Cocooning- und Do-it-yourself-Trend:Tyrannei der Gemütlichkeit

Cocooning- und Do-it-yourself-Trend: Collage zu Cocooning

Collage zu Cocooning

(Foto: Getty Images, public domain; Collage Jessy Asmus/SZ.de)

Stilsicher entspannen ist Pflicht - und niemand scheint diesem Trend zu entkommen. Eine Gegebenheit, von der die Cocooning-Guerilla und ihre Freunde von der Do-it-yourself-Bewegung ziemlich gut leben.

Von Violetta Simon

Sitzen Sie bequem, während Sie diesen Text lesen? Nichts für ungut, aber bequem ist nicht genug. Bequem mag ein passendes Attribut für orthopädische Schuhe sein. Gemütlich müssen Sie es haben!

Nur wo es gemütlich zugeht, fühlt sich der Mensch sicher und geborgen. Und das ist in Zeiten wie diesen das Wichtigste überhaupt. Diese globalisierte Welt da draußen kann einem ja auch wirklich Angst machen.

Genauso wie german angst ist Gemütlichkeit ein zutiefst deutscher Begriff. So deutsch, dass er ins Englische und ins Französische übernommen wurde. Gemütlichkeit stellt sich aber nicht von selbst ein. Sie ist ein subjektiv empfundener Gemütszustand, und der muss erzeugt werden - eine Gegebenheit, von der eine ganze Industrie ziemlich gut lebt.

Logisch, dass Hersteller und Imageberater interessiert daran sind, dass das Bedürfnis nach Gemütlichkeit nicht nachlässt. Deshalb schwingt hinter all den weichgezeichneten Pinterest-Stilleben aus Hirschgeweih, Birkenstämmen und Lammfell immer auch der Imperativ mit: "Be Cozy!" - "Entspannt euch, gefälligst!"

Weil sich Herumliegen so schlecht verkauft, sagt man dazu eben Chillen, und Wohnen heißt Cocooning - bin ich etwa ein Schmetterling? Selbst fürs gemeinsame Am-Tisch-sitzen gibt es jetzt eine eigene Bezeichnung: "Homing" nennt man es, wenn das kuschelige Zuhause nicht mehr nur Rückzugsort ist, sondern auch Freunde beherbergt.

Um diese zu bewirten, braucht man übrigens - zum Glück für Kare und Ikea - einen sehr großen Esstisch. Mit vielen, stylishen Stühlen. Und eine Küche mit möglichst vielen Gadgets, japanischen Messern und einem freistehenden Küchenblock.

Unsere Wohnungen haben wir zur urbanen Wellness-Oase umgestaltet, gemäß den Vorgaben von Depot, Tchibo und dem Versandhandel "Impressionen". Die behaupten neuerdings, Drinnen sei das neue Draußen. Dabei hatten die Hersteller dem Konsumenten jahrelang eingetrichtert, es gebe kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung.

Eigentlich hätte man den Trend zur Gemütlichkeit vorhersehen können, schließlich zeichnete sich die Entwicklung bereits im Sommer in unseren Vorgärten ab. Gartenmöbel-Sets hießen plötzlich Loungegruppe. Und Zelten in der Natur wurde zu Glamping verwässert, einem Abenteuer für Weicheier, das - dank Feldbett, Lammfell und Radiatoren - selbst bei Minustemperaturen keine Herausforderung mehr darstellt.

Überhaupt, was heißt hier Winter! Die von Supermärkten eingeführte Verschiebung der Jahreszeiten sorgt ohnehin dafür, dass die Wiesn-Saison - ein Prosit der Gemütlichkeit!- quasi nahtlos in die heimelige Vorweihnachtszeit übergeht. Und plötzlich alle Lust auf Lebkuchen, Spekulatius und Cocooning haben. Ehe man sich versieht, steht dann auch buchstäblich Weihnachten vor der Tür, obwohl man es nie eingeladen hat.

Diese Tür hat übrigens mit etwas Selbstgemachtem behängt zu sein. Und damit ist nicht irgendso ein verkrüppeltes Salzteig-Namensschild aus dem Kindergarten gemeint. Sondern ein ethisch korrekter, nachhaltig-dekorativer Beitrag zur Ästhetisierung unseres Alltags. Wozu gibt es schließlich Videos mit Bastel-Anleitungen:

Die Cocooning-Guerilla entdeckt die die Privat-Zone

Nun also haben die Werbemacher die Privat-Zone für sich entdeckt. Die Cocooning-Guerilla, unsere Freunde von der Do-it-yourself-Bewegung und die Drogeriemarktketten penetrieren unsere Lebenswirklichkeit mit Zimt- und Vanillearoma. Youtube-Blogger sind unterwegs im Auftrag des guten Geschmacks, um die Wohnung mit Wohlfühlatmosphäre zu erfüllen.

So lange, bis auch der letzte Weihnachtsmuffel überm Eichentisch einen krumpeligen Weidenast hängen hat, von dem 24 mit Kräutermischungen und Badesalzen gefüllte Reagenzgläser baumeln. Wobei das nur der Adventskalender für die Gäste ist. Die handgenähten Säckchen für die Kinder hängen in der Diele.

Damit hat sich die berufstätige Mutter wieder einmal selbst übertroffen. Ermattet, aber zufrieden schlüpft sie in ihren Jumpsuit mit Einhorn-Kapuze und steckt die kalten Füße in puschelige Lammfellboots. Sie lässt sich auf die Liegelandschaft sinken, die früher mal Sofa hieß, und wärmt sich unter einer XXL-Decke, die sie ohne Nadeln, dafür mit ihren eigenen Armen gestrickt hat:

Dabei versinkt sie in einem Berg aus Kissen, die in Wolle eingestrickt, mit Filz und Fell bezogen oder mit dem tröstlichen Spruch "Du bist mein Lieblingsmensch" bedruckt sind. Schön, wenn einem die Couch sagt, wer man wirklich ist.

Genüsslich wühlt die Jumpsuitträgerin in der getöpferten Schale mit selbstgemachtem Flavored Popcorn (Geschmacksrichtung Brown Butter Lemon) und postet rasch ein Selfie, die Freunde sollen auch etwas davon haben. Dank der Retrica-Foto-App verschwimmt die Szenerie in pastelligem Nebel. Hach.

Endlich: lustvoll chillen, ohne dass man dafür gehatet wird! Man muss nur noch an der dänischen Vintage-Garderobe, Modell "Coming Home", seine geistige Reife abgeben. Die stört nämlich ein bisschen bei dem, was Millionen volljährige Menschen neuerdings zuhause am liebsten tun: vorgegebene schwarze Konturen ausmalen.

Seit Malbücher für Erwachsene als meditatives Anti-Stress-Mittel gelten, ist die Engländerin Johanna Basford keine unbekannten Illustratorin mehr. Sondern Multimillionärin. Das ist an der ganzen Sache wohl der größte Wohlfühlfaktor: dass man damit so verdammt viel Kohle verdienen kann.

Und das, obwohl Gemütlichkeit immer für etwas stand, das den Fortschritt behindert, also Trägheit und Faulheit. Waren gemütliche Typen nicht immer diejenigen, die über ihrem Schreibtisch so ein Schild hatten: "Ich bin hier bei der Arbeit, nicht auf der Flucht"? Waren das nicht die Balu-Bären der Gesellschaft, die den Tag verpennten, indem sie es "mal mit Gemütlichkeit probierten"?

Auf einmal übertreffen sich die Deutschen darin, zu demonstrieren, wie unheimlich entspannt sie sein können. Und alle, wirklich alle, machen Yoga, um mal wieder runterzukommen. Als hätten sie verstanden, wie unsouverän es wirkt, wenn man permanent gestresst ist - und damit fremdbestimmt. Die neue Lehre: Nur, wer es sich leisten kann, einen Gang runterzuschalten, hat sein Leben im Griff.

Doch wer kümmert sich eigentlich um all die überflüssigen Pfunde, die das Gechille und Abhängen verursacht? Abwarten! Das wird sich alles von selbst klären. Irgendwer muss ja die Sportgeräte kaufen, die in der nächsten Saison ein Must-Have sein werden.

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