Charlie Chaplin:Wie am Stöckchen

Großen und kleinen Katastrophen schwang Charlie Chaplin als Tramp sein Spazierstöckchen entgegen - und zeigte, wie man noch völlig abgerissen Haltung bewahrt. Der berühmteste Loser der Filmgeschichte in der Stilkritik.

Irene Helmes

Ein Tramp muss zu allem bereit sein. Muss in löchrigen Schuhen und ausgeleierten Hosen Verfolgungsrennen gewinnen können. Eine ernste Miene bewahren, wenn es darum geht, bei Spießern Eindruck zu machen. "Aber er ist sich auch nicht zu gut, sich nach Zigarettenkippen zu bücken und kleinen Kindern Bonbons zu klauen", wie Charlie Chaplin erklärte. "Und wenn es die Situation erfordert, wird er natürlich auch einer Dame in den Hintern treten."

Charlie Chaplin; Getty Images

Der Tramp nimmt Maß: Chaplins Figur ist bis heute populär.

(Foto: Foto: Getty Images)

Als die Bilder laufen lernen und der Stummfilm sich zu einer völlig neuen Kunstform entwickelt, schlägt auch die Stunde für jede Menge Nonsens. Zwischen unzähligen Tortenschlachten und Verwechslungsgeschichten taucht 1914 ein kleiner schmächtiger Mann auf der Leinwand auf, der in meist völlig abgehalftertem Aufzug durch diverse Abenteuer trippelt.

Slapstick heißt das Genre, mit dem Charlie Chaplin weltberühmt wird. In Episoden und längeren Filmen geht es um alles Mögliche, immer aber drunter und drüber. In Hollywood scharen sich die Komiker, doch der junge Chaplin wird rasch entdeckt und schafft den Durchbruch. Und das verdankt er nicht zuletzt seiner genialen Verkleidung, die er sich später sogar als Marke schützen lässt.

"Mein glücklichster Einfall war wohl mein Stöckchen, denn es hat mich am meisten von den anderen unterschieden und mir den schnellsten Erfolg verschafft", erklärte Chaplin 1967 in seinem Essay "Die Wurzeln meiner Komik". "Es war mit mir auch so verwachsen, dass es schon sein eigenes komisches Leben bekommen hat."

Haltung bewahren - irgendwie

Tatsächlich: Das einst so stolze Accessoire der Großbürger wird an ihm zum i-Tüpfelchen des Absurden. Auf Schritt und Tritt trägt der Tramp sein Spazierstöckchen mit sich herum - und fällt doch ständig auf die Nase. Es hängt sogar noch an seinem Arm, wenn er ein Klavier eine Treppe hinaufschleppt. Anstatt als Stütze zu dienen, berührt es beim Gehen fast nie den Boden, wird vielmehr je nach Laune mehr oder minder enthusiastisch herumgeschwenkt.

Geht mal wieder alles schief, behindert es den ungeschickten Vagabunden mit den "zwei linken Füßen" (Tucholsky) noch zusätzlich, da er nur eine Hand frei hat. Nur manchmal wird es zur nützlichen Überraschungswaffe, mit der unangenehme Bekanntschaften verhauen oder hübsche Frauen nähergezogen werden können.

Anzug, Hut und Stöckchen symbolisieren aber vor allem das Bemühen des Tramps, noch in der größten Not Haltung zu bewahren, Reste von Konventionen und guten Manieren zu pflegen. Auch wenn das wie im Klassiker "The Kid" (1921) bedeutet, sich nach dem Essen den Mund mit Wasser aus dem Trinkglas abzuwaschen und die Hände am Tischtuch abzutrocknen, um einem kleinen Kind ein gutes Beispiel zu geben. All das geschieht mit ungerührter Mine: Der Tramp mag komisch wirken, doch er nimmt sich und sein Leben gebührend ernst.

Im zweiten Teil überlebt zwar der Tramp-Look - aber das Wichtigste fehlt.

Wie am Stöckchen

Fix und fertig, aber nicht kaputt

Noch im Elend die Fassade zu wahren, ist ein Phänomen der Zeiten, die Chaplins zunehmend sozialkritische Filme spiegeln: Um einen sauberen Anzug zu simulieren, kleben sich Männer falsche Manschetten und Hemdkrägen aus Papier an, während unter der obligatorischen Anzugjacke oft nur ein schmutziges ärmelloses Hemd schlackert.

Schein statt Sein. Und so stolziert der Vagabund in Filmen wie "The Kid", "Goldrausch" und "Lichter der Großstadt" konsequenterweise mit dem gutbürgerlichen Stöckchen durch die Straßen - auch wenn seine zerrissenen Hosen daneben durch den Staub schleifen. Das kleine Männchen kommt auf den ersten Blick fix und fertig daher - doch eine kaputte Trauergestalt sieht anders aus.

Dass der Tramp nicht zur lächerlichen Figur gerät, liegt auch an Chaplins Biographie. Zwar wird er schon mit Mitte zwanzig zu einem der bestbezahlten Stars der Filmfabrik - aufwachsen muss er jedoch in ärmlichen Verhältnissen. Seine Eltern sind Londoner Schauspieler, trennen sich früh, Chaplin und sein Halbbruder landen in Heimen und Internaten. Schon als Fünfjähriger tritt der spätere Weltstar im Varieté auf.

Als 17-Jähriger schließt er sich einer Pantomimegruppe an, mit der er auch auf US-Tournee geht, bevor er beim Film landet. Diese Darstellungsform entwickelt er auf der Leinwand zu einem ganz eigenen Stil weiter, der auch die Tramp-Filme auszeichnet. Garderobe, Körpersprache und Mimik sind zentral - denn gesprochen wird in den Tramp-Filmen nicht.

Verschollen in der Mottenkiste

Jahrzehnte später hat sein Tramp dank Programmkinos und DVD den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft. Auch sein Look hat als Modegag überlebt - Provokateure und Möchtegern-Vagabunden von Bob Dylan bis Pete Doherty kleiden sich in abgeschabte Anzugjacketts und verschlissene Krawatten, um das Establishment zu provozieren. Mit etwas Phantasie könnte man sich vielleicht sogar durch die irrsinnig weiten Baggie-Pants der Rapper an die viel zu großen Hosen des Tramps erinnert fühlen.

Der Stock dagegen . . . Ein Niedergang. Nur wirklich hilfsbedürfige alte Menschen zeigen sich noch mit ihm auf der Straße. In abgewandelter Form wird er beim Nordic Walking rücksichtslos in den Boden gerammt. Fröhliche Kapriolen und ironische Statements? Fehlanzeige.

Seltsam eigentlich - wurde doch in der Revival-Sucht der letzten Jahre fast jedes noch so skurrile Accessoire wieder aus der Mottenkiste gekramt. Vielleicht erbarmt sich also auch bald jemand des Stöckchens? Lustig wäre es, auffallend sowieso, subversiv unter Umständen - aber Vorsicht: Allen Slapstick-Einlagen zum Trotz, an Stilsicherheit hat Chaplins Tramp hoch vorgelegt.

Chaplins Originalstöckchen sind ein recht teurer Spaß: Eines der Accessoires aus dem Film "Moderne Zeiten" von 1936 wurde vor dreieinhalb Jahren für 69.300 Euro versteigert. Wer nicht so viel investieren will und es originell mag, kann auch selber kreativ werden: Den sogenannten Spazierstockbambus (Qiongzhuea tumidinoda) gut pflegen und einfach ein eigenes Schmuckstück basteln.

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