Bürgertum und Schulreform:Ich, mich, meiner, mir

Solidarisch sein? In der Theorie gerne - in der Praxis will das liberale Bürgertum seine Kinder dann aber doch lieber nicht für das gesamtgesellschaftliche Wohl opfern.

Sarina Pfauth

Das Kind ist sechs. Seine Eltern - sie Gymnasiallehrerin, er Ingenieur - haben lange hin und her überlegt. Und sich dann doch entschieden, lieber aus Giesing, einem Münchner Arbeiterviertel mit hohem Migrantenanteil, wegzuziehen.

Volksentscheid zu Schulreform

Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind - und dazu gehört auch eine gute Ausbildung: Eine Frau mit Kind im Wahllokal beim Hamburger Volksentscheid zur Schulreform.

(Foto: dpa)

Die neue Wohnung liegt in einem Sprengel, in dem wohlsituierte Familien in schmucken Einfamilienhäuschen wohnen. Wo auch den künftigen Klassenkameraden abends im Bett eine Geschichte vorgelesen wird und es üblich ist, dass der Nachwuchs Musikunterricht erhält und Malkurse besucht. Die Gesellschaft, so die Grundlage dieser Umzugsentscheidung, soll besser werden, gleicher, gerechter - aber nicht auf Kosten des eigenen Kindes.

Der Bürgerentscheid in Hamburg ist kein Problem der Hansestadt, sondern bildhafter Ausdruck eines Konflikts, der die Gesellschaft in ihrer Gänze betrifft und das soziale Gefüge auf lange Sicht bedroht. Es geht um die grundsätzliche Frage nach Gerechtigkeit, dem Umgang mit Schwachen und dem richtigen Gleichgewicht zwischen persönlicher Freiheit und Gleichheit. "Bildungsgerechtigkeit ist die Antwort auf die Frage nach der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft", sagte Bildungsministerin Annette Schavan kürzlich in einer Rede. Und genau darum geht es in Hamburg - sehr konkret und lebenspraktisch.

In der Hansestadt haben die Bürger abgestimmt, und zwar vor allem die reichen, gebildeten Bürger aus den wohlhabenden Stadtteilen. Die anderen sind nicht zur Wahl erschienen, sie haben kein Interesse gezeigt oder vielleicht nicht einmal mitbekommen, dass gerade über die Zukunft ihrer eigenen Kinder verhandelt wird. Die Mobilisierung gelang den Besserverdienenden.

Die Bildungsbürger haben also durchgesetzt, dass ihre Söhne und Töchter nicht länger als aus ihrer Sicht notwendig mit den schwachen, armen und notenmäßig schlechteren Schülern in einer Klasse lernen müssen - statt wie geplant sechs Jahre werden die Kinder in Hamburg auch künftig nur vier Schuljahre gemeinsam verbringen.

Warum kämpfte dieses Bildungsbürgertum, das bei der Wahl noch zu großen Teilen für die schwarz-grüne Koalition in Hamburg gestimmt hat, nun gegen deren Herzensangelegenheit? Die Antwort ist gleichzeitig einfach und kompliziert: Die Hamburger Akademiker heben ihren Daumen für Ausländerintegration, gleiche Bildungschancen und soziale Gerechtigkeit. Aber eben nur, solange es sie selbst nichts kostet oder die persönlichen Kosten zumindest berechenbar bleiben.

Das Bildungsbürgertum ist zwar bereit, im Biomarkt den doppelten Preis für ein Schnitzel zu bezahlen, wenn das Schwein im Gegenzug ein schöneres Leben verbringen durfte. Seine Kinder will es aber nicht opfern für das Gemeinwohl.

Denn die sechsjährige Grundschule würde vor allem den Schwachen zugutekommen, das ist Konsens. Und Grundlage der Angst, die dem Bildungsbürgertum im Nacken sitzt: Dass die sozial und materiell Schwachen die eigenen Kinder wiederum in ihren Chancen beschneiden. Dass ihre eigenen Söhne und Töchter langsamer lernen, weil die Migrantenkinder bremsen.

Wenn es nur das wäre!

Wenn es nur das wäre! Die wohlsituierten Eltern fürchten auch, dass der Nachwuchs schlechten Einflüssen ausgesetzt ist und weit mehr als nur der Bildungserfolg Schaden davonträgt: Gewalt, Erpressung, Drogen, wer weiß schon, was auf solch gemischten Schulhöfen alles passiert?

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Die meisten Eltern befürworten Bildungsgerechtigkeit - sie darf nur nicht auf Kosten des eigenen Kindes gehen.

(Foto: ddp)

Die Politik hat es nicht geschafft, den Eltern diese Ängste zu nehmen. Die Sicherheit fehlt, dass die Schwachen ausreichend gefördert werden, um auch den Starken ein Fortkommen zu ermöglichen. Es ist mehr als naiv, von einer flächendeckenden Anzahl an Gutmenschen auszugehen, die für die Förderung der schwachen Mitglieder der Gesellschaft bereit sind, möglicherweise mehr als ihr letztes Hemd zu geben - nämlich die Zukunft ihrer Kinder.

Und doch ist es politisch ein richtiges und wichtiges Ziel, schwächere Schüler durch eine längere gemeinsame Grundschulzeit zu fördern. Mehr gemeinsame Zeit allein reicht aber nicht, denn die Zeit löst nicht alle Probleme. Wenn tatsächlich kein Kind verlorengehen soll, dann brauchen die Schwachen eine viel intensivere Förderung als bislang üblich: Sprachkurse, Nachhilfe, Einzelbetreuung, pädagogische Angebote - all das ist teuer. Bildungsgerechtigkeit und bessere Aufstiegschancen aber gibt es nicht für lau.

Die OECD-Veröffentlichung "Bildung auf einen Blick 2008" zeigt, dass Deutschland vor allem in den ersten Jahren der Bildung geizt: Die Ausgaben im Primar- und Sekundarbereich I, also bis zur zehnten Klasse, liegen mit 5000 beziehungsweise 6200 US-Dollar pro Schüler und Jahr deutlich niedriger als die internationalen Vergleichswerte - 6300 im Primarbereich und 7400 im Sekundarbereich I. Spitzenreiter wie Luxemburg, die Vereinigten Staaten und die Schweiz investieren hier zwischen 8500 und 19.000 US-Dollar im Jahr.

Kinder sind aber "die Hoffnung unseres Landes", wie es die bildungserfolgverwöhnten Finnen formulieren - und sie sind es wert, dass in sie investiert wird, auch wenn diese finanziellen Mittel dann an anderer Stelle fehlen. "Wir geben für Bildung weniger aus, als wir uns leisten können", kritisierte der damalige Bundespräsident Johannes Rau schon im Jahr 2003.

Dieter Lenzen, Erziehungswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, betont, dass der Umbau eines Bildungssystems zwar sowohl persönliche Freiheit als auch viel Geld kostet - aber aber Ende alle davon profitieren. In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit sagte er, dass auch die Mittelschicht, die das Ganze bezahlt, gewinnen würde - und zwar doppelt: "Zum einen nehmen die sozialen Spannungen ab. Zum anderen läuft die Wirtschaft besser, wenn sie mehr qualifizierte Fachkräfte hat. Eine der dramatischsten Erkenntnisse der Pisa-Studie war doch, dass ein knappes Viertel der 15-Jährigen nicht richtig lesen und rechnen kann - und damit nicht fit für den Arbeitsmarkt ist."

Wenn aber immer mehr gebildete Eltern ihre Kinder vor der Welt da draußen in Sicherheit bringen, was passiert dann mit dieser Welt? Dass die Gesellschaft schon jetzt immer weiter auseinanderfällt, dass es kaum Berührungspunkte gibt zwischen den Armen und den Reichen, dass Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Haushalten schon jetzt kaum eine Chance auf sozialen Aufstieg haben - das ist gleichermaßen bekannt und erschreckend. Und einige Experten und Politiker warnen schon jetzt vor einem Aufstand der Chancenlosen, weshalb es eigentlich auch im Interesse der Reichen liegt, größere soziale Gerechtigkeit herzustellen, um den sozialen Frieden zu bewahren.

Es wäre schön, eine einfache Lösung vorschlagen zu können. Es wäre einfach, das Bildungsbürgertum der Scheinheiligkeit zu beschuldigen und Taten statt Worte zu fordern. Und natürlich stimmt es auch, dass Wähler Verantwortung übernehmen sollten für ihre Entscheidung - völlig überraschend kam es ja nicht, dass die schwarz-grüne Koalition in Hamburg das Schulsystem reformieren wollte. Wer Bildungsgerechtigkeit wählt, sollte sich nicht wundern, wenn die Gewählten dann auch versuchen, diese zu stärken. Das mindeste aber, was man den Gutsituierten abverlangen kann, ist "eine Kultur des Respekts gegenüber jedermann - auch gegenüber den Klienten des Sozialstaates", wie Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und glühender Verehrer des Gymnasiums, in einem Essay schreibt. "Der Mensch beginnt schließlich nicht erst mit Abitur ein Mensch zu sein."

Trotzdem: "Man macht die Schwächeren nicht stärker, indem man die Stärkeren schwächt", schreibt Josef Kraus. Solange die Politik nicht deutlich machen kann, dass auch sie bereit ist, einen hohen Preis zu zahlen für die Zusammenführung der gesellschaftlichen Schichten, werden die starken Eltern kaum gewillt sein, die Auswirkungen ihrer politischen Überzeugungen den eigenen Kindern aufzubürden.

Sie werden ihre Söhne und Töchter weiterhin lieber auf Montessori-Schulen schicken anstatt die Gleichheit in München-Giesing zu fördern. Und man kann es ihnen kaum verdenken.

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