Brieffreundschaft mit einem Todeskandidaten:Ein paar Stunden der Schuld entfliehen

Sicherheitsverwahrung in der JVA Freiburg

Sie halfen sich durch schwierige Zeiten: Mit 17 Jahren schrieb Sarah ihren ersten Brief an den Todeskandidaten Richard.

(Foto: dpa)

Sarah ist eine deutsche Studentin, Richard ist Gefangener eines texanischen Todestrakts. Die beiden verbindet seit acht Jahren eine Brieffreundschaft, deren Ablaufdatum immer näher rückt: Am 25. April erwartet Richard die Giftspritze.

Von Lena Niethammer

Als er sich verbotenerweise die Haare lang wachsen lässt, um zu beweisen, dass sie seinen Willen niemals brechen können, ihn die Wärter an einen Ort im Gefängnis bringen, an dem der Kontakt nach draußen verboten ist, ins Level drei, als sie zwei Monate lang keinen Brief erhält, da reicht es Sarah und sie entscheidet, dass ihre Freundschaft bereit für den ersten Streit sein muss. In einem langen Brief schreibt sie auf, was sie von seinen Rebellionen hält: nichts. Zeichen gegen das System setzt man nicht mit Trotz. Im Endeffekt sei sie es, die darunter leidet, denn sie bekomme keine Briefe mehr. Daran möge er denken.

Sarah schüttelt lachend den Kopf, als sie sich an diesen lange vergangenen Tag erinnert. Immer musste Richard rebellieren. Mal ließ er sich den Bart lang wachsen, mal die Haare, oder er schmuggelte ein Handy ins Gefängnis. Und sie? Sie kochte vor Wut über diese Sinnlosigkeiten. Die junge Frau mit den lockigen Haaren verdreht belustigt die Augen. Jetzt, da sie lacht, entfaltet sich ihre ganze Schönheit. Sie sitzt auf dem Bett ihres Wohnheimzimmers. Ein kleines Zimmer, gerade mal so groß wie Richards Zelle, zehn Quadratmeter, nur schöner eingerichtet. Vor ihr liegt ein Ordner mit Briefen. Jeder gelocht und fein säuberlich abgeheftet. Dieser Ordner ist das Herz ihrer Freundschaft.

Alles beginnt, als Sarah mit 17 das Buch "Dead Man Walking" in den Regalen der Stadtbibliothek entdeckt. Eine Frau und ein zum Tode Verurteilter schreiben sich darin Briefe. Der Klappentext verweist auf den Internetauftritt von Lifespark, eine Schweizer Organisation, die seit 20 Jahren solche Brieffreundschaften vermittelt.

Sarah ruft an und fragt drauf los. Als ihr dann aber die Frage gestellt wird, warum sie eine solche Brieffreundschaft überhaupt möchte, gerät sie ins Stocken. Vielleicht sei es die Neugierde, die sie antreibt, sagt sie. Manchmal stelle sie sich vor, ein ganz anderes Leben zu führen, eines unter komplett anderen Vorbedingungen. Das Leben als Gefangener, das sei so ungreifbar anders als ihres, dass der Gedanke sie fasziniere. Wie erschafft man sich dort einen Alltag? Wie sehr belastet die Schuld? Und kann man überhaupt noch Glück empfinden?

Gefängnisfreund per Zufallsprinzip

Die Frau von Lifespark am anderen Ende der Leitung ist überrascht. Viele der Menschen, die sich nach einem Brieffreund erkundigen, waren entweder vorher bei Amnesty International im Kampf gegen die Todesstrafe aktiv, hatten aber das Gefühl, dass dort die konkrete Hilfe für den einzelnen Gefangenen untergehe. Oder sie sind tiefreligiös und scheinen die Hoffnung zu haben, ihr Glaube könnte dem Gefangenen helfen, ihm Halt im Alltag geben. Doch sie beurteilt die Motive nicht. Auch Sarah sagt sie nur, dass sie sich darüber klarwerden muss, dass eine Brieffreundschaft Verantwortung mit sich bringe, dass sie wirklich dahinterstehen müsse.

Sarah weiß schnell: Sie will. Ihre Familie schüttelt nur den Kopf, als sie davon hört. "Warum muss es denn so etwas Düsteres sein?", fragt die Mutter. Aber der Entschluss steht. Also sucht Lifespark per Zufallsprinzip einen Gefangenen für sie aus und schickt ihr den Namen zu: Richard.

Dann ist es so, wie es mit weißen Blättern immer ist - Sarah sitzt vor dem Papier, das ihr erster Brief werden soll, starrt es an, starrt, starrt, starrt. Sie weiß nichts über diesen Mann, der zumindest einen Mord begangen haben muss. Wie fängt man also an? Sie entscheidet, sich selbst zu beschreiben. Dass sie Sarah Kim Gekeler heiße, 17 Jahre alt sei, ein Familienmensch, Musikliebhaberin, Irland-affin. Sie schickt ab und wartet. Zwei Wochen. Bis zum 27. Januar 2005.

"Ich möchte damit anfangen, dir zu sagen, dass ich mehr als bereit bin, dir so lang zu schreiben, wie du mich lassen wirst. Ich möchte außerdem den Moment nutzen, dich wissen zu lassen, dass ich, seitdem ich zu diesem Schicksal verurteilt wurde, sehr viel über mich selbst reflektiert habe. Ich weiß, ich werde niemals perfekt sein - tatsächlich werde ich sehr weit entfernt davon sein. Vor Gericht wurde bewiesen, dass ich nicht rehabilitationsfähig bin, und deshalb habe ich es auf mich genommen, mich selbst zu rehabilitieren. Ich versichere dir, dass keine meiner Intentionen von Bosheit oder Habgier geleitet ist. Ich verspreche dir, dass alles, was ich sage, aufrichtig und wahr ist."

Ein guter Freund in schlechten Zeiten

Es ist der Beginn einer achtjährigen Brieffreundschaft. Eine Konstante in Sarahs Leben. Richard wird immer dabei sein: Als sie sich über ihr Abi freut, als sie von zu Hause auszieht, endlich erwachsen wird oder zumindest meint, erwachsen genug zu sein, um die Heimat zu verlassen und in Kiel ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen. Als sie ihren ersten Freund kennenlernt, dann an den Männern verzweifelt, als sie zum Studium nach Berlin geht, nur um nach einem Jahr hinzuwerfen und es in Tübingen erneut zu versuchen. Er wird immer dabei sein, ihr zuhören, sie trösten und beraten.

Heute ist Sarah eine selbstsichere junge Frau. Nicht schüchtern, nicht laut. Aber es gab Zeiten, da quälten sie Selbstzweifel. Vielleicht ist es nicht richtig gewesen, nach Kiel zu gehen, denkt sie. Sie fängt an zu bereuen, will zurück zu den alten Freunden, da weiß man wenigstens schon, dass sie einen mögen. Diese ganzen neuen Menschen, die sind nichts für sie.

"Eine Möglichkeit wäre, diese Zeit als Neuanfang zu sehen. Ein Neuanfang, der einen wichtigen Abschnitt deines Lebens repräsentiert, um etwa volle Unabhängigkeit zu erlangen. So weit weg von daheim zu sein, sehe ich persönlich als Abenteuer und ich würde mein Bestes geben, die Zeit meines Lebens zu haben, denn die hat man nur einmal. Du bist ein starkes deutsches Mädchen. Ich habe keine Zweifel daran, dass du es mit etwas mehr Vitalität durch diese Phase deines Lebens, und auch durch alles was danach kommen wird, schaffen kannst.

Es ist seine Art, nichts für selbstverständlich zu halten, die ihre Wahrnehmung ändert. Ganz detailliert soll sie alles Erlebte beschreiben. Wie roch der Wald? Läuft es sich über Laub anders? Wie zwitschern die Vögel in Deutschland? Er nutzt ihr Leben als Inspiration für jene Phantasiewelt, die er sich im Gefängnis aufbauen muss, um nicht zu verzweifeln, um ein paar Stunden am Tag seiner Schuld zu entfliehen.

Die Dämonen der Vergangenheit

Sie reden über alles und doch nicht über die eine Sache. Der richtige Moment, nach der Tat zu fragen, wäre vielleicht direkt zu Beginn gewesen. Doch Sarah hatte Angst. Zwei Jahre vergehen, sie mag Richard immer mehr und befürchtet, die Sache nicht mehr objektiv einschätzen zu können. Eines Morgens entscheidet sie, dass es an der Zeit sei, die Wahrheit zu erfahren, fährt ihren Laptop hoch und tippt seinen Namen in eine Suchmaschine ein . . .

"Texaner wegen Mordes an behinderter Geisel zum Tode verurteilt."

Es ist der 9. Februar 2002, kurz nach zehn Uhr. Richard und sein Kumpel Beunka betreten maskiert eine Tankstelle in Rusk, Texas. Ein Mann kauft gerade ein, und zwei Verkäuferinnen unterhalten sich hinter der Kasse. Richard bedroht den Mann und eine der Frauen mit seiner Pistole, während Beunka die andere zwingt, Geld in eine Tüte zu stopfen. Alles scheint nach Plan zu laufen. Doch als die Frau Beunka das Geld übergeben will, hält sie irritiert inne und schaut ihm direkt in die Augen. Sie sagt: "Ich kenne dich."

Die Situation kippt. In Panik geraten, zieht Richard seine Maske vom Kopf. Was nun? "Gebt mir eure Wagenschlüssel", schreit er. Sie nehmen den Mann und die beiden Frauen als Geiseln und zwingen sie, in einen alten braunen Cadillac einzusteigen. Beunka fährt, während Richard vom Beifahrersitz aus die Geiseln auf der Rückbank beobachtet. Der Revolver liegt schussbereit in seiner Hand. Sie fahren zu einem abgelegenen Waldstück. Beunka steigt aus und nimmt eine der beiden Frauen mit. Richard sperrt die andere und den Mann in den Kofferraum. Dann beobachtet er, wie Beunka die Frau vergewaltigt, greift aber nicht ein. Minuten vergehen. Nach der Vergewaltigung versuchen sie, die drei Geiseln gemeinsam in den Kofferraum zu sperren. Der ist dafür aber zu klein. Sie holen sie wieder raus, fesseln die beiden Frauen, überlegen sich, nur den Mann mitzunehmen.

Der Mann heißt Kenneth Vandever, ist 37 Jahre alt und seit einem Autounfall auf dem College geistig behindert. Als er mitbekommt, dass die beiden Männer ihn mitnehmen wollen, bricht er in Panik aus, protestiert und schreit. Da drückt Richard ab. Dann geht alles schnell. Beunka schießt auf die Frauen, beide gehen zu Boden. "Seid ihr tot?" Keine Antwort. Die Männer fahren weg. Left for dead steht in der Prozessakte. Beide Frauen überleben, die eine mit einem Schulterschuss, die andere unverletzt.

"Wie das letzte Gefecht"

Sarah klappt den Laptop zu. Sie fühlt sich benommen. Einen Behinderten, ausgerechnet einen Behinderten. Wo sie doch ihr Leben lang welche betreut hat - die Nachbarstochter mit Down-Syndrom, in der Behindertenschule während des FSJ, dann in der Lebenshilfe. Es dauert Monate, bis sie das verdaut hat. Monate, in denen sie nicht zu Papier und Stift greift. Und es dauert weitere zwei Jahre, bis sie die Kraft findet, ihn auf die Tat anzusprechen.

"Mir war völlig unklar, dass du noch nicht einmal weißt, weshalb ich hier bin. Ich glaube, ich habe einfach angenommen, du hättest deine Recherche schon vor langer Zeit gemacht. Dass du mich die ganze Zeit als der, der ich bin, akzeptiert hast, ist tatsächlich ziemlich erstaunlich und bedeutet mir eine Menge. Es ist dein Verständnis, dass die Dämonen meiner Vergangenheit, die mich mehr oder weniger charakterisiert haben, freigelassen hat. Wow, zurückdenkend, ist alles ziemlich surreal. Es fühlt sich so an, als wäre ich gestern noch der wilde und sorglose 18-Jährige gewesen, und paradoxerweise scheint es gleichzeitig schon viele, viele Jahre zurückzuliegen. Ich muss diese eine Nacht tausendmal wieder erlebt haben."

Sie machen weiter wie vorher. Sie erzählt, er hört zu. Er rebelliert, sie stöhnt. Vielleicht ist es Zufall, dass sie öfter von ihrer Arbeit mit Behinderten erzählt, vielleicht will ihr Unterbewusstsein ihn provozieren, sie weiß es nicht. Sie werden gute Freunde. Er nennt sie my sister. Sie spricht von einer Art beschützendem großen Bruder. Beide sind sich trotz großer Nähe über die Grenzen ihrer Freundschaft bewusst. Das unterscheidet sie von anderen. Immer wieder gibt es Frauen, die sich in ihre Brieffreunde verlieben, sie sogar heiraten.

Bei Lifespark gab es zwei Hochzeiten in den vergangenen Jahren. Der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow deutet das Phänomen als grundsätzliche Faszination des Dunklen, die von einem Gewalttäter ausgeht. Es gibt aber auch die Frauen, die einfach an das Gute im Menschen glauben. Sie sind überzeugt, ihre Liebe bringe dem Täter inneren Frieden. Nicht selten sind diese Frauen tiefgläubig und wollen ihren Gefangenen bekehren.

Am 25. April 2013 wird Sarahs und Richards Brieffreundschaft abgelaufen sein. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es bald so weit sein wird. Alle Berufungsverfahren sind gescheitert. Beunka, den die texanische Justiz ebenso wegen des Mordes verurteilt hatte, wurde bereits im April 2012 hingerichtet. Doch als dann Mitte Januar Richards Hinrichtungstermin bekannt gegeben wurde, war die Ohnmacht groß.

"Ich sag' Dir, da ist immer dieser innere Kampf - eine Wut, über das untätige Rumsitzen, während alles anfängt, sich wie das letzte Gefecht anzufühlen. Ich habe keine Angst, jetzt wo der Tod in Sicht ist. Doch dieser Kampf in mir, der zwingt mich weiterzuleben. Ich weiß, dass die Gefangenschaft für mich ein unendliches Ringen ist, aber was ist das Leben schon ohne.

Der Tod als Weg zum besseren Leben

Sarah kann nur mit den Schultern zucken. "Da wird einem eine Person wichtig und - zack - schon wird sie einem wieder weggenommen." Zuerst war sie wahnsinnig traurig, hat stundenlang geweint, dann kam die Wut. Mittlerweile habe sie ihren Frieden damit gefunden, sagt sie. Es sind nur noch ein paar Wochen bis zur Hinrichtung, als sie auf ihrem Bett kniet, sich selbst an den Oberarmen festhält, neben ihr sein letzter Brief. Sie wirkt gefasst, nur das eigenartige Lachen, das immer auftaucht, wenn sie vom 25. April redet, verrät ihre Hilflosigkeit.

Eine, die den Abschied miterlebt hat, ist Gabi Uhl. Zwei Mal war sie dabei, als ihre Brieffreunde hingerichtet wurden. Hinter einer Glasscheibe hat sie jeweils zugesehen, wie Clifford Bogges und Kevin Kincy ihre letzten Worte sprachen. Wie die tödlichen Injektionen gespritzt wurden. Sie hat zugesehen, wie sie langsam die Augen schlossen und dann vier Minuten lang nichts passierte, bis dann ein Arzt den Tod feststellte. "Es war ein erschreckendes Ritual. So unwirklich, als wäre es ein Film", sagt sie. Der Widerspruch, nicht glauben zu können, dass das gerade passiere und das Bewusstsein, dass es aber real ist, sei kaum erträglich gewesen. Ihr habe geholfen, dass sowohl Bogges als auch Kincy den Tod als Weg zu einem besseren Leben sahen.

"Ich heiße den Tod willkommen, und wenn er mich dann ereilen wird, werde ich ihn wie eine warme Decke umarmen. Hoffentlich bekomme ich eine würdevolle Beerdigung und werde nicht für die Ewigkeit in ein namenloses Gefängnisgrab geworfen. Da hätte ich es lieber, man legt mich auf dem Erdboden ab, ganz ohne Sarg, und ich könnte zu Nahrung für die Welt werden. Vielleicht pflanzt jemand ein paar Samen, sodass Bäume um meinen Körper wachsen, Vögel und Eichhörnchen von mir essen und mich mit sich tragen, durch die Luft und auf andere Bäume. Ich wäre in der Erde, in den Bäumen und in den Tieren. In allem zugleich. Das würde rocken.

Sarah wird am 25. April nicht schlafen gehen. Sie will wach bleiben, eine Kerze anzünden, hinfahren will sie nicht. Doch einfach den Tag übergehen, nein, das ginge nicht. Richard war ihr ein guter Freund. Bis sie bereit ist, eine neue Brieffreundschaft anzufangen, wird einige Zeit vergehen. Doch sie wird es tun. Da ist sie sich sicher.

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