblaue Zwetschgen. Am Esstisch ihres Einfamilienhauses sitzt Margit Hudelmaier, vor ihr liegt das Röhrchen mit dem Schlafmittel Contergan forte. Bis heute hat sie es aufbewahrt, in einer Schublade, eingesperrt in einem kleinen Safe. Ihr Blick verrät kein Unbehagen, als der Reporter das Röhrchen aufschraubt; erst vor ein paar Minuten hat sie gesagt, dass sie stark sein muss, immer stark sein, Schwächen sind in ihrem Leben nicht erlaubt. In dem Röhrchen sind elf Tabletten.

Die zwölfte hat ihre Mutter genommen.

Margit Hudelmaier hat keine Arme; ihre Hände mit nur vier Fingern sind direkt an der Schulter angewachsen. Wenn sie einen Besucher begrüßt, streckt sie zwei Finger aus, um zu signalisieren, dass man ihr die Hand geben soll, und beim Umrühren ihres Kaffees beugt sie sich fast auf die Tischplatte. Wir reden über Schuld. Nein, sagt sie, sie macht ihrer Mutter keine Vorwürfe, das wäre ja absurd, aber natürlich hat sie mit ihr oft über Contergan geredet. Über Schicksal. Auch über Schuld. Über ihre Jugend, die anders verlaufen wäre, wenn die Mutter ein anderes Medikament genommen hätte.

Der Schock nach der Geburt

Und während Frau Hudelmaier spricht, denkt man kurz an den Münchner Künstler Christian Knabe, ein Contergan-Opfer auch er, obwohl er den Begriff Opfer nicht mag. Knabe sagt: "Schicksal, damit kann ich nichts anfangen. Schicksal heißt, dass man nicht weiter weiß." Und man denkt an Sebastian Wirtz. Sein Großvater hat die Firma Grünenthal gegründet, die das Medikament Contergan hergestellt hat; heute ist Wirtz einer ihrer Geschäftsführer. Er sagt: "Contergan bedrückt meine Familie bis heute. Mein Großvater ist letztlich an den Folgen gestorben."

War es eine Tragödie oder ein Skandal? Darüber hat jeder eine andere Meinung, je nachdem, auf welcher Seite er steht. Aber eines verbindet sie alle: Ihr Leben wird von Contergan geprägt, das Gift aus dem kleinen blau-weißen Röhrchen wirkt weiter, und es sieht nicht so aus, als ließe diese Wirkung in absehbarer Zeit nach. Auch wenn es am 1.Oktober schon 50 Jahre her ist, dass Grünenthal das Medikament auf den Markt brachte.

Contergan - darüber ist in den vergangenen Monaten viel geschrieben worden, weil der Westdeutsche Rundfunk einen Spielfilm über den Fall gedreht hat, dessen Ausstrahlung vom Hamburger Landgericht zunächst verboten worden war. Nun wird er am 7. und 8. November doch gezeigt, weil das Verbot aufgehoben und eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen wurde.

Abgesehen von diesem Rechtsstreit verbindet sich mit dem Begriff für die meisten Deutschen eine blasse Erinnerung an die sogenannten Contergan-Kinder. Fotos von ihnen hat jeder einmal gesehen: Mädchen mit blonden Zöpfen, die zum Beispiel auf einem Pferd sitzen und mit ihren viel zu kurzen Armen die Zügel halten; kleine Jungen, die mit den Füßen malen. Das alles im Wirtschaftswunder-Ambiente der sechziger Jahre, auf Schwarzweiß-Bildern, die bei aller anrührenden Tragik den Optimismus dieser Zeit ausstrahlen.

Eine Lüge, wie Christian Knabe behauptet. Er selbst habe als Vierjähriger für solche Bilder posieren müssen, fröhlich im Turnsaal oder auf dem Spielplatz. Die Botschaft sollte lauten: Die prosperierende Republik steckt so etwas weg. Es geht vorwärts, auch Behinderte nehmen am Fortschritt teil. Wobei man damals nicht Behinderte sagte. Sondern Krüppel. Missgeburten.

Eine einzige Tablette

"Kerngesund, bloß ohne Arme"

Die Contergan-Kinder sind heute zwischen 45 und 49 Jahre alt. Am 1.Oktober 1957 kam das Schlafmittel in den Handel, am 27.November 1961 wurde es vom Markt genommen. In diesen vier Jahren kamen etwa 10.000 Kinder mit Missbildungen auf die Welt. Viele Behinderungen waren so gravierend, dass die Babys gleich starben. Andere überlebten problemlos, doch natürlich war die Geburt ein Schock für Eltern und Ärzte. Ihre Dorfhebamme, erzählt Margit Hudelmaier, habe keineswegs witzig sein wollen, als sie unmittelbar nach der Geburt sagte: "Ihre Tochter ist kerngesund. Sie hat nur keine Arme."

Erst neulich habe sie sich mit ihrer Mutter darüber unterhalten, dass es damals noch keine Diagnose mit Ultraschall gab, wie das heute üblich ist. Was die Mutter gemacht hätte, wenn sie von den Fehlbildungen gewusst hätte? "Ich mach' mir da nichts vor. Natürlich wären die meisten von uns im Ausguss gelandet." Heute leben etwa 2800 Contergan-Geschädigte in Deutschland, in anderen europäischen Ländern sind es einige Hundert.

München, eine kleine Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses im Westen der Stadt. Hier wohnt Christian Knabe, geboren am 11.Oktober 1961. Ein Mann mit hoher Stirn, einer Brille und lebendigen Augen. Auch er "ein Contergani", wie er sagt, mit der typischen Behinderung, den kurzen Armen und Klumphänden.

Knabe ist eigentlich Maler, aber zum Geldverdienen arbeitet er als Fotograf, ab und zu bekommt er Termine von der Deutschen Presseagentur; an diesem Vormittag war er bei der Präsentation eines Films über Karl Valentin. Viel verdient er damit nicht, im Wesentlichen lebt er von Hartz IV. Seine Frau, die er vor drei Jahren in Bulgarien kennengelernt hat, geht putzen. Knabe will eigentlich keine Sozialhilfe, er ist voll und ganz "gegen diese Versorgermentalität in Deutschland", aber es geht nicht anders.

Er packt seine Nikon aus und zeigt, wie er die Kamera hält, mit Stativ, jede Bewegung strengt ihn an, jeder Wechsel des Standorts. "Ich geh' gerne nah ran an die Gesichter beim Fotografieren. Aber die von der Agentur verlangen immer, dass bei den Leuten die Beine mit drauf sind. Das schaff' ich einfach nicht."

Ein Arzt schöpft Verdacht

Knabe erzählt von seiner Familie. Mitte der fünfziger Jahre ist der Großvater aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt, nach acht Jahren. Er war völlig verändert, sagt Knabe, "meine Mutter hat das wahnsinnig mitgenommen, sie hatte von da an Schlafstörungen". Auch in einer Nacht im Jahr 1961, sie war schwanger. Ihr Mann, Knabes Vater, gab ihr heimlich eine Tablette. Ein leichtes, angeblich gut verträgliches Medikament. Contergan.

Mitte 1961 - zu dieser Zeit waren die Missbildungen in Geburtskliniken schon tausendfach aufgetreten, Ärzte registrierten eine regelrechte Epidemie. Was war die Ursache? Manche Wissenschaftler machten den radioaktiven Niederschlag der Atombombenversuche dafür verantwortlich - bis man herausfand, dass die Missbildungen in der DDR nicht auftraten. Hätte man zu dieser Zeit schon wissen können, dass Contergan zu der Katastrophe geführt hat? Das Medikament fand reißenden Absatz, brachte der Pharmafirma Grünenthal gewaltige Gewinne ein. Hat das Unternehmen womöglich zu lange gezögert, Contergan zurückzuziehen? Einen juristischen Beweis gibt es für diese Vermutung nicht.

Wie Contergan schließlich als Verursacher identifiziert wurde und wie die Firma aus Stolberg bei Aachen darauf reagierte - das ist ein spannendes Kapitel deutscher Medizingeschichte. Es handelt in erster Linie von dem Kinderarzt Widukind Lenz. Im Juni 1961 wenden sich mehrere verzweifelte Eltern missgebildeter Kinder an die Hamburger Universitätsklinik, an der Lenz arbeitet.

Den jungen Arzt lässt das Thema nicht los; er fahndet nach anderen Fällen, redet mit Eltern und Kollegen. Schließlich, im November 1961, fällt ihm auf, dass viele betroffene Mütter während der Schwangerschaft Contergan genommen haben. Er fährt zu Familien, fragt nach Medikamenten, untersucht Hausapotheken - und ist sich schließlich sicher: Das angeblich harmlose Schlafmittel mit seinem Wirkstoff Thalidomid ist die Ursache für die Fehlbildungen.

Eine einzige Tablette

545 Euro Contergan-Rente

Am 15. November informiert Lenz den Forschungsleiter von Grünenthal. Am 19. November veröffentlicht er seinen Verdacht vor einer Kinderärztevereinigung - ohne einen Namen zu nennen. Und wie reagierte Grünenthal? Lenz' Witwe Almut berichtete dem Westdeutschen Rundfunk, nur einen Tag später seien einige "leitende Herren" der Firma bei dem Arzt zu Hause erschienen. Sie hätten Lenz mit juristischen Schritten gedroht, ihm Rufmord vorgeworfen.

Lenz macht eine Eingabe bei der nordrhein-westfälischen Gesundheitsbehörde - noch immer zögert Grünenthal. Erst nachdem die Welt am Sonntag - offenbar gezielt informiert durch einen Mitarbeiter der Behörde - am 26. November einen Bericht über den Verdacht veröffentlicht, nimmt die Pharmafirma tags darauf Contergan aus dem Handel.

So schlüssig diese Geschichte klingt - fairerweise muss man hinzufügen, dass sie aus heutiger Sicht erzählt ist. Aus der Perspektive einer Gesellschaft, die sensibel auf Medikamentenskandale reagiert, die chemische Pillen und Tabletten nicht völlig unbedacht schluckt. Das war in den sechziger Jahren anders: Es gab kein Medikamentengesetz, das die Pharmaproduktion überwachte und keine Konsumenten, die kritisch mögliche Nebenwirkungen studierten. Das erklärt vielleicht ein wenig, warum man bei Grünenthal heute geradezu stolz darauf ist, dass Contergan "bereits 12 Tage nach Erhalt der ersten nachvollziehbaren Verdachtshinweise" vom Markt genommen wurde, wie es in einer Firmenchronik heißt.

Stolberg bei Aachen, im Konferenzraum der Grünenthal-Zentrale sitzt Sebastian Wirtz, der Enkel des Firmengründers Hermann Wirtz. Grünenthal ist heute ein erfolgreicher Konzern in Familienbesitz mit weltweit 4800 Mitarbeitern und 860 Millionen Euro Jahresumsatz. Laut Wirtschaftswoche zählen die Eigentümer zu den 30 reichsten Familien Deutschlands.

Sebastian Wirtz ist 37 Jahre alt, ein Nachgeborener des Skandals. Er spricht gleich von einer ,,furchtbaren Tragödie'', die seiner Firma und seiner Familie "schrecklich leid tut". Das klingt zwar ein bisschen auswendig gelernt, aber wie ein kalter Geschäftsmann wirkt er nicht. Eher wie ein Mensch, der unsicher eine schwierige Familiengeschichte verwalten muss. Ständig sagt er Sätze wie "Contergan bleibt ein wichtiger Teil unserer Firmengeschichte" oder "Die Auswirkungen waren einfach nicht absehbar". Er hat das schon oft gesagt, sein Vater hat es gesagt, alle in der Firma sagen es. Und der Großvater, fügt Wirtz hinzu, hat einen Magendurchbruch bekommen und ist daran gestorben - vor allem aus Sorge, ob das Unternehmen das überlebt.

Der junge Firmenchef hat einen offenen Blick und denkt kurz nach, bevor er auf eine Frage antwortet. Er macht den Eindruck, als würde er gerne ein ganz normales Unternehmen leiten, aber das tut er nun mal nicht. Den Contergan-Skandal wird Grünenthal nicht mehr los; es gibt sogar Ärzte, die sich weigern, Produkte dieser Firma zu verschreiben. Hat er eigentlich schon einmal einen Contergan-Geschädigten persönlich kennengelernt? Sebastian Wirtz macht wieder eine kurze Pause und sagt dann: "Nein, leider nicht. Seit ich Geschäftsführer bin, konnte ich noch keine Gespräche führen." - Warum nicht? - "Mein persönlicher Eindruck ist, dass ein solches Gespräch für beide Seiten schwer werden könnte. Und der Streit um den Fernsehfilm hat die Voraussetzungen für ein solches Gespräch deutlich erschwert."

Ein Mann wie der Maler Christian Knabe hält überhaupt nichts von freundlichen Worten, er will Taten sehen. Zum Beispiel eine Erhöhung seiner Contergan-Rente, die genau 545 Euro beträgt, das ist Höchstsatz. Margit Hudelmaier dagegen hat sich schon oft Gedanken darüber gemacht, "warum wir von Grünenthal nie ein Wort des Bedauerns gehört haben". Sie fragt sich: "Sind wir denen egal, oder haben sie Angst?"

Sie ist in der Altenarbeit tätig, der Mann ist Polizist, von den 500 Euro Contergan-Rente könnte sie niemals leben. Doch Grünenthal muss nicht mehr bezahlen; die Rente finanziert eine Stiftung, in die das Unternehmen in den siebziger Jahren 100 Millionen Mark einbezahlt hat. Weitere Verpflichtungen gibt es nicht, schließlich wurde der Prozess gegen Grünenthal-Mitarbeiter im Jahr 1970 eingestellt. "Wegen geringer Schuld" der Angeklagten.

Eine einzige Tablette

Immer den Tod vor Augen

Begriffe wie Schuld und Schicksal sind es, die den Contergan-Opfern ihr Leben lang um die Ohren fliegen. Wobei sie es nie selbst sind, die mit ihrem Dasein hadern, es sind Mitschüler, Kollegen, Nachbarn. Als sie klein waren, wurden ihre Eltern oft mitleidig gefragt, ob "so ein Kind" überhaupt leben sollte. Immer habe es geheißen, diese Kinder werden nicht älter als 12, sagt Christian Knabe, und als sie 12 waren, hieß es: Vielleicht werden sie 16, älter nicht. "So sind wir aufgewachsen, das haben wir immer gehört." Knabe dreht sich umständlich eine Zigarette, raucht zwei Züge, drückt sie aus. Er sagt: "Als ich ein Jahr alt war, hatte ich mal einen Herzstillstand. Die Ärztin sah meinen Vater an und fragte ihn gnädig: ,Wollen Sie ihn sterben lassen?'"

Das Erleben der eigenen Minderwertigkeit ist wohl ein Gefühl, das sie alle verbindet. Wohlgemerkt: Es ist nicht das eigene Empfinden. Christian Knabe sagt, er habe als kleines Kind überhaupt nicht gemerkt, dass er anders ist als die anderen. Das hat sich schnell geändert, als er täglich in ein Rehazentrum gehen musste, wo Turnübungen an Reckstangen und andere Quälereien zum täglichen Programm gehörten. Margit Hudelmaier erinnert sich mit Schrecken an jene Jahre, als sie eine Armprothese tragen sollte, mit einer künstlichen Hand und einem Seilzug, den sie mit der richtigen Hand bedienen musste. Natürlich ging das nicht, der Arm mit einem Glas wedelte unkontrolliert herum, und sie verschüttete alles. "Diese Zeit würde ich gerne auslöschen."

Und heute? Margit Hudelmaier und Christian Knabe haben es nicht schlecht erwischt, sie haben einen Partner, einen Beruf, Freunde. Nicht alles läuft gut, aber wer weiß, sagt Knabe, vielleicht wäre es mit richtigen Armen auch nicht so toll gelaufen. Auf jeden Fall hat er seine Malerei, die Richtung heißt "Phantastischer Realismus": stilisierte Blumen, große Augen, Regentropfen, die wie Brüste aussehen. Er schaut aus dem Fenster, der Blick geht weit über die Stadt. Dann sagt er: "Wissen Sie, was wichtig ist? Man muss an seinem eigenen Leben teilnehmen."

Margit Hudelmaier könnte das auch gesagt haben. Vor dem Haus steht ihr Auto, das sie mit Fußlenkung steuert. In der Küche lärmt Sohn Julian herum. Und gerade kommt der Mann von der Arbeit nach Hause. Sie nimmt die Contergan-Packung, verschließt sie und trägt sie zurück in den Safe, ein blauweißes Röhrchen mit zwölf Tabletten, von denen eine fehlt.

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