Bolschoi-Theater in Moskau:"Es ist alles ein großes Unglück"

Bolschoi-Theater in Moskau: Eine Atmosphäre von Macht und Missgunst: Säure-Opfer Sergej Filin (li.), Tänzerin Angelina Woronzowa und Auftraggeber Pavel Dmitritschenko.

Eine Atmosphäre von Macht und Missgunst: Säure-Opfer Sergej Filin (li.), Tänzerin Angelina Woronzowa und Auftraggeber Pavel Dmitritschenko.

(Foto: AFP/Bolschoi)

Seit dem Säure-Anschlag vor elf Monaten ist der russische Ballettdirektor Sergej Filin praktisch blind. Jetzt wurden der Bolschoi-Tänzer Pawel Dmitritschenko und seine beiden Mittäter in Moskau verurteilt. Doch nach Meinung von Dmitritschenko und anderen Bolschoi-Mitgliedern ist Filin nicht nur Opfer.

Von Frank Nienhuysen

Die Hauptfigur geht als Letzter über den Gang. Pawel Dmitritschenko trägt eine blaue Jeans und einen hellen Pulli über seinem drahtigen Tänzerkörper, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. So wird er in den Moskauer Gerichtssaal gebracht, hinter sich einen Schäferhund an der Leine eines Beamten, vor sich die Mitangeklagten. Für Dmitritschenko bedeutet dieser Dienstag wohl das Ende seiner Karriere. Er ist jetzt 29 Jahre alt, und Solotänzer am Moskauer Bolschoi-Theater wird er nie mehr sein. Das Meschtschanskij-Gericht verurteilte ihn wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu sechs Jahren Lagerhaft, weil es ihn für schuldig hält, den Säureanschlag auf den künstlerischen Ballettdirektor Sergej Filin am 17. Januar organisiert zu haben. Auch der Haupttäter und ein Fahrer erhalten Haftstrafen. Etwa 2000 Kilometer weiter westlich geht Filin kurz darauf ans Telefon.

Filin ist nicht im Gerichtssaal, aber man kann auch nicht sagen, dass er bewusst Distanz schaffen wolle zu dem, was gerade in Moskau geschieht. Er hat keine Wahl. Wieder einmal muss er sich in einer Aachener Spezialklinik behandeln lassen. Denn seit dem 17. Januar ist der Ballettchef praktisch blind. Die Säure hat seine Augen verätzt, mehr als 20 Operationen hat er hinter sich, und so wie er seine Gesundheit in die Hände der Ärzte legt, so legte er die Bestrafung für seinen Zustand in die Hände der Richter. "Ich bin gefragt worden, wie viele Jahre ich denn die Täter bestrafen würde", sagt er der Süddeutschen Zeitung am Dienstag nach dem Schuldspruch, "aber ich muss auch jetzt sagen, das ist allein die Entscheidung des Gerichts."

Keine Genugtuung

Er klingt nicht so, als verspüre er eine Genugtuung über die Verurteilung jener Männer, die sein Leben, zumindest seine Gesundheit zerstört haben. Jedenfalls sagt er das. "Es gibt für mich jetzt keinen Grund zur Freude, das wäre auch seltsam. Viele Menschen haben gelitten, Eltern, Kinder, Freunde. Es ist alles ein großes Unglück, eine Tragödie". Auch die Chance auf eine Zäsur kann Filin nicht entdecken in der Verurteilung der Täter, zumindest nicht für sich persönlich. "Niemand kann mir meine Gesundheit zurückgeben, mein Augenlicht. Alles, was an diesem Januartag passierte, ist sehr schwierig für mich", sagt er, "für mich wird die Sache nie abgeschlossen sein."

Es gibt eine verkürzte Version, über die das Gericht nun befand, über "den verbrecherischen Plan", wie die Richterin meint. Demnach organisierte Dmitritschenko den Überfall auf Filin, weil er sich rächen wollte: dafür, dass Filin als künstlerischer Leiter des Bolschoi-Balletts Dmitritschenkos Frau Angelina Woronzowa die gewünschten großen Rollen an dem berühmten Theater verweigerte. Für die Tat heuerte er zwei Arbeitslose an. Jurij Saruzkij führte die Tat aus, und wenn es stimmt, was Dmitritschenko sagt, hätte dieser Filin lediglich verprügeln sollen. Saruzkij aber griff zur Säure. Zehn Jahre Straflager erhält er dafür, der Fahrer des Fluchtautos, Andrej Lipatow, wird zu vier Jahren verurteilt. Doch tatsächlich geht es im Fall Filin um mehr als um dieses düstere Geschehen. Es geht auch um das strahlende Bolschoi und das eiskalte Klima, in dem solche perfiden Tatpläne gedeihen können.

Verworren sind die Fäden aus Intrigen, Anschuldigungen, Verdächtigungen. Ja, er sei nun mal ein emotionaler Mensch, sagt Dmitritschenko in seinen letzten Worten vor dem Urteil, "aber ein emotionsloser Mensch kann auch nicht auf die Bühne gehen und Iwan den Schrecklichen spielen." Er sei bereit, Verantwortung zu übernehmen, "aber nicht für das, wessen man mich beschuldigt".

System der Willkür

Dmitritschenko selber hat im Prozess einen Eindruck gegeben von den Kabalen an dem berühmten Theater, der Atmosphäre von Macht und Missgunst. Wenn er zum Beispiel sagt, Filin habe das Bolschoi-Ensemble behandelt "wie eine Puppe. Alles, was er sagt, ist richtig, und anders darf es nicht sein." Filin habe von seinen Untergebenen widerspruchslosen Gehorsam verlangt.

Auch der langjährige Protagonist der Bolschoi-Tänzer, Nikolaj Ziskaridse, wirft Filin ein System der Willkür vor. Oder wollte er nur selbst die Leitung des Balletts übernehmen und damit die Macht über Rollen, Künstler, das Theater? So wie es der frühere Bolschoi-Direktor unterstellt hat? Ziskaridse jedenfalls ist vom Bolschoi entlassen worden, und auch dessen Gesamtleiter, Intendant Anatolij Iksanow, musste gehen. Nun, nach den Urteilen, würde dem fast 250 Jahre alten Theater ein Aufbruch guttun - in eine neue Zeit, in der wieder über seine Kunst geredet werden kann.

Neue Zeit? "Ach", sagt Filin am Telefon, "am Bolschoi beginnen die ganze Zeit neue Zeiten." Er selbst will zurückkehren, ist eigentlich im September schon zurückgekehrt ans Bolschoi. Doch der Weg ist schwer, und er führt ihn immer wieder nach Deutschland, nach Aachen in die Klinik. "Aber ich werde wieder arbeiten, werde helfen. Ich bin bereit für diesen Kampf."

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